Ein Kind zu töten…
Originaltitel: ¿Quién puede matar a un niño?; Regie: Narciso Ibáñez Serrador; Drehbuch: Narciso Ibáñez Serrador; Kamera: José Luis Alcaine; Musik: Waldo de los Ríos; Darsteller: Lewis Fiander, Prunella Ransome, Antonio Iranzo, María Luisa Arias, Luis Ciges. Spanien 1976.
Narciso Ibáñez Serrador, seit den späten fünfziger Jahren einer der profiliertesten Autoren und Regisseure des spanischen Fernsehens, drehte leider nur zwei Beiträge fürs Kino. Sein erster Film war »La residencia« (1969), ein nicht uninteressantes Stück exploitation cinema, in dem die Erfinderin des overacting, Lilli Palmer persönlich, in einem Mädchenpensionat Jungfrauen auspeitscht. (Man sieht, die »Mädchen in Uniform« (Regie: Géza von Radványi) haben sie nie wirklich losgelassen.) Sieben Jahre später folgte mit »¿Quién puede matar a un niño?« sein Meisterstück, ein wahrer Meilenstein des Horrorthrillers.
»¿Quién puede matar a un niño?« ist heute längst — wohl auch, weil er lange Zeit schwer zu beschaffen war und kaum gezeigt wurde — ein Kultfilm und hat die Reputation, einer der besten spanischen Filme aller Zeiten zu sein. Diesem beachtlichen Prädikat wird er durchaus gerecht, wennschon man nicht oft genug betonen kann, dass dies vielleicht einer der schrecklichsten psychologischen Thriller überhaupt ist — und definitiv nicht für jeden geeignet! Serrador inszeniert den Horror leise, schleichend und in gleißendem Sonnenlicht, die Tragweite des Schreckens wird einem erst nach Ende des Films bewusst. Es ist ein Schocker mit Tiefenwirkung, der ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube hinterlässt und einen noch Tage beschäftigen kann.
In Deutschland war »¿Quién puede matar a un niño?« fast 25 Jahre indiziert, man bekam ihn nur (wenn überhaupt) in einer um etwa 14 Minuten gekürzten und umgeschnittenen Version unter dem sinnfreien Titel »Tödliche Befehle aus dem All« zu sehen. Überhaupt bekam Serradors Kleinod im Laufe der Jahre so einige Titel verpasst: »Trapped«, »Scream«, »The Killer’s Playground«, »The Hex Massacre«, »Los niños«, »Island of the Damned«, »Island of Death«, »Death is Child’s Play«, »Would You Kill a Child?«, »Les révoltés de l’an 2000« — um nur einige zu nennen. Der Originaltitel würde übersetzt lauten: »Wer kann ein Kind töten?«, und diese Frage ist auch das Kernstück von Serradors Geschichte: Es geht um Tom (Fiander) und Evelyn (Ransome), ein englisches Ehepaar, das ohne seine beiden Kinder Urlaub in Spanien macht; vor der Geburt ihres dritten Kindes möchten die beiden noch einmal richtig ausspannen. Mit einem gemieteten Boot fahren die beiden zu der (fiktiven) Insel Almanzóra, einem romantischen Örtchen weitab vom Trubel des touristenverseuchten Festlandes. Bei ihrer Ankunft helfen ihnen ein paar spielende Kinder beim Anlegen, ansonsten scheint die Insel wie ausgestorben. Auch bei ihrem Rundgang durch das Dorf treffen die Neuankömmlinge keine Erwachsenen, nur einige merkwürdig kichernde Kinder kreuzen ihren Weg. Schließlich muss Tom beobachten, wie ein kleines Mädchen einen Greis mit dessen Gehstock zu Tode prügelt, und schon bald müssen er und die hochschwangere Evelyn um ihr Leben rennen, denn mit den Kindern auf dieser Insel stimmt etwas nicht: Wie im Rausch töten sie alle Erwachsenen. Diese wagen es nicht, sich gegen ihre kindlichen Mörder zu wehren, denn wer kann schon ein Kind töten?
Dass der Film so lange verboten war, liegt in seiner Thematik begründet. Blutbäder, zermatschte Eingeweide oder Folterszenen gibt es nicht, Liebhaber von gore-Effekten werden enttäuscht sein. Serrador bricht in diesem Streifen zwei der auch heute noch geltenden Tabus des Kinos: Gewalt an Kindern und Gewalt durch Kinder. Wenn im Film Kinder gewaltsam sterben, so ist dies meist der Auslöser für den Rachefeldzug des Helden oder schlicht und einfach ein Mittel, um die Tragik des Geschehens zu erhöhen. Die »kindliche Unschuld« hat ihren unverrückbaren Platz in unserer Gedankenwelt; kaum ein Autor oder Filmemacher wagt es, diese Unschuld zum zentralen Thema einer Geschichte zu machen oder gar an ihr zu rütteln. Gewalt gegen Kinder ist somit eines der seltener anzutreffenden Motive, tödliche Gewalt von Kindern findet man fast nie. Und die schwierige moralische Frage, was man als Erwachsener tut, wenn Kinder zu Mördern werden, behandelt kaum ein Film, da es ein unzumutbares Terrain für den Zuschauer ist, der sich auf diese Filme einlässt, denn man kann an dieser Frage moralisch nur scheitern.
Serrador lässt seinen Film mit einer fast achtminütigen Sequenz aus Archivaufnahmen beginnen, die aus der deutschen Fassung entfernt wurde: Bilder aus den Konzentrationslagern der Deutschen, verhungernde Kinder in Afrika, kindliche Opfer des Vietnamkriegs. Dazu die Zahlen der getöteten Kinder. In einer der frühesten Szenen des Films formuliert es noch einmal ein Verkäufer glasklar für die werdenden Eltern: »Die Kinder sind immer die Leidtragenden. Wer leidet im Krieg am meisten? Die Kinder. Wen treffen die Hungersnöte am meisten? Die Kinder.«
Durch diesen Prolog wird die beängstigende Frage aufgeworfen: Was wäre, wenn sich die Kinder dieser Welt zusammenschlössen, um sich an den Erwachsenen zu rächen? Wie könnte man ihnen das Unrecht in der Welt erklären? Wie könnte man sich ihrer erwehren? Wer kann schon ein Kind vis-à-vis töten? Gerade wenn man — wie Tom und Evelyn im Film — selbst Kinder hat? Diese ethische Zwickmühle macht das Filmgeschehen noch bedrückender.
Oft wird »¿Quién puede matar a un niño?« mit »The Birds« (Regie: Alfred Hitchcock) verglichen. Einige Bildfolgen erinnern in geradezu unheimlich vertrauter Weise an Hitchcock. Viele Horrorschocker brauchen das Dunkel der Nacht. Serrador und Hitchcock lassen das Grauen bei helllichtem Tag über die Welt einbrechen. Keine Monster oder Mutationen, sondern harmlose Vögel und spielende Kinder werden zu Todesbringern. Beide Filme verweigern sich den gängigen Klischees des Horrorfilms, bedienen sich aber gleichzeitig äußerst geschickt dessen bekannten Strickmustern. Lange hangelt sich Serrador ziemlich exakt an den standardisierten Formeln entlang: Das verlassene Dorf verströmt eine ganz eigentümliche, beängstigende Atmosphäre, die peinigende Stille und die spanische Mittagssonne wirken wie schlafende Ungeheuer, eine latente, allgegenwärtige Bedrohung bleibt stets spürbar, das Unwissen der Protagonisten passt exakt zum Unwissen des Zuschauers, die Kinder sind unheimlich und geben nichts über ihre Hintergründe preis, und man findet sogar noch einen Überlebenden. Trotz des altbekannten Konzepts überzeugt der Film. Durch den cleveren Einfall mit den Kindern gelingt es Serrador darüber hinaus, die üblichen Probleme von solchen Filmen zu umschiffen. Denn natürlich werden Kinder von den Erwachsenen nicht als Bedrohung gesehen, natürlich können die Erwachsenen nicht einfach zurückschlagen, und auch weil Evelyn schwanger ist, zeigen sie sich körperlich und psychisch handlungsunfähig, sobald sie die Gefahr verstanden haben, in der sie sich befinden. Denn wären es keine Kinder, sondern Zombies, Monster oder Vampire, würden die beiden »ganz einfach« um ihr Leben kämpfen und nicht zögern, von der Waffe Gebrauch zu machen. Durch das Motiv mit den Kindern bleibt ihr Nichthandeln glaubwürdig.
Das Ende ist nicht nur pessimistisch oder düster, es ist fast apokalyptisch. Serradors Streifen ist ein Edelstein des Kinos. In seiner Konsequenz der Umsetzung bemerkenswert, in seiner inszenatorischen Realisierung herausragend, kann der Film auf sämtlichen Ebenen überzeugen. Er ist ein wunderbares Zeugnis dafür, welch kraftvolle Filme ein losgelöstes Kino leisten kann, ohne im Sumpf des exploitation cinema zu versinken.
Auch handwerklich ist »¿Quién puede matar a un niño?« ein ganz großer Wurf. Mit José Luis Alcaine stand Serrador einer der weltbesten Kameramänner zur Verfügung. (Zu dessen schönsten Arbeiten aus dieser Zeit zählt unter anderem »La encadenada« (Regie: Manuel Mur Oti), den ich hier bereits besprochen habe.) Alcaine war der erste Kameramann, der in den frühen Siebzigern fluoreszierende Röhren als Schlüssellichtquellen benutze und so für unvergleichliche Bilder sorgte. Auch verzichtete er bei Außenaufnahmen auf Kunstlicht, sondern nutzte große Leinwände als Reflektoren. Bis heute fotografierte er an die 150 Spielfilme. Einer seiner berühmtesten Verehrer ist kein geringerer als Pedro Almodóvar, mit dem er seit 1988 insgesamt acht Filme drehte. Mit dem argentinischen Komponisten Waldo de los Ríos hatte Serrador bereits bei »La residencia« eine äußerst effektvolle Zusammenarbeit erlebt. Bedauerlicherweise nahm sich de los Ríos 1977 im Alter von nur 42 Jahren das Leben. Zu seinen nennenswertesten Arbeiten gehörten die Musiken von »A Town Called Bastard« (Regie: Robert Parrish, mit Telly Savalas und Robert Shaw), »Murders in the Rue Morgue« (Regie: Gordon Hessler, mit Jason Robards und Christine Kaufmann) und »La corrupción de Chris Miller« (Regie: Juan Antonio Bardem, mit Jean Seberg).
Nur mit der Besetzung hatte Serrador ein wenig Pech: Er hatte Tom eigentlich mit Anthony Hopkins besetzen wollen, dieser war jedoch nicht interessiert. Noch über 20 Jahre später beklagte der Regisseur, mit Lewis Fianders Leistung unglücklich gewesen zu sein, während er mit (der leider jung verstorbenen) Prunella Ransome sehr zufrieden war.
André Schneider