Mein Großvater wäre dieses Jahr 90 Jahre alt geworden; leider starb er verhältnismäßig früh, da war ich noch nicht ganz 17. Er war ein kluger Philanthrop und brachte mir unheimlich viel über das Leben und die Menschen bei. Ein herrlicher Friese mit trockenem Humor und gutem Allgemeinwissen. Ich habe ihn sehr geliebt und vermisse ihn noch heute. Eine seiner Weisheiten lautete: »Ziehe niemals Bilanz, wenn du erschöpft bist.« (Auf Englisch klingt das besser: »Never judge your life when you’re exhausted.«) — Gerade diesen Satz musste ich mir in den vergangenen Wochen immer wieder ins Bewusstsein rufen. Diese Müdigkeit, die abgrundtiefe Erschöpfung, die mich nach einer beendeten Filmarbeit heimzusuchen pflegt, mich überschwemmt und lahm legt — sie ist wieder da. Nach nunmehr zehn Jahren Arbeit im No-Budget-Sektor bin ich mal wieder an dem Punkt, an dem ich meine Zukunft in Frage stelle, mich frage, warum zum Henker ich mir diese fortwährende Selbstausbeutung antue, ob ich jemals wieder einen Film machen werde, woher ich die Kraft nehmen soll, bla bla bla, und so weiter, und so fort. In diesen Zeiten wäre es prima, wenn abends jemand da wäre, der einen ermutigt, den Rücken stärkt und in den Arm nimmt.
Die wenigen Privilegierten, die One Deep Breath bislang sehen durften, reagierten durchweg positiv, einige sogar euphorisch. Die italienische Agentur konnte es gar nicht erwarten, den Exklusivvertrag mit uns abzuschließen. Einzig unser französischer Verleih äußerte Bedenken: »Das ist ein Arthaus-Film, gut für Festivals, aber es wird schwer werden, ihn zu verkaufen. Zum Glück ist Manuel Blanc dabei, das wird uns helfen.« — So wurden 64 Arbeitswochen in zwei Sätzen abgewatscht. Antony sitzt auf glühenden Kohlen, wartet auf die große Ab- oder (hoffentlich) Zusage. Schließlich und endlich haben wir den Film hauptsächlich gedreht, um seinen Namen bekannt zu machen.
Während in Paris alles ein wenig in der Schwebe ist, bereite ich die Veröffentlichung von Sie7en vor — wie üblich komme ich dabei weniger schnell voran, als mir lieb ist — und hoffe, dass Rafael im Laufe des Jahres an Kontur gewinnen wird; bislang habe ich lediglich die Tonaufnahmen von Jo van Nelsen und Maria de Medeiros sowie die schriftlichen Zusagen von Daniel Rhyder und Pau Masó. Alle weiteren Projekte ruhen, liegen auf Eis. »Du musst etwas Geduld haben«, lautete der — sicher gut gemeinte — Ratschlag des freundlichen Produzenten, der mir vor einem guten Dreivierteljahr einen saftigen Vorschuss gab und mir damit Hoffnung auf eine Zusammenarbeit machte. Natürlich setzte das einen Denkprozess in Gang: Wieso unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten — schreiben — drehen, wenn es auch anders geht? Wieso sich ausbeuten lassen, wenn man seiner Tätigkeit auch bezahlterweise nachgehen könnte? Bis jetzt haben ausschließlich andere an meiner Arbeit verdient; ich musste neben meiner Film- und Schreibarbeit stets einen Zweit- oder Drittjob ausüben, um mein Leben und meine Filme zu finanzieren. Mit 26, 27, 28 hatte mich das wenig gejuckt, war irgendwie in Ordnung. Jetzt, mit 34, 35, 36, ärgert es mich kolossal. Vor allem auch, weil zum Teil sehr gute Drehbücher aufgrund der finanziellen Engpässe unter suboptimalen Umständen realisiert und dadurch zu jämmerlichen Filmen wurden. (Stichwort: Equipment, Tonabmischung etc.) Ganz abgesehen davon leidet die physische und psychische Gesundheit gewaltig unter der Vielfachbelastung. Aber das sei nur am Rande erwähnt. — Vielleicht sollte ich geduldig sein, tapfer weiter jobben, still abwarten und eben nur alle vier, fünf Jahre einen Film machen, wenn ich die erforderlichen Mittel beisammen habe. Vernünftiger wäre es. Leider hat mich — verflucht noch eins! — die Vernunft nie sonderlich geschert. Und ich möchte gerne produktiv sein; besagtem Produzenten schickte ich Anfang Januar neun (in Zahlen: 9!) Projekte zur Auswahl, unter anderem auch das Fruchtstückchen-Drehbuch, mein großes Herzensanliegen: »Du musst etwas Geduld haben.« — Geduld! Ich bin 36 Jahre alt und seit beinahe 20 Jahren in diesem Metier tätig, arbeite im Schnitt 330 Tage im Jahr und lebe unter dem Existenzminimum. Meine Filme laufen weltweit, gewinnen Preise, haben eine gute Presse. Gefördert wurden und werden sie nicht, da sie »höchstens für ein Nischenpublikum interessant« sind.
Hatte vorige Nacht einen Alptraum. Ich saß mit der Kriegstreiber-Uschi, also Ursula von der Leyen, in einer Talkrunde im Fernsehen. Der Moderator ermahnte mich: »Sie können doch Frau von der Leyen nicht als Kriegstreiberin titulieren!«, und ich brach in trauriges Gelächter aus. »Uschi will in die Geschichtsbücher«, sagte ich. »Das geht am schnellsten und effektivsten mit vielen, vielen Kriegseinsätzen und noch mehr Toten.« — Während des Interviews grinste mich die von der Leyen diabolisch von der Seite an. Der Zynismus dieser Frau kennt keine Grenzen. Ich bin sicher, dass während ihrer Amtszeit noch mindestens eines ihrer Kinder pressewirksam in die Bundeswehr eintritt. Es würde mich auch nicht wundern, wenn sie Hartz IV-Empfänger zwagsrekrutieren würde — als Kanonenfutter sozusagen. Denn, und da bin ich ganz gewiss, es ist ihr völlig egal, was einst über sie in den Geschichtsbüchern stehen wird, solange nur ihr Name richtig gedruckt ist.
Der weltweit immer harschere Ton in der Politik beunruhigt mich schön länger, und ich weiß manchmal nicht, wie lange sich mein Optimismus noch lohnt. Man beobachtet fassungslos die Berichterstattungen aus der Ukraine und ist bestürzt über die offensichtlich gleichgeschaltete Presse, die gleichsam paranoid wie hetzerisch an die Kommunistenhatz der frühen 1950er erinnert. Und mittendrin eine Frau von der Leyen, säbelrasselnd und kurz vorm Blutrausch stehend, mit immer absurderen, menschenverachtenden Forderungen. Ach, manchmal bin ich des Zusehens so verdammt müde!
Chelito genießt die Frühlingssonne
Die Kirschbäume blühen. Wie schrieb Pablo Neruda? »Quiero hacer contigo / lo que la primavera hace con los cerezos.« — Vogelgezwitscher und ein wenig Sonnenschein. Ein guter Start ins Wochenende. Eigentlich. Etwas traurig noch, weil wir keine Karten für Kate Bush mehr bekommen haben. Ihre ersten Konzerte seit 1979. Binnen einer Viertelstunde waren alle Karten ausverkauft. Ein paar besonders miese Arschlöcher, die schnell genug waren, bieten sie jetzt für 3.000 Euro im Netz feil.
Überlege, heute vielleicht ins Kino zu sehen. War 2014 noch gar nicht im Kino. Der Film mit Jördis Triebel interessiert mich. Schauen wir mal. Auf jeden Fall werde ich mir nachher etwas besonders Leckeres kochen, mit frischen Tomaten und Basilikum.
Ein trotz allem herzlicher Gruß, lasst es Euch gut gehen.
André