14. März 2018

Meine Familie und ich an meinem 40. Geburtstag im Görlitzer Park.

Der letzte Film, den ich in meinen Zwanzigern gesehen habe, war Marnie. Das war damals, 2008, auch ein prima Geburtstag gewesen. Ich hatte in Hamburg gefeiert, war in einem Hamam und sah mir »Die Zauberflöte« an. Mein letzter Film in den Dreißigern war Come September, weil ich diesen betrunkenen Wellensittich so niedlich fand und Ian den Film noch nicht kannte. — Über den Geburtstag an und für sich möchte ich gar nicht so viele Worte verlieren, aber es war einer der schönsten meines Lebens. Mittags gingen wir mit meinen Eltern, Nadine und Helena im Edelweiß essen, abends feierten wir im The Forsberg in der Gerichtstraße mit Freunden. Viele, mit deren Erscheinen ich fest gerechnet hatte, hatten kurzfristig abgesagt oder tauchten einfach nicht auf, dafür kamen andere, die ich teilweise zuletzt vor drei oder vier Jahren gesehen hatte. Eva Brunner und Bernhard Kempen waren da, Sirko, Connie, Gérard, Daniel, Thorsten und Geertje, die Familien Schubert und Ober, Daniel Aldridge, Jutta und Hubert, Annika, Patrick, Steffen, Jutyar, Tom und Stefan auch. Fabelhaft, wie Ian das alles organisiert hatte! Das Essen war prima, die Gespräche lebendig. Wir blieben, bis die Kneipe um zwei Uhr morgens schloss. Was die Geschenke angeht: Jede(r) Einzelne hat sich wirklich Gedanken gemacht, das berührt mich immer noch ganz tief. Theater- und Konzertkarten, Gutscheine, viel gute Musik, ein Roman von Yasmina Reza, ein Buch mit Erziehungstricks (Titel: »Schnall dich an, sonst stirbt ein Einhorn!«), »1001 Filme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist«, reichlich Schokolade, köstliche Tees, Futter für Chelito, Salz- und Pfefferstreuer in Minion-Form, Kakao, Bargeld, ein Prince-Tourheft, eine Badehose, ein Hörbuch plus Foto-Kalender von Bernhard alias Barbara. Ich bin so ergriffen, dass ich gar keine Worte mehr finde.

Mein erster Film in meinen Vierzigern war »Three Billboards Outside Ebbing, Missouri« (Regie: Martin McDonagh). Ian und ich sahen ihn am Sonntag, nachdem wir uns von der Party erholt hatten. Ein brillanter Film, der einen tief verwüstet zurücklässt. Wir haben beide viel geweint und sehr gelacht. Der Film hat einen bitteren Humor, der sich aus einer dunklen Quelle nährt. Frances McDormand war wieder einmal mitreißend und authentisch. Sie hat sich ihren Oscar redlich verdient. Überhaupt waren die 2018er Oscars ungewöhnlich aufregend. Es gab so viele gute Filme wie schon seit Jahren nicht mehr, und praktisch alle gewannen wenigstens einen Academy Award: »Three Billboards…«, »The Shape of Water« (Regie: Guillermo del Toro), »Call Me by Your Name« (Regie: Luca Guadagnino), »Darkest Hour« (Regie: Joe Wright), »I, Tonya« (Regie: Craig Gillespie), »Get Out« (Regie: Jordan Peele), »Phantom Thread« (Regie: Paul Thomas Anderson), »Dunkirk« (Regie: Christopher Nolan), »Una mujer fantástica« (Regie: Sebastián Lelio). Schade, dass »Lady Bird« (Regie: Greta Gerwig) komplett leer ausgegangen ist; ich hätte Laurie Metcalf den Preis als Beste Nebendarstellerin mehr als gegönnt. Dafür wurden Agnès Varda, Donald Sutherland, Owen Roizman und Charles Burnett für ihre langjährigen Verdienste als Filmschaffende ausgezeichnet. Bravo! So darf es die kommenden Jahre gerne weitergehen.

Natürlich ärgere auch ich mich über das, was politisch bei uns los ist. Mit Leuten wie Nahles, Maas oder Spahn ist kein Staat zu machen. Die SPD hat sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Nicht, dass sie sich in den letzten 20 Jahren noch wie eine sozialdemokratische Partei verhalten hätte. So sehr ich ihn auch vermisse, aber ich bin froh, dass mein Großvater, der sein Leben lang ein aufrechter Sozialdemokrat gewesen war, den langsamen Niedergang der SPD nicht mehr miterleben musste. Als die Schröder-Regierung die Axt an den Sozialstaat legte, verlor die einstige Volkspartei ihre Glaubwürdigkeit. In vier Jahren dürfte sie kaum mehr als zehn Prozent der Wählerstimmen abgreifen, während die AfD bei etwa 20 liegen dürfte. Und dann waren wieder die Rechten schuld. Das ist so erbärmlich und so schmerzhaft, aber das Credo »Kein Mitleid für Dummheit!« gilt weiterhin. Ich mag auch nicht weiter darüber jammern.

In meinem entbaumten Innenhof blühen mittlerweile die ersten Krokusse, ein sicheres Zeichen dafür, dass der Frühling endlich seinen Weg zu uns gefunden hat. Nun steht mein erster Urlaub seit zehn Jahren (!) vor der Tür. Am 23. hole ich den Leihwagen ab, dann geht es nach Cessy-les-bois. Zehn Tage ohne Telefon und Internet. Das Handy lasse ich in Berlin. Das wird, so hoffe ich, meinen Geist entgiften und mir etwas Kraft schenken. Die brauche ich dringend, denn Arbeit, Schule und Therapie verlangen momentan 150% von mir. Gestern sprachen wir in der Schule über das Urvertrauen, welches ein Baby zwischen dem sechsten und neunten Monat aufbaut — und darüber, wie ein enttäuschtes Urvertrauen das ganze Leben beeinflussen kann.
Da ich erst am 12. Februar mit der Arbeit begann, bekam ich nur die Hälfte meines Monatsgehalts. Die Agentur für Arbeit fühlte ich nicht mehr für mich zuständig, und beim Jobcenter musste ich neue Anträge für die fehlenden Tage stellen. Dieser bürokratische Müll ist erniedrigend und zieht sich vermutlich noch weit bis in den April hinein. Der Urlaub im Burgund steht deswegen ein wenig auf wackligen Beinen. Wer mein Online-Tagebuch und meine Filmtipps mag, mir nachträglich zum runden Geburtstag noch etwas schenken und mich von den Sorgen ein bisschen befreien möchte, den möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich um eine kleine Spende bitten. Selbst der kleinste Betrag hilft mir schon sehr.

An dieser Stelle möchte ich mich bei all meinen Leserinnen und Lesern für ihre Treue bedanken. Ich blogge bereits seit etwa zwölf Jahren und bin wieder und wieder positiv überrascht, dass ich immer noch gelesen werde. Direkt nach meinem Urlaub beginnen die ersten Prüfungen, so dass ich mich erst im Mai wieder zu Wort melden werde. Bis dahin wünsche ich Euch einen wunderbaren Frühling mit kitzelnden Sonnenstrahlen und tanzenden Herzen. Alles Liebe,

André

Filmtipp #582 & #583: Happy End im September & Ein Pyjama für zwei

Einige Schnulzen unter der Regie von Douglas Sirk, eine Oscarnominierung für Giant und schließlich der Riesenerfolg mit Pillow Talk: die 1950er hatten aus Roy Harold Scherer Jr., besser bekannt als Rock Hudson, einen der größten Stars der Traumfabrik gemacht. (Bei etwa zwei Metern Körpergröße ist dies sogar im doppelten Wortsinne wahr.) Es war ein langer Weg für den ehemaligen Lastwagenfahrer mit Sprachproblemen: Sein einziger Satz in seinem ersten Film »Fighter Squadron« (Regie: Raoul Walsh) brauchte sage und schreibe 38 Takes, bis er endlich im Kasten war. Anfangs hielt wohl niemand große Stücke auf den gutaussehenden Burschen. Mit einer gehörigen Portion Ehrgeiz und der Hilfe einer geduldigen Sprecherzieherin namens Miss Cunningham kam Roy alias Rock schließlich bei Universal unter Vertrag. Um seine Homosexualität zu kaschieren, arrangierte sein Manager eine Ehe mit der Sekretärin Phyllis Gates, die 1955 geschlossen wurde. — Nach dem sensationellen Erfolg von Pillow Talk konnte Hudson sich seine Projekte (weitgehend) selbst aussuchen. Zwischen 1961 und 1971 entstanden nicht weniger als 18 Filme mit ihm als Star, von der Salonkomödie bis hin zum Spionagethriller war alles dabei. Allein 1961 liefen drei Hudson-Filme in den US-amerikanischen Kinos an. Den Anfang machte der romantische Western »The Last Sunset« (Regie: Robert Aldrich), in welchem er Seite an Seite mit Kirk Douglas, Joseph Cotten und Dorothy Malone spielte. Nur zwei Monate später startete »Come September«, gefolgt von »Lover Come Back« im Dezember 1961. Um diese Komödien, beide aus der Feder des Pillow Talk-Autoren Stanley Shapiro, soll es heute gehen.

Happy End im September

Originaltitel: Come September; Regie: Robert Mulligan; Drehbuch: Stanley Shapiro, Maurice Richlin; Kamera: William H. Daniels [William Daniels]; Musik: Hans J. Salter; Darsteller: Rock Hudson, Gina Lollobrigida, Sandra Dee, Bobby Darin, Walter Slezak. USA 1961.

Ausschließlich an Originalschauplätzen in Mailand, Portofino, Ostia, Rom und am Lago di Albano gedreht, trumpft »Come September« vor allem mit den beträchtlichen Schauwerten Italiens. Die Story mag aus heutiger Sicht etwas altbacken und angestaubt erscheinen, aber die Aufnahmen sind nach wie vor ein Augenschmaus, die Besetzung hochkarätig und das Flair so leicht und fluffig, dass man Appetit auf mehr bekommt.

Hudson spielt den amerikanischen Geschäftsmann Robert Talbot, der eine schmucke Villa in Italien besitzt, wohin es ihn einmal jährlich verschlägt, üblicherweise im September. Er verbringt den ganzen Monat dort und ist dann wieder für elf Monate in den Staaten. Seine italienische Freundin Lisa Fellini (Lollobrigida) hat das lange genug mitgemacht und steht im Begriff, einen furztrockenen Engländer (Ronald Howard) zu ehelichen, als Robert telefonisch ankündigt, dieses Jahr ein paar Monate früher nach Portofino zu reisen. Natürlich wird Lisa wieder schwach. Sie lässt den englischen Verlobten sitzen und freut sich auf ihren »Roberto«. Dessen Ankunft bringt allerdings die Geschäfte seines Verwalters Maurice (Slezak) durcheinander. Der hat nämlich die Villa seines Arbeitgebers für elf Monate im Jahr zu einem Luxushotel umfunktioniert — ohne diesen davon in Kenntnis zu setzen. Augenblicklich gastiert eine Gruppe junger Amerikanerinnen mitsamt einer englischen Anstandsdame (Brenda de Banzie) in Talbots Villa, und die Zeit reicht nicht, sie vor die Tür zu setzen. Maurice gerät ganz schön in Zugzwang. Eine Gruppe junger Männer (u. a. Bobby Darin und Joel Grey), die ein Auge auf die hübschen jungen Damen im »Hotel« geworfen haben, sorgen für zusätzliche Komplikationen…

Aufgrund der zum Teil schwierigen Wetterverhältnisse zogen sich die Dreharbeiten ungewöhnlich lange hin: Fast ein Jahr verbrachte das US-amerikanische Team in Italien. Sandra Dee und Bobby Darin verliebten sich in dieser Zeit ineinander und heirateten kurz darauf. Gina Lollobrigida sieht in den von Morton Haack für sie maßgeschneiderten Kostümen einfach fabelhaft aus, Hudson guckt meist erstaunt aus der Wäsche, macht aber als charmanter Salonlöwe eine gute Figur. Brenda de Banzie ist mal wieder ziemlich unterfordert, hat aber einen possierlichen blauen Wellensittich namens Don Carlos an ihrer Seite, der uns einige Lacher schenkt. Die meisten Gags aber liefert der heimliche Star des Films: Walter Slezak ist als liebenswerter Schlawiner einfach großartig. Der gebürtige Österreicher hatte es in den USA zu einer beachtlichen Karriere gebracht, sowohl am Broadway als auch in Hollywood mit Regisseuren wie Leo McCarey, Alfred Hitchcock, Jean Renoir, Vincente Minnelli und Robert Wise. Leider machte ihm seine Gesundheit sehr zu schaffen und zwang ihn 1980 dazu, kürzer zu treten. Entmutigt von seinen vielen Maläsen, nahm er sich kurz vor seinem 81. Geburtstag mit einem Kopfschuss das Leben. — Alles in allem ist »Come September« gut gealtert, Situationskomik und Tempo halten auch heute noch den Ansprüchen stand, so dass die Komödie auch 2018 noch beste Unterhaltung fürs Wochenende bietet.

Ein Pyjama für zwei

Originaltitel: Lover Come Back; Regie: Delbert Mann; Drehbuch: Stanley Shapiro, Paul Henning; Kamera: Arthur E. Arling; Musik: DeVol; Darsteller: Rock Hudson, Doris Day, Tony Randall, Edie Adams, Jack Oakie. USA 1961.

Das bewährte Rezept von Pillow Talk wurde hier kaum verändert. Viele Situationen, sogar einige Dialoge scheinen direkt aus dem Vorgänger-Film übernommen worden zu sein. Das schmälert die Freude, die »Lover Come Back« macht, jedoch keineswegs. Die Klamotte ist und bleibt einfach eine Wucht, ein wahres Gag-Feuerwerk vom Feinsten. Das Drehbuch wurde sogar für einen Oscar vorgeschlagen. Der Routinier Delbert Mann inszenierte schnörkellos und straff und gab dem Kameramann Arthur Arling die Weisung, bei Großaufnahmen von Frau Day, die damals schon gut 40 Jahre alt war, einen soft focus zu benutzen. Sie wirkt immer etwas unscharf, als habe man das Objektiv mit Vaseline bestrichen, aber irgendwie hat das was. Das Trio Hudson-Day-Randall ist bestens aufgelegt und erfährt durch hochkarätige Akteure wie Jack Kruschen, Ann B. Davis, Edie Adams, Howard St. John, Jack Albertson, Donna Douglas, Joe Flynn, Richard Deacon und Jack Oakie beste komödiantische Unterstützung. Doris Day schwärmte noch Jahre später: »Das ist ein Film, der zu meinen schönsten Erinnerungen zählt. Wir hatten alle viel Spaß.«

Der Schauplatz ist einmal mehr New York. Diesmal befinden wir uns in der Werbebranche. Jerry Webster (Hudson) und Carol Templeton (Day) sind Rivalen und hassen einander, ohne sich jemals auch nur über den Weg gelaufen zu sein. Webster zieht seine Aufträge mit billigen Tricks an Land, während Carol ihre Klienten mit Fleiß und Können zu ködern versucht. Unnötig zu sagen, dass Jerry mehr Erfolg hat. Nach einer seiner Eskapaden zeigt Carol den unmoralischen Jerry beim Werbefachverband an, doch anstatt persönlich zu erscheinen, schickt er die Schauspielerin Rebel Davis (Adams) zum Komitee, um dort für ihn zu sprechen. Dafür gibt er ihr eine Rolle in einem Werbespot für ein Produkt namens VIP — das allerdings gar nicht existiert. Durch ein blödes Versehen wird der Spot jedoch im Fernsehen ausgestrahlt, und die Menschen fragen sich, was VIP eigentlich ist. Um nicht aufzufliegen, muss Jerry also schleunigst ein Produkt finden, und so beauftragt er den Chemiker Dr. Linus Tyler (Kruschen), VIP zu erfinden. Unterdessen hat Carol selbst Nachforschungen angestellt, um herauszufinden, was VIP ist; sie möchte Jerry den Auftrag für die Werbung abluchsen. Als sie im Labor des Wissenschaftlers auftaucht, ist Jerry zufällig dort und gibt sich kurzentschlossen als Dr. Tyler aus. Was nun folgt, kann man sich denken: Verwicklungen, Verstrickungen, Verliebtheit und Happy End zum Schluss.

Doris Day singt das Titellied »Lover Come Back« und die Schmacht-Ballade »Should I Surrender« und wiederholt ansonsten all das, was sie in ihren anderen Komödien auch macht: Sie reißt die Augen auf oder kneift sie zusammen, stampft entrüstet mit den Füßen auf oder lässt ein empörtes »Uuuuuuhhhh!« erklingen. Ihr pikierter Gesichtsausdruck allein macht die Posse schon sehenswert. Herzallerliebst. Dazu kommt die brillante Synchronarbeit von Edith Schneider — herrlich! Hudson ließ man in einigen Szenen mit einem Vollbart auftreten, was seinerzeit äußerst gewagt war, da es nicht der gängigen Mode entsprach. (Heute wäre das Publikum aus dem Häuschen vor Freude.) Am Ende des Films bieten zwei Männer von der Spirituosenindustrie dem verblüfften Hudson übrigens zwölf Millionen Dollar pro Jahr dafür an, VIP vom Markt zu nehmen — heute wären das umgerechnet unglaubliche 97.122.494 Dollar jährlich!

 

4. März 2018

»We had found the stars, you and I. And this is given once only.« (André Aciman, »Call Me by Your Name«)

Alles an diesem Film ist sinnlich, alles schön. Der Sommer in Norditalien wird einem so lebendig nahegebracht, dass man glaubt, ihn selbst zu erleben. Die Drehorte in der Lombardei, Bergamo und Crema, wirken eigentümlich vertraut. In der »Vanity Fair« stand, »Call Me by Your Name« (Regie: Luca Guadagnino) habe die »verblasste Lebendigkeit einer alten Postkarte, in der es eine Sanftmut und Stille gibt, die all die intensiven Gefühlswallungen zwischen Elio und Oliver abmildern«. Gewiss, die Prämisse des Films ist simpel, die Umsetzung jedoch alles andere als trivial. »Call Me by Your Name« ist vorzüglich im Aufbau. James Ivory, der im Juni sage und schreibe 90 Jahre alt wird, hat Acimans Roman so gekonnt für die Leinwand adaptiert, dass dessen ureigene Poesie erhalten blieb. Guadagnino lässt sich Zeit, er ist mutig und klug genug, seinen Figuren (und den Schauspielern) den Raum zu geben, den sie zur Entfaltung benötigen. So schafft es der in anderen Filmen immer so steif und aalglatt-poliert wirkende Armie Hammer, seinem Oliver hinter der selbstbewussten Fassade eine Unsicherheit und Tiefe zu geben, die nicht auf Papier festgehalten werden kann. Und Timothée Chalamet als Elio hält uns eh von der ersten Einstellung an gefangen. Wir sehen, hören, schmecken und (er)leben durch ihn, fühlen nach und mit, was diese erste wilde Verliebtheit mit und in ihm anrichtet. — Da ist der Fluss, Sonnenstrahlen, die auf der Wasseroberfläche tanzen. Es gibt Aprikosen und Pfirsiche. Die Villa, in der Elios polyglotte Akademiker-Familie ihre Sommer verbringt, ist stets gut besucht. Es gibt Personal und ständig Gäste zum Dinner. Der Vater (gespielt von Michael Stuhlbarg) ist ein großzügiger Schöngeist, der jedes Jahr im Sommer für sechs Wochen einen Gast, meist einen ebenfalls kreativen Geist oder Intellektuellen, aufnimmt und ihm (oder ihr) die Möglichkeit gibt, in Ruhe sein (oder ihr) aktuelles Manuskript zu überarbeiten. In diesem Sommer, 1983, ist es Oliver, ein US-Amerikaner von der Ostküste, 24 Jahre alt und jüdischen Glaubens. Elio ist 17 und … tja, einfach überwältigt. Elio ist dreisprachig aufgewachsen (Englisch, Italienisch, Französisch), hoch gebildet und musisch begabt. Er transkribiert Musik, liest viel, geht schwimmen, flirtet mit einem jungen Mädchen aus Paris (Esther Garrel). — »Call Me by Your Name« vermeidet Klischees. Die Charaktere sind zu sophisticated, um sich mit Plattheiten zufrieden zu geben. Elios Mutter (Amira Casar) liebt deutsche Literatur und Philosophie, der Vater ist Archäologe und interessiert sich für Etymologie. Der Film besitzt eine leise Weisheit, die nie aufdringlich ist, aber immer mitschwingt. Der Monolog des Vaters kurz vor Filmschluss ist vielleicht eine der schönsten Passagen, die je für einen Film geschrieben wurden. Und dann das Gesicht Timothée Chalamets, als dieser zu den Klängen von Sufjan Stevens’ »Visions of Gideon« an Chanukka vorm Kamin weint. Oh, dieses stürmische erste Verliebtsein, die Ungewissheit, die Verlorenheit, die Verzweiflung, diese ganze Wucht von Sehnsucht und Hormonen und Projektion! Diese Angst vor dem Unvermeidlichen, dem Abschied, dem Ende, dem Schmerz!

Acimans Roman habe ich verschlungen! Jeder Satz ist eine Woge aus Wohlklang und Klugheit. Man wird zurückgeworfen in die eigene Jugend, denkt zurück an vergangene Sommer und die erste Liebe, erwidert oder unerwidert, an das grenzenlose Glück und die uferlose Traurigkeit. Die Sprache, die André Aciman verwendet, ist so rein und klar und schön, dass man viele Sätze laut lesen, sie unterstreichen, einrahmen, aufhängen möchte. Die an sich einfache Geschichte setzt er so dicht um, dass man sich als Leser in einem fein gewobenen Netz aus Schönheit und Schmerz gefangen sieht. Unmöglich, den Roman aus der Hand zu legen. Der grundlegendste Unterschied zum Film ist, dass sich Elio und Oliver viele Jahre später wiedersehen und ihrer Verliebtheit von einst nachspüren. — Acimans Vokabular ist erlesen und wird der Gefühlskomplexität Elios mehr als gerecht. Für uns als Leser ist das nicht immer leicht, denn wir ahnen, was für eine tiefe Traurigkeit Eilo und uns erwartet. Teilweise sind die Sätze verschnörkelt und lang, dann wieder kurz, direkt, prägnant. Der Grundton ist melancholisch. Eine Rezensentin schrieb von einem »Sehnen, das nie zu Ende geht. Das ganze Leben lang. Letztlich geht es hier um die Wirkung der Zeit auf die Menschen und ihre Gefühle und darum, dass ein Paradies nur in der Erinnerung aufrecht erhalten werden kann.«
Normalerweise würde ich es nicht explizit erwähnen, aber André Aciman ist heterosexuell. Dass er homosexuelles Begehren und Lieben derart unverkrampft und intensiv-erotisch in Worte gegossen hat, finde ich bemerkenswert. Denn es scheint nicht nur, als ob er Ich-Erzähler Elio dies alles erfühlt und erlebt, sondern er bringt auch uns dazu, diese Liebesgeschichte mitzuerLEBEN. Das ist eine sehr seltene Gabe, und vermutlich ist das der Grund, wieso »Call Me by Your Name« eines der schönsten Bücher meines Lebens ist. Es geht (auch) um die Liebe als universelle Kraft. Einer der schönsten Sätze lautet: »From this moment on, I thought, from this moment on — I had, as I’d never before in my life, the distinct feeling of arriving somewhere very dear, of wanting it forever, of being me, me, me, me and no one else, just me, of finding in each shiver that ran down my arms something totally alien and yet by no means unfamiliar, as if all this had been part of me all my life and I’d misplaced it and he helped me find it.« — Sexualität ist in der Literatur (und auch im Film) eine schwierige Angelegenheit. Mal zu derb, mal zu blumig, mal zu klinisch-steril. Aciman findet sprachlich einen philosophisch-erotischen Zugang: »I believe with every cell in my body that every cell in yours must not, must never, die, and if it does have to die, let it die inside my body.«

Während meines Urlaubs — dem ersten seit Namibia vor zehn Jahren! — habe ich noch drei weitere Bücher vor mir: »Etüden im Schnee« von Yoko Tawada, »Letter to My Daughter« von Maya Angelou sowie Greg Sesteros »The Disaster Artist«. Sie alle werden unfairerweise im Schatten von »Call Me by Your Name« frieren, an das so schnell kein anderes Buch mehr herankommen wird. Ich werde es mit großer Sicherheit sehr bald noch ein weiteres Mal lesen und mich vielleicht sogar auch mal der deutschen Übersetzung nähern.
In wenigen Stunden werden die Oscars verliehen. »Call Me by Your Name« ist in vier Kategorien dabei: Bester Film, Bestes adaptiertes Drehbuch, Bester Hauptdarsteller, Bester Original-Song. Es wäre wünschenswert, wenn er wenigstens eine Statuette bekäme. Lasst uns die Daumen drücken.
Habt einen erholsamen Sonntag!

André