Casting-Bekanntschaften, Hamburg und Amputationen
X. und ich trafen uns in Madrid beim Casting zu »Los Cronocrimenes«, und weder er noch ich haben die Rolle bekommen. Was mir besonders weh tat, da ich Flugticket und Unterkunft aus eigener Tasche bezahlen musste und kein Billig-Ticket mehr zu kriegen war. Außerdem hätte ich gern mit Nacho Vigalondo gearbeitet, den ich für einen sehr begabten Regisseur halte. In zehn, zwölf Jahren wird er zur europäischen Filmelite gehören. Meinen Text hatte ich gelernt, und meine Aussprache ist im Spanischen auch recht gut, wenn man bedenkt, dass ich die Sprache noch nicht lange spreche. Ich scheiterte im zweiten Durchlauf, als ich improvisieren musste: »Vergessen Sie den Text und reagieren Sie spontan auf die Situation.« — »Mein Spanisch reicht für eine Improvisation nicht aus.« — Als ich meinen ersten Studentenfilm in Spanien drehte, verschuldete ich einen kollektiven Lachanfall im Team. Ich hatte den angreifenden Mörder abzuwehren und um Hilfe zu schreien, doch ich hatte einen Kloß im Hals, konnte nicht schreien, nur husten. Ich röchelte kurz und entschuldigte mich mit den Worten: »Lo siento mucho pero tengo una rana en mi garganta.« Seither hat sich leider nicht viel getan.
Castings bzw. Vorsprechen sind sowieso ein Bestandteil meines Berufes, den ich verabscheue. Im Kern der Sache ist’s ein Viehmarkt für Kälber mit Profilneurosen. Wenn man keine hat, entwickelt man sie dort. Oder man kriegt den Job nicht. Oft fühlt man sich erniedrigt — mir ging das ganz besonders bei »Herr Lehmann« und »Beyond the Sea« so. Ich will darauf an dieser Stelle gar nicht näher eingehen, aber es war schlimm, und ich werd’s ganz bestimmt niemals vergessen, was da und vor allem wie es ablief! Bei meinen eigenen Produktionen versuche ich daher seit dem ersten Tag, Castings fair und rücksichtsvoll abzuwickeln.
Zurück zum Stück, ich wollte gar nicht abschweifen. Auf jeden Fall hat X. seine Rolle bei Vigalondo auch nicht bekommen. Ihm schien das nichts auszumachen, denn er hatte eine Serie in Aussicht. (Die er inzwischen auch bekam.) Abends lachten wir gemeinsam über unser Scheitern. (Das heißt, zuerst hab ich natürlich geweint.) Nachts lachten wir gemeinsam über unsere rasant wachsende Zuneigung. Morgens weinten wir gemeinsam, weil wir wussten, dass wir uns für längere Zeit nicht wiedersehen würden. — X. schickte mir die DVD seines ersten Films, 1999 entstanden; sie kam Anfang der Woche an. Er im zarten Alter von 25, 26, die Haare noch lang, die Figur jungenhaft, die Tätowierung an der Schulter bereits verblasst. Er hat sie nie nachstechen lassen, bis heute nicht. Schönes Telefonat. Anschließende, von Dodo mehrfach erwähnte Verwirrung und das Wissen, dass der Umzug nach Paris in vielerlei Hinsicht eine Chance bedeutet bzw. bedeuten kann. Wenngleich mir X.s »Ich warte!« auch Angst macht. (Skorpion-Männer gelten als fordernd.)
Gerade bin ich auf dem Weg nach Hamburg, einen Kollegen und Freund treffen, den ich seit 2004 nicht gesehen habe. Das neue Drehbuch schreibt sich praktisch von allein, ich bin hochgradig inspiriert von Sten, den ich für die Hauptrolle gewinnen möchte und mit dem ich daher in regem Kontakt stehe. Dieses Wochenende werd’ ich versuchen, mich zu entspannen, an mich zu denken, die Verwirrung zu besiegen und meine (endlich mal wieder zwanglos sprudelnde) Kreativität zu liebkosen. Denn gut geht’s mir nicht. Das Leben ist kompliziert, und ich habe das Gefühl, man macht’s selbst ungewollt-gewollt noch schlimmer. Dabei gäben zahlreiche Dinge wahrlich Grund zur Freude! Half Past Ten zum Beispiel. Das neue Drehbuch. Der Umzug. Sogar Weihnachten.
Oh, ich muss los, Hamburg ruft!
Kleine Randfrage an die Leserschaft: Meine Drehbücher hab ich des öfteren meine Babys genannt. Stellt Euch folgende Situation vor: Man gibt sein Baby gesund und munter in die Hände eines Babysitters … und bekommt es mit amputierten Armen und Beinen zurück. Was für Gefühle kochen da bei Euch hoch?
P.S.: Altman tot, Noiret tot.
Buch des Tages: Virginia Woolf: »The Waves«.