Umfange mich, Nacht
Originaltitel: Yield to the Night; Regie: J. Lee Thompson; Drehbuch: John Cresswell, Joan Henry; Kamera: Gilbert Taylor; Musik: Ray Martin; Darsteller: Diana Dors, Michael Craig, Yvonne Mitchell, Geoffrey Keen, Athene Seyler. GB 1956.
»I know every mark and blemish in this cell — every crack in the walls, scratches on the wooden chairs, the place where the paint is peeled off the ceiling.«
Mary Hilton (Dors), eine junge Frau, die von den Männern in ihrem Leben missbraucht und ausgenutzt wurde, findet in dem smarten Jim Lancaster (Craig) endlich einen Mann, von dem sie glaubt, dass er sie wirklich liebt. Als sie herausfindet, dass auch er sie betrogen hat, rastet sie aus. Sie spürt seine Geliebte, die wohlhabende Lucy Carpenter (Mercia Shaw), auf, erschießt sie und wirft die Waffe der Toten vor deren Füße, während sie seelenruhig stehenbleibt und auf das Eintreffen der Polizei wartet. Mary wird zum Tode verurteilt. In der Todeszelle reflektiert sie ihr kurzes Leben und ihre schreckliche Tat. Ein Gnadengesuch, den die Gefängnisdirektorin (Marie Ney) eingereicht hatte, wurde abgelehnt, und so wissen Mary und der Zuschauer, was zu erwarten ist…
Optisch ist »Yield to the Night« ein kitchen sink drama, inhaltlich ein packendes Plädoyer gegen die Todesstrafe und eine vielschichtige Charakterstudie. Der Film zeigt einen Mord aus tiefer Kränkung und skizziert die letzten zwei Wochen Hiltons im Gefängnis sowie ihre letzten Lebensmonate in Rückblenden. Fälschlicherweise wird oft behauptet, »Yield to the Night« wäre die Verfilmung eines realen Falles gewesen: Die 28-jährige Ruth Ellis wurde im Juli 1955 des Mordes an ihrem Geliebten für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. (Ellis war die letzte Frau, die in Großbritannien gehängt wurde. Ihre Geschichte wurde 1985 unter dem Titel »Dance with a Stranger« (Regie: Mike Newell) mit Miranda Richardson und Rupert Everett kongenial verfilmt.) Dabei wurde offensichtlich übersehen, dass der Roman, auf welchem der Film fußte, bereits 1954 erschienen war. Die Autorin des Romans, Joan Henry, war die damalige Ehefrau des Regisseurs J. Lee Thompson, der sich um eine rasche Verfilmung des Stoffes redlich bemühte. Die Dreharbeiten begannen am 2. November 1955 in den Elstree Studios.
»Yield to the Night« war der erste Film, in dem Diana Dors, die in den Jahren zuvor als britische Monroe-Kopie vermarktet worden war, unter Beweis stellen konnte, was für eine versierte Charakterdarstellerin sie war. Dors sagte später über diese Arbeit: »Bis hierher hatten mich alle für einen Witz gehalten und sicher nicht für eine ernstzunehmende Schauspielerin, obwohl ich wusste, dass ich auch andere Rollen spielen konnte. Das große Problem war, die Leute zu überzeugen.« Sowohl ihr Regisseur als auch ihre Filmpartner waren voll des Lobes für die Schauspielerin, doch leider ließ sich ihr Image nicht mehr korrigieren. So schrieb »Der Spiegel« völlig unbeeindruckt folgende Zeilen: »Diana Dors, bisher als die englische Abart der Marilyn Monroe erfolgreich, bewältigt ohne mimisch zu verunglücken die Rolle einer Mörderin, die ihrer Hinrichtung entgegenwartet. Der Regisseur […] verwandelte die berühmte Sex-Puppe schon dadurch in ein Lebewesen, dass er sie brutal abschminken und ihr Blondhaar um den Scheitel nachdunkeln ließ. So braucht sie nur noch trübe und verstört zu starren. Die einsame Angst der Todeskandidatin wird weniger durch ihre eigenen Reaktionen deutlich als durch die dienstliche Routine und die menschliche Verlegenheit der Gefängnisbeamtinnen.«
J. Lee Thompson hatte Dors zuvor bereits in drei Filmen eingesetzt: in dem Drama »The Weak and the Wicked« (1954, ebenfalls nach einer Vorlage von Joan Henry), in der Familienkomödie »An Alligator Named Daisy« (1955, mit Stephen Boyd und Margaret Rutherford) sowie in dem Musical »As Long as They’re Happy« (1955, mit Janette Scott und Brenda de Banzie). »Yield to the Night«, der für England 1956 ins Rennen um die Goldene Palme in Cannes ging und für drei BAFTAs nominiert wurde, war die vierte und letzte Kollaboration der beiden. Thompson äußerte später, dass dies seine beste Regiearbeit gewesen war.
Anno 2022 wirkt »Yield to the Night« zwar mitnichten staubig, aber doch behäbig. Es bleibt ein tadellos inszeniertes, dunkles, ambitioniertes von vorzüglichen Schauspielern getragenes und optisch ansprechendes Drama. Gottlob wird Mary Hilton weder dämonisiert, noch rührselig als Opfer ihrer Lebensumstände melodramatisch verklärt. J. Lee Thompson verzichtet wohltuend auf jedwede Wertung und bringt dem Zuschauer so die Figur in all ihrer menschlichen Fehlbarkeit näher, als es plakative Schwarzweißmalerei getan hätte. Er hält die Balance zwischen Härte und Sensibilität; auch der ethischen Kontroverse seines Sujets ist sich Thompson jederzeit gewahr. Die stets souverän agierende Yvonne Mitchell liefert eine sehr gute Vorstellung ab. Auch Geoffrey Keen, Michael Craig, Michael Ripper und Mona Washbourne zeigen einmal mehr ihre unbedingte Verlässlichkeit.
Fazit: Kein Film, der die Laune hebt, aber doch einer, die besten Talente des britischen Kinos eindrucksvoll vereint.
André Schneider