Der unheimliche Fremde
Originaltitel: Attention, les enfants regardent; Regie: Serge Leroy; Drehbuch: Serge Leroy, Christopher Frank; Kamera: Claude Renoir; Musik: Éric Demarsan; Darsteller: Alain Delon, Richard Constantini, Tiphaine Leroux, Sophie Renoir, Thierry Turchet. Frankreich 1978.
»Wir kämpfen gegen jeden, der uns schaden will.« (Dimitri)
Allein in den 1970ern stand Superstar Delon in nicht weniger als 33 Filmen vor der Kamera, im Schnitt fanden jährlich also drei bis vier (!) ihren Weg in die Lichtspielhäuser. Das Gros dieser Werke war reines Konsumkino: schnell gedreht, schnell geschaut, schnell vergessen. Seit dem 1969 entstandenen Krimi »Jeff« (Regie: Jean Herman) trat Delon bei vielen seiner Filme als (Co-)Produzent in Erscheinung, so auch bei dieser faszinierenden Mixtur aus Drama und Thriller, die im April 1978 in den französischen Kinos anlief und alsbald dem kollektiven Vergessen anheim fiel. Die Kritiker zeigten sich reserviert, die Zuschauer blieben in Scharen zu Hause, und selbst das TV zeigte den Film kaum. Am 26. März 2021 erschien der lange vermisste Streifen erstmals fürs Heimkino — und zwar ausgerechnet in Deutschland, wo man dem französischen Kino allgemein eher zurückhaltend begegnet.
Die Geschichte erinnert in Teilen an spätere Werke wie »Benny’s Video« (Regie: Michael Haneke) oder auch »We Need to Talk About Kevin« (Regie: Lynne Ramsay), auch an den kurz zuvor gedrehten spanischen Horrorthriller ¿Quién puede matar a un niño? fühlt man sich erinnert. Es geht, kurz gesagt, um grauenvolle Kinder. Es sind vier an der Zahl: Dimitri (Constantini), Marlène (Renoir), Boule (Turchet) und die erst fünfjährige Laetitia (Leroux) wohnen alleine in einer feudalen Villa in Südfrankreich. Die Eltern sind geschäftlich viel unterwegs (sie sind beim Film) und haben sie der Obhut eines spanischen Kindermädchens (Adelita Requena) und des Fernsehers überlassen. Die verwöhnten Gören verbringen praktisch den ganzen Tag vor der Glotze und gönnen sich vornehmlich Kost, die für ihre Altersgruppe denkbar ungeeignet ist: Gewaltfilme. Als sie mit dem Kindermädchen aneinander geraten, spielen sie ihr am folgenden Tag am Strand einen Streich mit tödlichem Ausgang: Das Kindermädchen ertrinkt. Die Kinder lassen’s daraufhin in der Villa so richtig krachen — nicht gewahr, dass ein Fremder (Delon, der erstaunlicherweise gegen sein Schönling-Image anspielt) ihr Verbrechen beobachtet hat und sie einzukreisen beginnt. Er verschafft sich tatsächlich Zutritt zu dem herrschaftlichen Anwesen und übernimmt die Macht im Hause. Doch die Kinder sind wehrhaft und schmieden einen teuflischen Plan, um den Eindringling loszuwerden…
Serge Leroy, der mit »La traque« (1975, mit Mimsy Farmer) und »Les passagers« (1977, mit Jean-Louis Trintignant) zwei äußerst originelle Thriller geschaffen hatte, gelang mit »Attention, les enfants regardent« solides gehobenes Mittelmaß mit einigen beklemmenden Bildfolgen. So gibt es beispielsweise eine Szene, in der Sophie Renoir, während der Dreharbeiten zwölf Jahre jung, versucht, Alain Delon zu verführen, um ihn abzulenken, während ihr Bruder von hinten mit dem Revolver des Vaters auf ihn zielt. Überhaupt muss man konstatieren, dass das kindliche Schauspieler-Quartett hier Außerordentliches vollbringt und die Erwachsenen mühelos an die Wand spielt. Selbst die hundsmiserable deutsche Synchronisation kann das Spiel der Kinder nicht kippen. Der Effekt, dass Delon als Star in der Manege erst nach gut 50 Minuten aktiv in die Handlung eingreift und im Grunde genommen nur eine Nebenrolle spielt, die auch noch namenlos bleibt, ist interessant und zeigt Wirkung. Delons Sterbeszene ist brillant inszeniert und geschnitten, aber aufs Ganze gesehen verharrt »Attention, les enfants regardent« an der Oberfläche. Wer psychologischen Tiefgang sucht, ist hier fehl am Platze. Leroy schien sich nicht so recht entscheiden zu können, ob er ein dunkles Märchen, eine Mediensatire, einen Thriller oder eine Psychostudie machen wollte, und mäandert deshalb unausgegoren zwischen den Genres hin und her. Kalt lässt einen das Werk dennoch nicht. So hob der katholische »Filmdienst« lobend hervor: »Diskussionswert ist das zentrale Thema […]: die von den Kindern vollzogene Verschmelzung von Fiktion und Wirklichkeit als Reflex auf die Einflussmöglichkeiten von Fernsehen und Fernsehgewalt.«
André Schneider