Keine Frage, es war ein smarter Zug der Produzenten, Laverne Cox als Frank N. Furter zu besetzen. Die Besetzung verrichtete ihre Aufgaben tadellos und engagiert. Trotzdem war das Remake der Rocky Horror Picture Show vor allem eines: überflüssig. Bestenfalls machte es Lust auf das Original. Mir kamen die Tränen, als ich Tim Curry sah. Zwar hatte ich von seinem Schlaganfall vor vier Jahren gelesen, aber dass er im Rollstuhl sitzt, war mir nicht bewusst gewesen. Er ist eigentlich noch nicht alt, gerade 70, aber er wirkte als Erzähler bereits wie ein Relikt aus ferner Zeit. Frank N. Furter war — und ist eigentlich noch immer — die Traumrolle! Seit ich das Musical zum ersten Mal sah, wuchs die Sehnsucht. Mittlerweile bin ich zu alt, und sowieso hätte ich Tim Curry niemals das Wasser reichen können, aber trotzdem überschwemmt mich immer noch ein Rinnsal der Nostalgie, wenn ich an The Rocky Horror Picture Show denke. Wenn ich der Neuverfilmung etwas Positives abgewinnen konnte, so waren es die beinahe surreal erotische Ivy Levan als Usherette, die den Eröffnungssong »Science Fiction/Double Feature« singt, und Adam Lambert als Eddie. Mit Letzterem hatte ich nie viel anfangen können, weder so noch so, aber als Eddie war er irre heiß! Habe mir im Anschluss seinen Clip zu »Welcome to the Show« angeschaut. Geiler Song. Und er flirtet mit der Kamera, was das Zeug hält. Ich mag seinen mädchenhaft geschwungenen Mund und die frechen Augenbrauen. Der Mann ist eine Rampensau allererster Güte. Außerdem strahlt er eine ungemein derbe Sexualität aus. Da ist etwas verführerisch Dreckiges, das unter der glatten, sterilen, glänzend polierten Showbiz-Oberfläche drämmelt — find’ ich gut!
Die Zeit mit meiner Mutter verging wie im Flug. Gleich am ersten Tag stapften wir den beschwerlichen Weg zum Sacré-Cœur hinauf, am zweiten absolvierten wir einen siebenstündigen Spaziergang, am dritten eine Seine-Rundfahrt. Mir war bislang nie aufgefallen, wie viele Treppen man insbesondere in den Métro-Stationen zu bewältigen hat, aber Mama und ihr Herzschrittmacher machten alles tapfer mit. Abends qualmten unsere Füße. Wir schauten uns die Nachrichten online an, unterhielten uns bis zum Schlafengehen und hatten einen herrlich festen Schlaf. Diese ungestörten Mutter-Sohn-Gespräche hatte es lange nicht mehr gegeben; es war richtig schön. An ihrem letzten Abend aßen wir im Au Petit Riche. Das war am 27. — Ians Geburtstag, und er konnte nicht dabei sein. Er arbeitete in Düsseldorf.
Die Vorbereitungen für Chéries-Chéris sind im vollen Gange, das Festival beginnt am 15. November. »King Cobra« (Regie: Justin Kelly) ist der Eröffnungsfilm, der junge Garrett Clayton wird bereits als Star gehandelt. »Where Horses Go to Die« wird am 16. November laufen. Ich würde unheimlich gerne »O Ornitólogo« (Regie: João Pedro Rodrigues) mit Paul Hamy sehen, aber ich werde noch vor Festivalbeginn abreisen müssen. Ian fliegt am 19. nach Paris, um gemeinsam mit Alexandre und Thomas Sur les traces de ma mère vorzustellen. Unser Verleih will die DVD schon am 7. Dezember auf den Markt bringen; das Design und den Text für die Hülle haben wir am Samstag absegnen müssen. Als Bonusfilm wird Le deuxième commencement auf der DVD enthalten sein, was mich ganz besonders freut, denn schließlich war dieser Film der Ausgangspunkt für meine Arbeit in diesem Land. Fünf Jahre ist das jetzt bald her. — »Bd. Voltaire« ist abgedreht. Es war ein Marathon. Am Samstag drehten wir auf dem Boulevard Voltaire. Vor dem Bataclan wurde mir ganz mulmig, ich musste tief durchatmen und schlucken. Eine belebte Straße, hell erleuchtete Wohnungen überall, trotzdem haben die Ereignisse einen geisterhaften Schrecken hinterlassen. Wie ein Stempel. Vanessa, Camille, Pauline und Alexandre liefen vor, hinter und neben uns her, während wir unseren Text improvisierten und von der Métro in Richtung Bataclan liefen. Überhaupt wurde viel improvisiert. Wir amüsierten uns über meinen Akzent und meine Wortspiele; Xavier schnitt Grimassen, die ihn aussehen ließen wie Garth aus »Wayne’s World« (Regie: Penelope Spheeris); Rudy Blanchet hatte eine lasziv-provokante Art, an seiner Unterlippe zu knabbern. Besonderen Spaß hatte ich mit Laetitia Dejardin, die unsere Immobilienmaklerin spielte. Leider war es nur ein kurzes Vergnügen, sie hatte nur einen halben Drehtag. Am Sonntag fiel die letzte Klappe, wir lagen uns erschöpft und glücklich in den Armen. Alexandre und die Mädels haben wirklich Unglaubliches geleistet! Der Dreh wurde en détail organisiert, dann in elf Tagen en bloc durchgezogen, teilweise bis in den späten Abend. Nachts sahen sich Vanessa und Alexandre noch die rushes an, damit gegebenenfalls noch Nachdrehs hätten anberaumt werden können. Oft konnten sie nur wenige Stunden schlafen, bevor sie wieder am Drehort sein mussten. Dabei waren sie von einer Ausgeglichenheit sondergleichen. Bei aller Konzentration blieb uns noch reichlich Raum für Albernheiten; wir haben sehr viel gelacht. — Während der Abschlussfeier überraschten mich meine Kopfschmerzen. Dazu kamen Schwermut, eine unbestimmte Traurigkeit. Abschiednehmen von der Figur, die ich wochenlang bei und in mir getragen habe und die mir ein guter Freund geworden war. Um mich herum rauchten (fast) alle, die Luft war so dick, dass man sie hätte filetieren können. Ein kurzer Schwatz mit Alexandre im Schlafzimmer, dann zog ich mich an. Ich hatte ohnehin das Gefühl, binnen weniger Minuten meine Sprache verloren zu haben und kein Teil mehr des Ganzen zu sein. Eine milde, sternenklare Nacht, ich spazierte müde und unglücklich nach Hause, freute mich aufs Bett. Am 2. November besuche ich Alexandre und gucke ihm beim Schneiden zu.
Jetzt genieße ich gerade meinen Abendkakao. Habe heute die Buchläden abgeklappert und nach dem Hedren-Buch Ausschau gehalten. Die Presse kapriziert sich wie erwartet sehr auf die Geschichte mit Hitchcock. Das sind wirklich old news. Ich hoffe inständig, dass das Buch mehr zu bieten hat als diese olle Kamelle. Ich wüsste zum Beispiel gerne mehr über Hedrens ersten 31 Lebensjahre, ihre Zeit in New York, ihre drei Ehen, ihre Zusammenarbeit mit Chaplin und Brando, ihre Mutterschaft, ihre humanitäre Arbeit, die Theaterstücke, die »kleinen« Filme, die sie zwischen 1968 und 1973 gemacht hat. Über die Raubkatzen hat sie ja schon ein Buch geschrieben — »The Cats of Shambala« —, und die drei kurzen Hitchcock-Jahre sind von so vielen Biographen praktisch Tag für Tag journalistisch aufgearbeitet worden. Nun denn, um Geld zu sparen, habe ich das Buch schließlich doch online bestellt. Die Buchhändler hier waren auch größtenteils nicht besonders kooperativ. Habe mir »Juste la fin du monde« gekauft, das Theaterstück von Jean-Luc Lagarce, welches von Dolan verfilmt wurde. Dann noch ein Buch für meine Duras-Sammlung sowie eines von Françoise Hardy (»Avis non autorisés…«). In den DVD- und CD-Läden fand ich eigentlich nichts, was ich jetzt unbedingt haben wollte — was mich durchaus positiv überraschte. Den neuen Verhoeven-Film mit Isabelle Huppert habe ich mir geleistet, dann eine Box mit Filmen von Tommy Weber, von dem ich zuvor noch nie gehört oder gelesen hatte, und »The Other« (Regie: Robert Mulligan). Das neue Album von Julien Doré war natürlich ein Muss. Bis ich all das genießen kann, wird noch ein wenig Wasser die Seine hinabfließen, da ich in meiner Wohnung hier leider keine Stereoanlage habe und mein Laptop nicht über ein DVD- oder CD-Laufwerk verfügt.
Über meine Abende mit Antony, Matthew und Martin sowie das köstliche Abendessen im Chez Paul und das spätabendliche Kunstgalerien-Schaufenstergucken schreibe ich vielleicht ein andermal.
Jetzt wünsche ich Euch eine gute Nacht und Happy Samhain!
André