31. Dezember 2013

2014

2014: Auf zu neuen Ufern

Klipp und klar gesagt: 2013 war ein gutes Jahr, reich an wunderbaren Begegnungen und Erfahrungen und weitestgehend frei von Ärger, Wut oder Trauer. Was will man mehr?
     Die Sitzungen bei Dr. F. haben mir geholfen, den Horror der vergangenen Jahre wieder in den Griff zu bekommen, ich bin stärker und zuversichtlicher, habe ein schönes Heim, erfahre eine tiefe Liebe in Freundschaften, darf in Frankreich arbeiten und die Dinge tun, die mir Spaß machen. Der 2012 bereits entfernt spürbare Auftrieb konnte sich in der zweiten Jahreshälfte von 2013 vollends entfalten und wird 2014 anhalten.
     Mehr möchte ich heute eigentlich gar nicht schreiben. Ihr steckt vermutlich mitten in den Partyvorbereitungen; ich werde es mir heute ganz gemütlich machen, ein wenig im Liquidrom rumdümpeln, fein zu Abend essen… — Bleibt gesund und munter, rutscht gut in ein frisches, neues Jahr.

Der letzte Song im Jahr soll und muss für mich immer ein ganz besonderer sein. Dieses Jahr möchte ich ihn gerne mit Euch teilen; schon allein, weil Mathilde Santing uns am Ende des Videos so liebevoll und warm anlächelt. Was gibt es Schöneres, als das alte Jahr mit einem Lächeln zu verabschieden?

Tausend Dank / Thanks / Merci an / to / à Chelito, Bootsmann und meine Familie, Thorsten Strohbeck, Nina Süßmilch, Mirko di Wallenberg, Tilly, Barbara und Allegra, Giovanna, Petra Behrens, Thomas B., Sebastian B., David B., Martin Freudenstein, Alexander Haugg, Alexander Martens, Michel Ruge, Gunnar Solka, Sirko Salka, Carsten K., Celia Ball, Christine Winterhalter-Lutz, Pierre de la Roche, Nicolas Maille, Manu B., Thomas L. und / and / et Antony H.it was a brilliant year!

Love, André

Die beliebtesten Beiträge des Jahres:
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11. Juni 2013
8. Januar 2013
3. März 2013
One Deep Breath
Le deuxième commencement

28. Dezember 2013

Fragebogen: André Schneider
Bericht von Simone Rauth, 28. Dezember 2013.

In seinem neuen Film One Deep Breath geht es um den Verlust der Liebe. Ein weiterer Kurzfilm, Le cadeau, handelt von dem Geschenk der Liebe. Außerdem brachte der Wahl-Berliner 2013 eine Biographie der Schauspielerin Marisa Mell heraus, einer Frau, die zeitlebens vergebens nach Liebe suchte. 26 Fragen an André Schneider.

Wann waren Sie wirklich glücklich? 

Mit meiner Familie beim Weihnachtsessen, mit Chelito zu Hause oder beim Spaziergang, auf meinem Sofa nach einem langen Arbeitstag oder auf dem Filmset in Paris bei der Arbeit.

Was ist Ihre größte Angst?

Eine langwierige Krankheit, Schmerzen oder Unglück für meine Liebsten.

Welche lebende Person bewundern Sie am meisten — und weshalb?

Meine Schwester. Was die in den letzten acht Jahren leisten musste, ist wirklich enorm.

Welches ist Ihre früheste Erinnerung?

Eine meiner frühesten Erinnerungen sind die riesigen Hände meines Urgroßvaters Moritz. Ich erinnere mich deutlich an die dünne, pergamentartige Haut, die dicken, bläulichen Adern und ein Relief von Knöchelchen. Ich fand das unheimlich faszinierend.

Welche Zauberkraft hätten Sie gern?

Schmerzen lindern zu können.

Welchen Charakterzug schätzen Sie an sich am wenigsten?

Ich verzeihe keinen Verrat und bin nachtragend. Das frisst so viel Energie und hat mich über die Jahre sehr misstrauisch gemacht. Ich mag mein Misstrauen nicht. Ich wäre auch gern blöden Arschlöchern gegenüber etwas gelassener.

Welchen Charakterzug schätzen Sie an anderen am wenigsten?

Vorsätzliche Bösartigkeit, Grausamkeit, Feigheit, herablassende Überheblichkeit, Kleinkariertheit, Humorlosigkeit.

Welcher war der bislang peinlichste Augenblick in Ihrem Leben?

Eine wirklich dumme Lüge, der ich in die Augen schauen musste.

Welches ist Ihr liebstes Eigentum?

Mein Schreibtisch, der mich schon seit 20 Jahren begleitet.

Welches ist Ihr liebstes Buch?

Oh, das sind so verdammt viele! Ich mag die Bücher von Kevin Vennemann, Marc-Uwe Kling, Sibylle Berg und dem Uschmann so gerne, dann natürlich die Franzosen von Duras bis Grangé. Ich lese mit Vorliebe Biographien und Klassiker. »Erinnerung an meine traurigen Huren« von Márquez hat mich sehr berührt, Patricia Highsmith finde ich spannend. Märta Tikkanen: »Die Liebesgeschichte des Jahrhunderts«.

Welches ist Ihr Lieblingswort?

»Menno!« oder »niedlich« oder »drumdrieselig«…

Was macht Sie niedergeschlagen?

Die Nachrichten.

Was mögen Sie an Ihrer äußeren Erscheinung am wenigsten?

Den Bauch. — Wobei ich bei anderen ein kleines Bäuchlein ja durchaus sexy finde.

Wer würde Sie in einem Film über Ihr Leben spielen?

Julien Doré vielleicht?

Wie würden Sie sich für ein Kostümfest verkleiden?

Käme auf das Motto der Party an, aber ich würde liebend gerne mal einer der Muppets sein, Kermit vielleicht oder The Great Gonzo.

Welches Musikstück sollte bei Ihrem Begräbnis gespielt werden?

»Sugar« von Tori Amos.

Was ist Ihre geheime Leidenschaft?

Spanische, portugiesische und südamerikanische Poesie, französische Popmusik, Jazz, ausgiebig und gut essen, knutschen.

Wo möchten Sie gern leben?

In Irland gibt es so wunderschöne Cottages, das ist vielleicht mein größter Traum. Aber ohne eine Zweitwohnung in einer Großstadt — Berlin? Paris? Dublin? — ginge das nicht.

Wer oder was ist die größte Liebe Ihres Lebens?

Unterm Strich ist es vermutlich mein Beruf, auch wenn wir manchmal auf Distanz gehen, um uns dann wieder anzunähern. Aber in einer intensiven Liebesbeziehung ist das immer so, denke ich.

Wie fühlt sich Liebe an?

Wie Feuer: sie brennt und sie wärmt. Liebe ist wie Leben, es geht um Atmen, Musik und Hoffnung.

Wer wären Ihre Lieblingsgäste bei einer Dinnerparty?

Wir machen uns einen englischen Abend: Albert Finney, Ben Cohen, Vanessa Redgrave, Dan Smith, Kate Bush, Jennifer Saunders, Tom Hardy, Rafe Spall, Dani Behr, Kristiane Backer, Stephen Fry und ich.

Wenn Sie in die Vergangenheit reisen könnten — wohin?

San Francisco 1967 vielleicht? Oder Rom 1970.

Was ist Ihre größte Leistung?

Die steht noch aus: mein erster richtiger Roman.

Wie soll sich die Nachwelt an Sie erinnern?

Als einen, der die Menschen schmunzeln ließ und ihnen Freude gebracht hat. Das wäre fein.

Welche ist die wichtigste Lektion, die das Leben Sie gelehrt hat?

Nimm das Leben so an, wie es ist, akzeptiere, liebe und ehre es. Sei dir des Geschenks des Lebens bewusst.

Verraten Sie uns bitte ein Geheimnis:

Patsy Kensit turns me on!

25. Dezember 2013

Hallo und Fröhliche Weihnachten!
Normalerweise tue ich das nicht — bislang kam es höchst selten vor —, aber gestern stolperte ich online über einen sehr klugen, diskussionswürdigen Artikel, den ich Euch — als kleines Weihnachtspräsent sozusagen — nicht vorenthalten möchte. Es geht um die gar nicht so schöne »schöne schwule Welt«, die ich im Sommer schon einmal kurz beschrieben habe. Viel Spaß beim Lesen und Nachdenken!

André

Spießer im Darkroom
Bericht von Jan Feddersen, Jungle World Nr. 51, 19. Dezember 2013.

Die schwule Szene, deren politischer Teil stets auf Nonkonformität und Dissidenz achtet, ist angesichts der Homoehe ratlos. Wie normal wird es noch werden?

Einer der besten Kenner der schwulen Szene, ihrer Infrastruktur, Bars, Kneipen, Sexorte, privaten Netzwerke, Theaterfoyers und anderer Plätze des Cruisings, ist Sirko Salka. Er war Chefredakteur des schwulen Stadtmagazins Siegessäule in Berlin, das aus der autonomen Schwulenbewegung der siebziger Jahre hervorgegangen ist, und hat gewissermaßen den Durchblick: Was tut sich, was erlahmt, was steigt auf? Zusammengefasst hat er seine Beobachtungen in einem Buch, das im Berliner Querverlag erschienen ist, der ebenfalls aus der politisch-kulturellen Bewegung der Queers, der Schwulen und Lesben hervorgegangen ist. Der Titel des vermutlich nur die eigene Minderheit erreichenden Büchleins ist so sprechend wie kein anderer Buchtitel der Homoszene in den vergangenen drei Jahrzehnten: »Banal-Sex — Wieso schwules Leben harte Arbeit ist«.

Salka entwickelt die schöne und zugleich ein wenig ungemütliche These, dass schwules Leben der zeitgenössischen Art sich kaum politisch fassen lasse, weil es sich vorwiegend auf Sex beziehe. Nicht nur ein bisschen Sex, sondern viel Sex. Sehr viel davon. Der Autor sagt, was wirklich hübsch zu lesen ist, dass die Essenz schwulen Lebens, zumal in einer Metropole wie Berlin, sich gut eindampfen lasse auf das eine Thema: Sex. Skizziert wird eine Form der Homonormativität, die nicht viel weniger gruselig anmutet als ihre majorative Entsprechung, die Heteronormativität. Das Leben von homosexuellen Männern ist von ebenso vielen Regeln durchdrungen wie die durch Heirat, Familie und Kinder geprägte Welt der Heterosexuellen.

Homonormativ — das ist die schwule Welt, in der es um Abschleppen, Kennenlernen und Abweisung geht; um Sex aber als Grundrauschen immer. Man kommt nach dem Coming-out in die Szene, erfährt Zusammenhalt, stumme Solidarität und kumpanenhafte Geselligkeit. Diese Struktur war wichtig, solange eine ins bürgerliche Leben integrierte Biographie nicht nur nicht existierte, sondern ebenso wenig phantasiert wurde. Schwules Leben, das war auch, vor allem in den Siebzigern, grundiert von der Behauptung, das Schwule sei schon durch den Sexakt an sich ein Angriff auf die patriarchale Ordnung, im heutigen Wording auf die heteronormative Matrix. Wer ständig vögelt, wer dies auch noch mit dauernd wechselnden Partnern in flüchtigen Szenarien macht, ist nicht nur der bürgerlichen Spießigkeit entronnen, sondern greift diese frontal an.

Kein Periodikum der Szenepublizistik hat diese Ordnung des Maschinell-Sexuellen je in Frage gestellt: Die Dinge sind, wie sie sind — und schon immer waren. Ob diese Sexualstrukturen möglicherweise nicht Nähe inszenieren, sondern, die hohe Frequenz von unterschiedlichen Sexualobjekten liefert dafür ein ziemlich starkes Indiz, eher eine Distanz im Sexuellen aufrechterhalten wollten, wäre zu diskutieren. Doch die schwule Szene, Salka unterstreicht diesen Befund, schweigt.

Warum auch sollte man Unruhe stiften, wo doch der Generalschlüssel der überlieferten Selbstbehauptungen die »Repression« (wahlweise »Unterdrückung« und »Diskriminierung«) war? War es nicht ein freundlich unangetas­tetes Leben, das sogar von gewichtigen heterosexuellen Forscherstimmen beinahe akklamiert wurde? Dagmar Herzog, Sexualhistorikerin aus New York und intime Kennerin der globalen, vor allem deutschen Geschichte der Homosexuellenunterdrückung, und auch ihr Kollege Gunter Schmidt, inzwischen emeritierter Soziologe des legendären Hamburger Instituts für Sexualforschung, priesen beide, die eine in einem Essay, der andere in seinem Standardwerk »Das große Der Die Das«, die Errungenschaften der Schwulen. Die nämlich könnten Sexuelles und Beziehungshaftes nachgerade vorbildlich, um nicht zu sagen: trennscharf unterschiedlich und zusammen leben. So glauben auch tatsächlich schwule Männer selbst, dass die kaum noch existenten Klappen — öffentliche Toiletten sind in den Städten inzwischen eine Seltenheit — Soziotope sexueller Kontaktaufnahme der edelsten Art waren. Wer aber die Gesichter an einem solchen Ort, wer die ernsten Mienen von Männern in Dark­rooms, wer die Anstrengung in der Anbahnung sexueller Kontakte etwa in Saunen gesehen hat, weiß, dass das allenfalls ein Fünftel der Wahrheit ist. Für den Rest muss man, gut freudianisch, fragen: Wofür steht die sexuelle Manie eigentlich? Was soll sie ausdrücken, das woanders nicht zum Gelingen kommt? Was soll sie überspielen? Herzog wie Schmidt sind, so gesehen, gutmeinende Opfer schwuler Selbstpropaganda geworden — und das hat nicht allein mit einem Mangel sexualwissenschaftlicher Empirie zu tun, nicht allein mit der Freundlichkeit, die klassischen Opfern gern entgegengebracht wird. Es könnte auch damit zu tun haben, dass der kritische Blick auf das, was die Sache ist, fehlt, weil das Interesse letztlich gering ist. Sind die Schwulen nach dem En­de des Verbots der Homosexualität in der Bundesrepublik, das war 1969, nicht immer wahnsinnig gehätschelt worden? Die Söhne der Männer mit dem Rosa Winkel, die so nett wie John Boy Walton daherkamen, die besten Partys gaben, Stars in der Mode- und Kunstszene waren, waren die Profiteure der sexuellen Liberalisierung seit den frühen Sechzigern, als Männer, die Männer begehren, langsam begannen, öffentlich die Performance in eigenem Interesse zu wagen.

Seither toben die Kulturkämpfe, und nach einer Reihe von Urteilssprüchen der Verfassungsrichter und -richterinnen in Karlsruhe in jüngster Zeit darf mit einiger Zuversicht angenommen werden: Homosexuelle werden Heterosexuellen rechtlich bald schon gleichgestellt sein. So mahnte der LGBTI*-Forscher Klaus Müller in einem Interview mit der Taz, allein schon um den Putins dieser Welt nicht Nahrung für ihren ideologischen Kampf zu geben, dürfe in Deutschland die klassische Ehe nicht den Heteros vorbehalten bleiben. Die Eingetragene Lebenspartnerschaft für Homosexuelle reiche nicht aus. Die Öffnung der Ehe für Homose­xuelle sei ein letzter Schritt auf dem Weg zu bürgerlicher Rechtsgleichheit, und um diese muss es vor allem in einem liberalen Staat mit bürgerlich verfasster Gesellschaft gehen. Rechtliche Diskriminierung verführt die Zivilgesellschaft stets dazu, diese Differenz moralisch zu rechtfertigen. Wenn jedoch Homosexuelle, Transpersonen und Intersexuelle demnächst Heterosexuellen sexualdemokratisch gleichgestellt sind und keinen Grund mehr haben zu meckern — was dann?

In Szene-Magazinen wie »Männer« oder »Du & Ich« sorgt diese Aussicht für Unbehagen: Was kommt nach der »Normalisierung«? Ist es denn wirklich so, dass alles »normal« sein kann? Ist die Furcht, der »Normalität« einverleibt zu werden, ernsthaft der Grund der Nervosität? Ist es nicht die vornehmste Sache im politischen Streit um bürgerliche Gleichberechtigung, alle rechtlichen Beschränkungen zu tilgen, die aus Minderheiten juristisch kodifizierte Sonderlinge machen? Oder könnte die Ablehnung der »Normalität« von der Angst geleitet sein, dass man die Lizenz zur körperlichen Entgrenzung, für die man Sex als Mittel imaginiert, entzogen bekommt? Auffällig ist doch, glaubt man den wenigen Untersuchungen (etwa die Hans-Peter Bubas und Laszlo Vaskovics’ aus Jahr 2000) da dazu, dass das Eintauchen in die promiskuitive schwule Welt nicht mit dem Zeitpunkt der bewussten Selbstanerkennung als schwuler Mann zusammenfällt, sondern — Pointe! — nach dem ersten Liebeskummer erfolgt. Sex diene als Linderung des psychischen Kummers. Wäre es da nicht naheliegend, die auf sexuellen Aktivitäten beruhende Homonormativität als Inszenierung einer endlosen Pubertät zu deuten?

In der Tat findet das Coming Out ungefähr fünf bis sechs Jahre später statt als die ersten sexuellen Erlebnisse bei heterosexuellen Jungs. Schwule Jungs beginnen sich auszuprobieren, wenn sie bereits volljährig sind. Sie betreten den Sexabenteuerspielplatz also verhältnismäßig spät und haben vielleicht etwas nachzuholen? Das Klagelied von der vergeblichen Liebe, das Cat Stevens mit »First cut is the deepest« anstimmte, kann von schwulen Männern erst dann geklampft werden, wenn Heteromänner längst wissen, welche Wunden die Liebe ihnen schlägt.

In vielen Städten, vor allem aber in Berlin, der traditionellen Kapitale all jener, die zum Regenbogen der sexual otherness zu zählen sind, spürt man die »Normalisierung« längst. Das schwule Netzwerk ist weniger dicht, Kneipen leeren sich, Diskotheken und Eventtempel wie das Berghain leben von Touristen, nicht von den Einheimischen selbst. Sex wird zunehmend über das Internet angebahnt. Aber wohnt der Tendenz zur Entsexualisierung gastronomischer Einrichtungen deshalb schon eine Neigung zum Spießigen inne, wie die allein schon der glatten Oberfläche wegen pornographisch angehauchte Illustrierte Männer kürzlich mutmaßte? Was ist überhaupt Spießigkeit? Haben es die schwule Szene und deren autonomer politischer Teil nötig, wie Kleinstbürger die Männer zu zählen, die einem in den Dünsten der Dark­rooms gewogen waren? Wird hier nicht ein fragwürdiges Erbe jener Ära gefeiert, die Sex mit Befreiung gleichsetzte?

Homoaktivisten wie Michael Holy aus Frankfurt am Main, noble Chronisten der Schwulenbewegung, vertreten die Ansicht, es sei keine Emanzipation, wenn Schwule heiraten dürften, schließlich existiere immer noch das Tabu des Analverkehrs, das es dem Mann verbiete, den Akt in der passiven Rolle zu genießen. Ein Mann werde nicht gefickt — das sei das Gesetz, das immer noch gelte.

Vieles spricht dafür, dass diese These stimmt. Ja, die traditionellen Vorstellungen von dem, was die sexuelle Rolle des Mannes zu sein hat, sind noch immer virulent. Vielleicht nicht mehr in dem Maße wie einst, aber sie existieren. Allenfalls, um eine Wendung der Frankfurter Psychoanalytikerin Ilka Quindeau zu gebrauchen, schmelzen die Polkappen der sexuellen Ordnung, die nichts duldet, was ihr nicht entspricht. Die Frau ein Gefäß — der Mann, der es füllt. Zugleich jedoch ist dieser Befund von einem idealistischen Furor geprägt. Es wird so getan, als ob Rollenbilder, die in den Urzeiten menschlicher Geschichte geboren worden sind, sich durch ein Niesen des Emanzipationswillens sprengen ließen. Die sexuelle Aufklärung aber ist eine relativ junge Entwicklung, und sie kommt langsam voran. Aber ändert das etwas daran, dass die rechtliche Gleichstellung von Homosexuellen — in Deutschland — nahezu erreicht ist? Ermöglicht Rechtsgleichheit nicht erst die Erkundung dessen, was mit Sigmund Freud bei beiden biologischen Geschlechtern (und ihren Zwischenstufen) als innere Bisexualität gefasst werden könnte? Ist die Freiheit der Selbstreflexion unter Gleichen (nicht: Selben) nicht erst dann möglich, wenn die Pö­nalisierung des genital gleichgeschlechtlichen Begehrens keine Rolle mehr spielt?

Dass gerade an dieser Rechtsgleichheit alles hängt, erkennt man leicht, wenn man sich den menschenrechtlichen Backlash ansieht, der zurzeit von Russland ausgeht und in Kroatien mit der Festschreibung der Ehe als ausschließlich heterosexuelle Verbindung beglaubigt wurde. Ist der Homophobie, auf die sich alle antiplural und faktisch nichtdemokratisch verfassten Länder als gemeinsamen Nenner des Unbehagens an der Moderne einigen können, nicht auch eine »antisemitische Matrix« nach der Definition Shulamith Volkovs eingeschrieben? Antisemitismus ist demnach nicht mit Judenfeindschaft gleichzusetzen, sondern ist als eine Haltung zur Welt definiert, die sich im gründlich empfundenen Hass auf das imaginiert ungleichförmig Andere richtet, auf Pluralität, auf Diversifikation, und das Völkische will, eine Gesellschaft der Uniformität.

»Normalisierung«, so gesehen, kann ein explosiver Akt sein — wenn er, wie Homosexuelle es in vielen Ländern können, die heterosexuelle Struktur der Ehe unterläuft. Was zwei Leute miteinander machen, was sie aus ihren Leben entwickeln, geht nur sie etwas an. Eine schwule Gemeinschaft, eine »Community«, wie es heißt, die sich — wahlweise — auf Subversion, Männerbündischkeit oder sonst was Elitäres einbildet, wird auf diese Weise immer weniger gebraucht.

Aber würde dann, um eine These des Soziologen Rüdiger Lautmann, die er in den Siebzigern formulierte, zutreffen, was ungefähr so umrissen werden kann: Die schwule Infrastruktur stirbt, wenn die Diskriminierung abnimmt? Eventuell stand hinter dieser Idee auch der Wunsch eines sexualsoziologisch orientierten Wissenschaftlers, der seine biographischen Wurzeln in den mittleren dreißiger Jahren hat und seine homosexuelle Reifung unter dem bis 1969 gültigen Naziparagraphen 175 leben musste. Die Idee selbst ist so irrig wie jene, der zufolge die Erbschaften des Heterosexuellen durch fromme oder freche Reden aus der Welt geschafft werden können: sofern das überhaupt ein Ziel sein könnte. Schwule aber — nicht minder Lesben, die freilich anders, auf ihre historisch bedingte Art — werden ihre Netzwerke behalten und sich weiterhin als schwule Männer identifizieren. Nicht an seltsamen Augenbrauen, an, wie Heteros immer dachten, feminin phantasierten Gesten oder hüftwackelndem Gang erkennt man einander. Sondern an kulturell bedingten Zeichen und Symbolen. An der nicht ganz so glühenden Leidenschaft für bestimmte Mann-balzt-um-Frau-Imponierposen; an gewissen und ziemlich subtilen Interessen, die es gibt – und sei es der an den kulturellen Hervorbringungen des Camp. Denn: Welcher heterosexuelle Mann könnte derart für Barbara Streisand schwärmen, wie es schwule Männer eben tun? Die Kommunikations- und Wahrnehmungstraditionen werden überliefert, sie müssen nicht erst in der schwulen Szene herausgebildet werden. Sie sind längst da: Ein Junge, der etwa mit Brüdern aufwächst, wird sich vielleicht genauso sehr für Fußball interessieren wie seine Geschwister; aber er wird sich vielleicht andere weibliche Idole suchen als seine heterosexuellen Brüder, so wie Schwule vielleicht eher einen Sinn für Désirée Nick als für Daniela Katzenberger haben. Letztlich hängt es aber von der Person ab — nichts geschieht automatisch, nichts ist naturgegeben: Aber dass schwule Männer sich weltweit über einen kulturellen Symbolvorrat verständigen können, bestreiten selbst jene nicht, die Sex für das Elixier einer geglückten schwulen Biographie halten.