Filmtipp #810: Down in Paris

Down in Paris

Originaltitel: Down in Paris; Regie: Antony Hickling; Drehbuch: Antony Hickling, Pierre Guiho, Raphaël Bouvet; Kamera: Yann Gadaud; Musik: Jérémie Lapeyre; Darsteller: Antony Hickling, Jean-Christophe Bouvet, Manuel Blanc, Dominique Frot, Geoffrey Couët. Frankreich 2021.

Down in Paris

Formal gesehen ist Antony Hicklings fünfter abendfüllender Spielfilm ganz anders als seine Vorgänger: linear, leicht zugänglich und weitaus weniger abstrakt als beispielsweise Little Gay Boy. »Down in Paris« ist nicht experimentell und zeigt keine jugendliche Verspieltheit mehr, es ist ein erwachsenes, reifes und sehr introspektives Werk. Die Schwermut, die dabei natürlich nicht ausbleiben kann, wird — und auch das ist in einem Hickling-Film ein Novum — ironisch gebrochen. Bei all diesen Neuerungen ist es umso faszinierender, dass »Down in Paris« durch und durch Hicklings Handschrift trägt und sein Universum in logischer Konsequenz fortschreibt. Die Atmosphäre erkennt man sofort wieder. Wir befinden uns auf den Spielplätzen der Nacht: kleine Seitenstraßen, dunkle Keller, Hitchcock’sche Treppenhäuser bieten den Rahmen, in welchem sich Hicklings Nachtschwärmer wie in einem Rembrandt-Gemälde tummeln. Auch sie sind Prototypen, wie wir sie aus den vorherigen Filmen des Regisseurs kennen: Huren mit viel zu viel Herz, Nonnen in brautweißen Trachten, geheimnisvolle Fremde und, hier einmal mehr im Zentrum, der Künstler in der Sinnkrise.
Der heißt in diesem Film Richard Barlow, ist Filmemacher und wird sinnigerweise von Antony Hickling selbst gespielt. Richard fungiert gleichzeitig als Hicklings Alter ego und als dessen literarische Fortschreibng. Autobiographie und Fiktion fusionieren zu einer Autofiktion im poetischsten Sinne. Little Gay Boy war eine Art Tagebuch in Form eines Puzzles, One Deep Breath ein impressionistisches Bild, »Where Horses Go to Die« (2016) ein surrealistischer Traumtanz und »Frig« (2018) ein Gedicht in drei Strophen. »Down in Paris« ist ein filmischer Roman, der Cassavetes und — natürlich! — Derek Jarman alle Ehre macht.

Es beginnt an einem Filmset. Trotz etlicher Versuche will eine Einstellung einfach nicht gelingen. Während sein Assistent (Couët) und sein Produzent (François Brunet) hektisch um ihn herumwuseln, versucht Richard, Ruhe zu bewahren und einen Weg zu finden, wie die Szene doch noch funktionieren kann. Schließlich verlässt er das Studio und fragt sich im Laufe des Abends des Öfteren, ob er überhaupt zurückkehren soll. Dabei reflektiert Richard seine Krise ganz klar: »Ich bin Künstler. Ich zweifle an mir, das ist normal«, sagt er zu Damien (Claudius Pan), den er ausgerechnet in einer Kirche trifft.
Die Menschen, die Richard im Laufe der Nacht trifft, spiegeln ihn nicht nur — sie sind kleine Steinchen in einem großen Mosaik, das am Ende Richard als Stellvertreter für den Künstler an und für sich zeigt. Da wäre beispielsweise Elizabeth (Nina Bakhshayesh), eine Touristin aus England, die in Paris noch fremder ist als Richard, der nur noch einen leichten Akzent zurückbehalten hat. Elizabeth reist bald ab und möchte vorher noch eine leidenschaftliche Nacht mit einem heißen Franzosen erleben; als Richard sich morgens zufällig ein zweites Mal trifft, ist sie in Begleitung eines schicken Kerls.
Die Begegnungen der Nacht, real und skurril, sind Vignetten, kurze Kapitel in Hicklings Filmroman: Eine Kartenlegerin (Frot) prophezeit Richard, der es sich in seiner Einsamkeit so eingerichtet hat, dass er sie sich nicht mehr eingestehen muss, dass er einen schönen Mann treffen wird. In einer Dönerbude beschützt er einen alten, verwirrt wirkenden Mann (Bouvet) vor zwei jugendlichen Rowdies. Schließlich stattet Richard seinem Ex Mathias (Blanc) einen Besuch ab und bittet ihn um Verzeihung. Die Nacht und ihre Begegnungen sind eine reinigende Katharsis, aus der Richard gestärkt aufsteigt wie Phoenix. Er fährt mit seinem Assistenten zurück ins Studio und sprudelt nur so vor frischen Ideen und Tatendrang.

»Für meinen Vater« lautet am Ende des Films die Widmung. »Down in Paris« ist, leicht verklausuliert, eine Vater-Sohn-Geschichte, hierauf fußt das ganze Fundament. Richard hat, wie Hickling auch, kurz vor Beginn des Films seinen Vater verloren und konnte bislang die Trauer weder verdrängen noch zulassen. Ein kleiner Junge (Noa da Silva), den er am Canal Saint-Martin trifft, übernimmt hier eine Katalysator-Funktion. Und Hickling wäre nicht er, wenn Träume und Glaube, wenn nicht gar Religion, eminente Rollen einnehmen würden.
Nichts an »Down in Paris« ist zynisch, alles ist Heilung. Die Dinge fügen sich ineinander wie ein Reißverschluss. Diesem inhaltlichen Punkt trägt auch die sorgfältige Gestaltung Rechnung, angefangen von der wunderbaren Arbeit, die die Kamera- und Tonleute leisteten, bis hin zum Schnitt und der musikalischen Untermalung (u. a. von Loki Starfish und Léonard Lasry). Schauspielerisch steht und fällt der Streifen mit Antony Hickling, der nicht nur Richards Zwillingsbruder, sondern auch sein Schutzengel ist. Das Spiel ist nuanciert, mit reduzierten Gesten fächert Hickling ein imposantes Spektrum auf, das uns als Zuschauer nicht nur mitfühlen, sondern miterleben lässt. Das Gros der übrigen Besetzung hat fein ausgearbeitete Gastauftritte, die das Skript mit menschlicher Wärme und Leben ausgestattet haben. Neben den bereits erwähnten Schauspielern sind uns Magali Gaudou, Thomas Laroppe, Julie Chaux, Gala Besson und Biño Sauitzvy bereits aus früheren Hickling-Filmen bekannt. Der große Star des Films ist die titelgebende Pariser Nacht.

In Frankreich erschien die DVD soeben unter dem Titel »Une nuit à Paris«, während der Film weiterhin weltweit auf Festivals gezeigt wird und bereits mit einigen Preisen (u. a. in Chicago und Kingston (Kanada)) bedacht wurde.

André Schneider

26. Juni 2022

In Kaufbeuren werden im Freibad drei zwölfjährige Mädchen von einer Horde Jungs sexuell genötigt; am Bostalsee kommt es zu einer Schlägerei um einen Grillplatz; ein Wasserpistolen-Gefecht führt zu einer Massenschlägerei mit Messergebrauch in einem Berliner Freibad; in Salzgitter töten zwei Jugendliche ein 15 Jahre altes Mädchen; in Hamburg-Billstedt rammt ein Afghane einer 19jährigen an einer Bushaltestelle ein Messer in den Schädel. Und dann ist da noch die Geschichte eines ukrainischen Flüchtlings, der in seinem Heimatland bereits wegen eines Tötungsdelikts im Gefängnis saß: Eine deutsche Familie hilft ihm und seiner Familie; der Ukrainer erschlägt den Vater mit einer Axt.
Und während man in Deutschland noch damit beschäftigt ist, sich neue Fantasie-Pronomen auszudenken, um niemanden mehr auszugrenzen — als wäre das möglich! —, dreht der Supreme Court in den USA die Zeit mal eben 70 Jahre zurück: Abtreibungen sind dort, je nach Bundesstaat, ab sofort wieder illegal. An die Folgen will man gar nicht denken: Für die Frauen, für die ungewollten Kinder, für das medizinische Personal, das den Frauen hilft. Es ist eine Schande — und passt unterm Strich doch gut zu einem Land, in dem Potenzmittel von den Krankenkassen übernommen werden, Verhütungsmittel jedoch nicht. Auch soll in den US-Schulen kein Aufklärungsunterricht mehr stattfinden. Das fadenscheinige Argument: Wenn die Kinder erst wissen, wie es geht, werden sie sofort und wahllos Sex haben. Sandra Bernhard würde sagen: »Honey, the shit’s insane!«
In Oslo spielte vorgestern ein durchgedrehter Iraner das Massaker von Orlando nach.

Ich arbeite zurzeit wieder an die 100 Stunden pro Woche, und das Lesen der Nachrichten nach Feierabend ist eine denkbar idiotische Idee. Im Augenblick möchte ich einfach nur aussteigen, raus aufs Land, ohne Handy, ohne Netz. Es tut mir alles nicht gut. Ich fühle mich ausgelaugt und schrecklich dick und hässlich; ich habe das Gefühl, als würde ich auf einen riesigen Abgrund zurasen. Oder besser: als würden wir dies tun. Ich weiß, ich müsste eigentlich für ein halbes Jahr raus aus dem Zirkus. Eine Kur machen. Den Kopf leeren.
Immerhin: Nach zwei schlechten Filmen im Kino — »Jurassic World Dominion« (Regie: Colin Trevorrow) und »The Lost City« (Regie: Aaron Nee, Adam Nee) — hab ich nun mit »The Black Phone« (Regie: Scott Derrickson) endlich einen guten erwischt! Ethan Hawke spielt den Bösewicht mit großer Lust und diabolischer Freude. Ein spannender Thriller, der mehr zu bieten hat als eine Handvoll jump scares.
Einen schönen Sonntag allerseits, vergesst die Sonnencreme nicht!

André