Filmtipp #828: Umfange mich, Nacht

Umfange mich, Nacht

Originaltitel: Yield to the Night; Regie: J. Lee Thompson; Drehbuch: John Cresswell, Joan Henry; Kamera: Gilbert Taylor; Musik: Ray Martin; Darsteller: Diana Dors, Michael Craig, Yvonne Mitchell, Geoffrey Keen, Athene Seyler. GB 1956.

yield to the night

»I know every mark and blemish in this cell — every crack in the walls, scratches on the wooden chairs, the place where the paint is peeled off the ceiling.«

Mary Hilton (Dors), eine junge Frau, die von den Männern in ihrem Leben missbraucht und ausgenutzt wurde, findet in dem smarten Jim Lancaster (Craig) endlich einen Mann, von dem sie glaubt, dass er sie wirklich liebt. Als sie herausfindet, dass auch er sie betrogen hat, rastet sie aus. Sie spürt seine Geliebte, die wohlhabende Lucy Carpenter (Mercia Shaw), auf, erschießt sie und wirft die Waffe der Toten vor deren Füße, während sie seelenruhig stehenbleibt und auf das Eintreffen der Polizei wartet. Mary wird zum Tode verurteilt. In der Todeszelle reflektiert sie ihr kurzes Leben und ihre schreckliche Tat. Ein Gnadengesuch, den die Gefängnisdirektorin (Marie Ney) eingereicht hatte, wurde abgelehnt, und so wissen Mary und der Zuschauer, was zu erwarten ist…

Optisch ist »Yield to the Night« ein kitchen sink drama, inhaltlich ein packendes Plädoyer gegen die Todesstrafe und eine vielschichtige Charakterstudie. Der Film zeigt einen Mord aus tiefer Kränkung und skizziert die letzten zwei Wochen Hiltons im Gefängnis sowie ihre letzten Lebensmonate in Rückblenden. Fälschlicherweise wird oft behauptet, »Yield to the Night« wäre die Verfilmung eines realen Falles gewesen: Die 28-jährige Ruth Ellis wurde im Juli 1955 des Mordes an ihrem Geliebten für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. (Ellis war die letzte Frau, die in Großbritannien gehängt wurde. Ihre Geschichte wurde 1985 unter dem Titel »Dance with a Stranger« (Regie: Mike Newell) mit Miranda Richardson und Rupert Everett kongenial verfilmt.) Dabei wurde offensichtlich übersehen, dass der Roman, auf welchem der Film fußte, bereits 1954 erschienen war. Die Autorin des Romans, Joan Henry, war die damalige Ehefrau des Regisseurs J. Lee Thompson, der sich um eine rasche Verfilmung des Stoffes redlich bemühte. Die Dreharbeiten begannen am 2. November 1955 in den Elstree Studios.

»Yield to the Night« war der erste Film, in dem Diana Dors, die in den Jahren zuvor als britische Monroe-Kopie vermarktet worden war, unter Beweis stellen konnte, was für eine versierte Charakterdarstellerin sie war. Dors sagte später über diese Arbeit: »Bis hierher hatten mich alle für einen Witz gehalten und sicher nicht für eine ernstzunehmende Schauspielerin, obwohl ich wusste, dass ich auch andere Rollen spielen konnte. Das große Problem war, die Leute zu überzeugen.« Sowohl ihr Regisseur als auch ihre Filmpartner waren voll des Lobes für die Schauspielerin, doch leider ließ sich ihr Image nicht mehr korrigieren. So schrieb »Der Spiegel« völlig unbeeindruckt folgende Zeilen: »Diana Dors, bisher als die englische Abart der Marilyn Monroe erfolgreich, bewältigt ohne mimisch zu verunglücken die Rolle einer Mörderin, die ihrer Hinrichtung entgegenwartet. Der Regisseur […] verwandelte die berühmte Sex-Puppe schon dadurch in ein Lebewesen, dass er sie brutal abschminken und ihr Blondhaar um den Scheitel nachdunkeln ließ. So braucht sie nur noch trübe und verstört zu starren. Die einsame Angst der Todeskandidatin wird weniger durch ihre eigenen Reaktionen deutlich als durch die dienstliche Routine und die menschliche Verlegenheit der Gefängnisbeamtinnen.«
J. Lee Thompson hatte Dors zuvor bereits in drei Filmen eingesetzt: in dem Drama »The Weak and the Wicked« (1954, ebenfalls nach einer Vorlage von Joan Henry), in der Familienkomödie »An Alligator Named Daisy« (1955, mit Stephen Boyd und Margaret Rutherford) sowie in dem Musical »As Long as They’re Happy« (1955, mit Janette Scott und Brenda de Banzie). »Yield to the Night«, der für England 1956 ins Rennen um die Goldene Palme in Cannes ging und für drei BAFTAs nominiert wurde, war die vierte und letzte Kollaboration der beiden. Thompson äußerte später, dass dies seine beste Regiearbeit gewesen war.

Anno 2022 wirkt »Yield to the Night« zwar mitnichten staubig, aber doch behäbig. Es bleibt ein tadellos inszeniertes, dunkles, ambitioniertes von vorzüglichen Schauspielern getragenes und optisch ansprechendes Drama. Gottlob wird Mary Hilton weder dämonisiert, noch rührselig als Opfer ihrer Lebensumstände melodramatisch verklärt. J. Lee Thompson verzichtet wohltuend auf jedwede Wertung und bringt dem Zuschauer so die Figur in all ihrer menschlichen Fehlbarkeit näher, als es plakative Schwarzweißmalerei getan hätte. Er hält die Balance zwischen Härte und Sensibilität; auch der ethischen Kontroverse seines Sujets ist sich Thompson jederzeit gewahr. Die stets souverän agierende Yvonne Mitchell liefert eine sehr gute Vorstellung ab. Auch Geoffrey Keen, Michael Craig, Michael Ripper und Mona Washbourne zeigen einmal mehr ihre unbedingte Verlässlichkeit.
Fazit: Kein Film, der die Laune hebt, aber doch einer, die besten Talente des britischen Kinos eindrucksvoll vereint.

André Schneider

Filmtipp #827: Les jeunes amants

Les jeunes amants

Originaltitel: Les jeunes amants; Regie: Carine Tardieu; Drehbuch: Sólveig Anspach, Agnès de Sacy, Carine Tardieu, Raphaëlle Moussafir; Kamera: Elin Kirschfink; Musik: Eric Slabiak; Darsteller: Fanny Ardant, Melvil Poupaud, Cécile de France, Florence Loiret Caille, Sharif Andoura. Frankreich/Belgien 2021.

les jeunes amants

Mit ihren 70 Jahren macht sich Shauna Loszinsky (Ardant) keine Illusionen mehr über ihre Verführungskraft und die Aussicht auf eine neue Liebe. Sie ist alleinstehend, frei, unabhängig und komplett mit sich und der Tatsache, ihr Liebesleben hinter sich gelassen zu haben, im Reinen. Sie macht gerade Urlaub in Irland, als sie Pierre (Poupaud) wiedertrifft, einen Arzt, dem sie vor 15 Jahren begegnete, der 25 Jahre jünger ist und sie nie vergessen hat. Shauna ist von der Anwesenheit des 45jährigen verwirrt, der in ihr keine »ältere Dame« sieht, sondern eine begehrenswerte Frau, die zu lieben er sich nicht scheut: Für ihn spielt der Altersunterschied keine Rolle. Allerdings ist Pierre mit Jeanne (de France) verheiratet und hat eine Familie, während Shauna von ihrem Arzt eine erschreckende Diagnose erhält…

Eine so wunderschöne Liebesgeschichte habe ich im Kino nur sehr, sehr selten erzählt bekommen! Berührend, ohne kitschig zu sein. Zart und leicht, ohne die Probleme auszusparen. Es ist für mich der schönste Liebesfilm der 2020er! Ich konnte mich gar nicht sattsehen an Fanny Ardant, die wie kaum eine andere Schauspielerin zeitlose Erotik verkörpert, und an Melvil Poupaud, der ihrer ansichtig zu einem verliebten Schuljungen wird. Als »Les jeunes amants« am 2. Februar 2022 in den französischen Kinos startete, wurde er zurecht von der Presse gefeiert: »Die Liebe in jedem Alter mit großer Zärtlichkeit zelebrierend« (»20 Minutes«), von einer »selten auf der Leinwand gezeigten Genauigkeit« (»Culturbox«) und von »einem strahlendem Paar« (»Dernières Nouvelles d’Alsace«) war die Rede. In den ersten vier Wochen wurde der Film von 355.000 Franzosen gesehen.

Beim mehrmaligen Sehen fällt die große Sorgfalt der Inszenierung auf. Die Regisseurin Carine Tardieu, Jahrgang 1973, inszenierte mit »Les jeunes amants« ihren vierten abendfüllenden Spielfilm. Ihr Talent, menschliche Beziehungen zu entschlüsseln, stellte sie bereits in früheren Werken unter Beweis: In »Du vent dans les mollets« (2012, u. a. mit Judith Magre) beschäftigte sie sich mit Jugendlichen auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden, und in »Ôtez-moi d’un doute« (2017, mit François Damiens) zeichnete sie das Portrait eines Mannes, den die Enthüllung seiner elterlichen Herkunft in eine Identitätskrise stürzt. In »Les jeunes amants« fügt Tardieu eine dritte Ebene in die Erforschung menschlicher Beziehungen ein; in diesem Fall eine ebenso schöne wie (vermeintlich) unmögliche Liebe. Der Journalist Jacky Bornet attestierte der Filmemacherin, sie sei »sensibel und findet eine formale und emotionale Richtigkeit, die selten auf der Leinwand zu sehen ist«.
Wenn Tardieus Regie in ihrer Feinfühligkeit als empathische Beobachterin mit ihrem Thema Schritt hält, dann sind Ardant und Poupaud in der Emotionalität ihrer Darstellung der Eckstein. Vor der Kamera findet eine beinahe greifbare Verschmelzung der Liebe statt, die sie einander näher bringt — ohne leidenschaftlichen Überschwang, eher hintergründig, diskret, aber klar. Erfrischenderweise vermeidet die Regisseurin allzu aufdringliche Sexszenen, wie sie in einem Film dieser Art obligatorisch sind. Im Gefüge dieser Geschichte wären sie wohl sperrig und sinnlos gewesen. Wenn es in »Les jeunes amants« ums Sexuelle geht, dann auf eine Weise, die man nicht erwartet hätte. Alles spielt sich in den Blicken ab — eine Kopfbewegung, ein Schmollmund, ungeschickte Gesten, flüchtige Berührungen, der Wartende im Regen… Und natürlich sind nicht diese geistreichen »jungen Liebenden« schuld, sondern das Unverständnis ihrer Verwandten, welches alles zum Platzen zu bringen droht.

Seinerzeit im Kino war ich von der Musik irritiert, die ich als zu schwülstig und ablenkend empfunden hatte. Heute bin ich einfach nur verliebt in diesen Film. Und die Szene, in der Fanny Ardant zu den Klängen von »An English Lady of a Certain Age« (The Divine Comedy) am Fenster steht, erweckt die schönsten Erinnerungen an ihre Filme mit Truffaut zu neuem Leben. Ich hoffe, dass »Les jeunes amants« irgendwann seinen Weg nach Deutschland finden wird.

André Schneider

Weitere Filme aus den 2020ern:
Filmtipp #764: Save Yourselves!
Filmtipp #765: Possessor
Filmtipp #796: The Human Voice
Filmtipp #810: Down in Paris
Filmtipp #818: Dark Glasses — Blinde Angst
Filmtipp #821: In Liebe lassen
Filmtipp #825: Black Box — Gefährliche Wahrheit

Filmtipp #826: Ein Hauch von Nerz

Ein Hauch von Nerz

Originaltitel: That Touch of Mink; Regie: Delbert Mann; Drehbuch: Stanley Shapiro, Nate Monaster; Kamera: Russell Metty; Musik: George Duning; Darsteller: Cary Grant, Doris Day, Gig Young, Audrey Meadows, Alan Hewitt. USA 1962.

That Touch of Mink

An einem regnerischen Vormittag brettert der rücksichtslose Wirtschaftsboss Philip Shayne (Grant) in seinem Dienstwagen durch Manhattan. Als sein Fahrer durch eine Pfütze braust, wird der Regenmantel der zurzeit arbeitssuchenden Sekretärin Cathy Timberlake (Day) besudelt. Dieser fulminant in Szene gesetzte Vorfall bringt die beiden zusammen, und es dauert nicht lange, bis der alternde Playboy es auf die drollige Blondine abgesehen hat. Die erweist sich allerdings als eine ziemlich hart zu knackende Nuss. So nimmt sie zwar Philips Angebot, ihn zu den Bermudas zu begleiten, an, obwohl seine Hintergedanken unmissverständlich sind, denkt aber nicht im Träume daran, sich von ihm vernaschen zu lassen…

Beachtliche 17,6 Millionen Dollar spielte »That Touch of Mink« anno 1962 an den Kinokassen ein und war damit eine der erfolgreichsten US-Kinoproduktionen des Jahres. Ursprünglich sollte wieder Rock Hudson an Doris Days Seite spielen, doch Regisseur Delbert Mann bestand darauf, Cary Grant zu engagieren, der hier neben seiner vor Witz und Charme sprühenden Partnerin ziemlich verblasst. Vermutlich mochte Grant den fertigen Film aus diesem Grunde nicht? Fakt ist, dass beide Stars viel zu alt für ihre Rollen waren: Doris Day war 39, Cary Grant 57, als die Dreharbeiten im Juli 1961 begannen. Sie mochten einander nicht sonderlich, waren aber professionell genug, die gemeinsame Arbeit mit Höflichkeit und Humor zu erledigen. Mit von der Partie waren die Fernsehschauspielerin Audrey Meadows, die auf Grants Empfehlung hin unter Vertrag genommen wurde (Grant war ein großer Fan ihrer TV-Serie »The Honeymooners« gewesen), Gig Young, Dick Sargent, John Astin, Richard Deacon und Alan Hewitt. Das pointenreiche Drehbuch von Stanley Shapiro und Nate Monaster heimste eine Oscarnominierung ein, zwei weitere Nominierungen gingen an Ausstattung und Ton.
Ich sah die routiniert inszenierte Komödie unlängst zum ersten Mal seit Jahren wieder und war überrascht, wie witzig sie auch heute noch ist! »That Touch of Mink« reiht sich nahtlos in die Reihe der großartigen Day-Klassiker (u. a. mit James Garner und Rod Taylor) jener Jahre ein und bietet saubere Wochenendunterhaltung für die Familie.

André Schneider