Weekend
Originaltitel: Weekend; Regie: Andrew Haigh; Drehbuch: Andrew Haigh; Kamera: Urszula Pontikos [Ula Pontikos]; Musik: James Edward Barker; Darsteller: Tom Cullen, Chris New, Jonathan Race, Laura Freeman, Loreto Murray [Loretto Murray]. GB 2011.
Als ich mit Le deuxième commencement 2012 in Paris war, wurden mehrfach Vergleiche zu »Weekend« gezogen, einen Film, von dem ich bis dato noch nie gehört hatte. Es sollten noch weitere fünf Jahre vergehen, bis ich ihn zum ersten Mal sehen konnte. Um’s gleich vorweg zu nehmen: Mein Film kann »Weekend« nicht einmal im Ansatz das Wasser reichen! Denn bei Andrew Haighs zweiter Regiearbeit (nach »Greek Pete« (2009), der eher durchschnittlich war) handelt es sich um ein kleines Meisterwerk, nicht zu vergleichen mit den Fingerübungen eines leidlich begabten Regie-Amateurs wie mir! Nach »Weekend« kreierte Haigh in den USA mit »Looking« die erste wirklich gelungene schwule TV-Serie. Ein weiterer sehr sehenswerter Streifen des Regisseurs wurde 2015 »45 Years« mit Charlotte Rampling und Tom Courtenay.
Am Anfang steht ein one-night stand: Nach einem öden Abendessen bei Freunden zieht es Russell (Cullen) in einen Club, wo er Glen (New) kennenlernt. Die beiden landen bei ihm. Am nächsten Morgen bittet ihn Glen, seine Eindrücke von der letzten Nacht für ein Kunstprojekt auf Band zu sprechen. Der eher schüchterne und konservative Russell, der ungern über seine Lust spricht, um in seinem heteronormativen Umfeld nicht anzuecken, wird mit der schonungslosen Offenheit von Glen konfrontiert, der sich brüstet, jedem Hetero sein Schwulsein ins Gesicht brüllen zu wollen. Die Jungs sind also von Grund auf verschieden. Dennoch tauschen sie ihre Nummern auf und verabreden sich noch einmal. So lernen sie sich besser kennen, erzählen sich Geheimnisse, schlafen und streiten miteinander. Am Sonntagmorgen, so erfährt der Zuschauer, muss Glen zum Flughafen, da er für mehrere Jahre in die Vereinigten Staaten geht, um dort sein Kunststudium fortzuführen. Für Russell, der als Waisenjunge groß geworden ist und ohnehin Verlustängste hat, eine emotionale Herausforderung — und auch Glen zeigt sich weniger abgebrüht und kalt, als er selbst zunächst hoffte.
Das Ganze erinnert passagenweise an Before Sunrise und ist von der ersten bis zur letzten Sekunde hinreißend. An nur 16 Tagen komplett on location in Nottingham gedreht, wurde »Weekend« vom BFI mittlerweile zum zweitbesten LGBT-Film aller Zeiten gewählt (!). In der Festivalsaison 2011/12 regnete es zahllose Preise für den Film, den Regisseur und seine engagiert aufspielenden Hauptdarsteller.
»Der Spiegel« goutierte »Weekend« mit liebevoller Wertschätzung: Es sei ein »dokumentarisch anmutender Film über die Möglichkeit von Liebe, die eigentlich gar nicht möglich sein kann. Und er ist wundervoll. Es gibt keine spektakulären Wendungen, keine hochdramatischen Liebesschwüre, keine in letzter Sekunde aufgelösten Missverständnisse. ›Weekend‹ beobachtet seine beiden Helden nur mit geradezu beiläufiger Gelassenheit dabei, wie sie sich langsam gegenseitig entdecken. Und das hat man selten so ungekünstelt, so wahrhaftig und so ehrlich gesehen wie hier.« Dem ist nichts hinzuzufügen.
André Schneider