30. Mai 2018

Einen schönen guten Morgen, Ihr geschätzten Leserinnen und Leser,
es ist wieder soweit, die Blog-Sommerpause steht vor der Tür, und ich werde mich aller Wahrscheinlichkeit erst im September wieder zu Wort melden. Zwischen meiner Arbeit, der Schule und den damit verbundenen Hausaufgaben und Klausuren habe ich augenblicklich nur wenig Zeit, und diese widme ich hauptsächlich dem alten Chelito und meiner Gesundheit. Nach vier Monaten Gesprächstherapie fahre ich nun zweimal wöchentlich nach Charlottenburg zum »Seelen-Peeling« (Psychoanalyse). Frau A. und ich bauen eine intensive Beziehung auf, ich spüre, wie sich Blockaden lösen und freue mich bei aller Anstrengung auf jeden Termin. Es war längst überfällig, die Krisen von 2010 und 2017 wären gar nicht nötig gewesen. Zumindest nicht in diesen Ausmaßen. Aber gut — wichtig ist, dass ich mich jetzt darum kümmere und dem Feind ins Auge schaue.

Ian arbeitet rund um die Uhr, um seinen Film — den ersten seit Sur les traces de ma mère — auf die Beine zu stellen. Ich halte mich zurück und mische mich nicht ein. Er soll den Weg vom ersten bis zum letzten Schritt alleine gehen, das Glücksgefühl und den Stolz genießen, der sich einstellt, wenn man einen Film zur Welt bringt. Die Finanzierung steht, das Gros der Rollen ist besetzt, aber der organisatorische Kram ist eben kein Pappenstiel. — Sowohl Alexandre als auch Antony planen neue Filme, Stéphane und Leroi wollen auch mit mir spielen, und ich weiß gerade nicht, ob und wann und wie und überhaupt. (Dank Stéphane habe ich meinen Sommer-Hit 2018 gefunden: »Speed« von Zazie: »Réveille-toi, fais pas le mort / L’univers ne s’arrête pas / Parce qu’on n’a plus voulu de toi / Allez hop ! / Tu es libre alors / Oui, libre encore…«) Ich habe Les Fantômes bislang bei 17 Festivals eingereicht; es wird nicht leicht sein, ihn zu platzieren.
Ab Juni werde ich wieder regelmäßig zum Sportstudio am Südkreuz radeln, im Juli dann auch wieder schwimmen gehen. Und ich würde mich diesen Sommer gerne mit Dita Parlo beschäftigen und endlich mal »L’Atalante« (Regie: Jean Vigo) und »La grande illusion« (Regie: Jean Renoir) schauen, die ich beide noch nicht kenne. Ja, ich beschäftige mich seit bald 30 Jahren mit Kino und werde nicht müde, Neues zu entdecken. Ein beruhigend-schöner Gedanke. — Ich hatte »Ma femme est une actrice« (Regie: Yvan Attal) in sehr guter Erinnerung gehabt. Ihn nach zehn, zwölf Jahren mal wieder zu sehen, war ernüchternd. Charlotte Gainsbourg war wundervoll, natürlich, und Yvan Attal hatte sie mit viel Liebe in Szene gesetzt, aber abgesehen von zwei, drei komischen Momenten war der Film mau. Ich habe die DVD aussortiert. Es zählt auch der kleinste abgeworfene Ballast. — »Deadpool 2« (Regie: David Leitch) hat einen extrem hohen body count, ist aber witzig und flott. Außerdem ist Zazie Beetz eine wahnsinnig sexy Domino! Den neuen Polanski muss ich noch sehen, ansonsten bin ich gerade einfach zu erschlagen von der Hitze, um mich aktiv am Leben zu beteiligen. Ich denke eigentlich nur noch an die köstliche Zitronenlimonade, die es nur in Frankreich oder Spanien zu geben scheint, aber nicht bei uns, und an die schönen Berliner Badeseen.
Tippi Hedren ist das neue Gesicht von Gucci. Was für eine Nachricht! Der Werbespot für die Gucci Timepieces and Jewelry Campaign ist stimmungs- und stilvoll. Damit ist Hedren nach Vanessa Redgrave die zweite Lady über 80, die für das Label wirbt.
Schließen möchte ich heute mit einem zum Denken anstoßenden Sibylle Berg-Artikel vom März diesen Jahres. Ich wünsche Euch einen wonnigen Sommer und grüße ganz herzlich,

André

Leben im Netz: Das große Nichts
Bericht von Sibylle Berg, Spiegel Online, 24. März 2018.

Das Netz ist toll. Es ist bequem. Bücher, Platten, unsere Daten — nichts gehört mehr uns. Und dem Hirn ging es auch schon mal besser.

Was macht es eigentlich mit dem Gehirn der Menschen, wenn ihr Dasein zunehmend virtuell stattfindet? Was macht es jenseits von philosophischen Aufsätzen, die keiner liest und der Auswertung des Ocean-Persönlichkeitstests? Wie verändert sich das Offlinedasein, wenn die Musik in Clouds und Streamingdiensten stattfindet, die Filme, die Bücher, die Freunde, die Shops, das Sozialleben aus einer Benutzeroberfläche bestehen, die vielleicht nicht real ist? Was passiert denn dann in der 1.0-Welt mit der Feuchtausstattung, die man durch den Winter tragen muss, in einer Menschengeschwindigkeit, die so langsam ist?

Im Netz ist das Leben schnell. Irgendein Spacken kommentiert irgendwas — Trumps Haare, was irgendein Star, der auch nur online existiert, sagt oder tut. Irgendein gefälschtes Video von irgendwas geht viral. Und — die Medien greifen es auf. Im Fernsehen, das man online sieht, in den Onlinezeitungen werden Twitter- und Facebookmeldungen und -filme von irgendwelchen Honks oder Bots zitiert. Irgendjemand hat etwas gepostet. Na super.

Vollkommen logisch, dass die Menschen Politik langweilig finden und lieber für abgehalfterte Reality Stars oder schlechte Komiker stimmen. Falls sie abstimmen. Denn in Ländern, wo das online passiert, sind es vielleicht Bots, die voten oder Malware aus China. Egal.

Es ist alles egal geworden, weil es immer weniger gibt, das real stattfindet, das ein anderes Gefühl herstellt, außer Gereiztheit. Die Menschen scheinen einen Hass auf ihr Dasein zu entwickeln, wenn es außerhalb des Netzes stattfindet. Demonstrationen zum Beispiel, oder in eine Partei einzutreten, Mahnwachen, Widerstand, all das Zeug ist unattraktiv, mühsam, außerhalb macht man nur noch Aktionen, wenn sie Gewalt und Hass beinhalten, damit sie im Ansatz ein Onlinegefühl erzeugen, oder man bleibt im Netz. Da kann man doch so großartig politisch arbeiten. In Troll-Fabriken aktiv werden, Videos oder Stimmen faken.

Was macht es mit dem Menschen, wenn das Gehirn fragmentiert ist, die Aufmerksamkeitsspanne nanosekundenlang, die Fähigkeit zum kreativen Denken zerstört? Was machen 2,5 Milliarden Dosen Ritalin mit dem Hirn, mit dem Gefühl — außer dass sie Depressionen fördern und auch hier wieder die Kreativität killen, weiß man noch nicht mehr. Außer dass die sechs Firmen, die das Medikament herstellen, ausgezeichnet verdient haben. Apropos. Seit jeder sich in irgendeiner Form äußert, Teil der Öffentlichkeit ist, Freunde findet, die vielleicht Bots sind, ist das Gefühl des Einzelnen, wichtig zu sein, in seltsame Größenordnungen gestiegen.

Jeder hat das Gefühl, die Welt kreise um ihn, seine Meinung ist wichtig, seine Bewertung kann Restaurants ruinieren, sein Kommentar demütigt Politiker, seine Krankheit — die einmaligste, er hat das nachgesehen, der Mensch, er kann alles, der Mensch, er hat Tutorials gesehen, Klimawechsel — schon begriffen. Cern — alles klar, Magenoperationen. Kann er selber. Komm mal her, Gertrud. Gertrud ist jetzt tot. Aber online lebt sie weiter.

Second Life war der Probelauf. Jetzt sind wir alle im Second Life, hurra. Milliarden halten sich in einer neuen Welt auf, deren Grundfunktionen sie noch weniger durchschauen als die der sogenannten Realwelt aus Lava und Atmosphäre, sie wissen schon, das Ding da draußen. Milliarden haben keine Ahnung, wie ein Rechner funktioniert, Algorithmen, wie man manipulieren kann, was manipuliert wird, sie starren auf Pixel und vertrauen. Was ja eigentlich rührend ist. Der Einzelne hat die Relation seiner Bedeutung komplett verloren, verloren das Gefühl, ein Wurm unter Milliarden zu sein.

Das macht so wütend, so wütend, dass man im Netz das Gefühl hat, alles hinge von der eigenen bescheuerten Meinung ab. Und draußen, wenn man dann rumläuft, in Zeitlupe, mit seinem frierenden Körper, da bekommt man keinen Respekt für sein wichtiges Sein. Was macht es mit dem Menschen, wenn nichts mehr anfassbar ist, alles vielleicht Fake, wird der Mensch dann selber zum Fake, der sich nur in die Realität zurückbefördern kann, in dem er sich Chips in den Cortex schießt?

Es ist doch großartig für die Demokratie, dass jeder sich jetzt Gehör verschaffen kann. Ja nun — konnte der einzelne in demokratischen Systemen auch früher. Es stand jedem frei, Leserbriefe zu schreiben, Parteiarbeit zu machen, eine Zeitung zu gründen oder Wissenschaftlerin zu werden. Es war nur einfach – anstrengender und langsamer. Und das mag keiner mehr, in der Zeit, in der jedes Bedürfnis in Sekunden erfüllt, jeder Scheiß in Sekunden rausgebrüllt werden muss.

Das Denken verkümmert, weil es zu anstrengend ist. Das Mitgefühl verdorrt, weil Erregung im Netz in Sekundenbruchteilen stattfindet. Die Frustration wächst, weil das 1.0-Leben so langsam und langweilig ist, und dann wählt man eben irgendeinen Stuss, der das Erregungslevel am Leben erhält, weil es bekannt ist und klingt wie Gepöbel im Netz, darum wählt man 5 Stelle, wegen Online-Partei, dann wartet man darauf, dass man endlich für sein Dasein gewürdigt wird.

Das fucking Netz, einmal für Armee und Wissenschaft gegründet, ist zur Leni Riefenstahl der Welt geworden. Ein Ort der Verblödung, Verhetzung, der Manipulation und der Frustration. Was dagegen hilft sind nur Aktionen im 1.0-Dasein. Angebote, die zu Bewegungen werden können, als Gegengewicht zu aus dem Netz in die Straßen verlagertem Hass. Sage ich. Ihnen online. Schreibe ich als Technikfan, als Bot, der ich bin. Abschalten, und wieder leben. Die Langsamkeit wieder lernen. Das wäre mal die erste Idee.

Filmtipp #592: Lady Macbeth

Lady Macbeth

Originaltitel: Lady Macbeth; Regie: William Oldroyd; Drehbuch: Alice Birch; Kamera: Ari Wegner; Musik: Dan Jones; Darsteller: Florence Pugh, Cosmo Jarvis, Paul Hilton, Naomi Ackie, Christopher Fairbank. GB 2016.

Nikolai Semjonowitsch Leskows 1865 erschienene Novelle »Die Lady Macbeth von Mzensk« bildete die Vorlage für dieses geradezu frostig-unterkühlte Thriller-Drama, das von William Oldroyd vom zaristischen Russland ins viktorianische England verlegt wurde. Oldroyd, Jahrgang 1979, ist eigentlich im Theater zu Hause. Am Young Vic inszenierte er Stücke von Beckett und Ibsen, bevor er 37jährig mit »Lady Macbeth« sein Filmdebüt gab.

Der alte Boris (Fairbank) hat die junge Katherine (Pugh) wie ein Stück Vieh gekauft, damit sie seinen Sohn (Hilton) heiratet und ihm einen Enkelsohn gebiert. Daraus macht er auch gar keinen Hehl. In einer der ersten Einstellungen von »Lady Macbeth« sehen wir Katherines püppchenhaft herzförmiges Gesicht hinter ihrem Brautschleier. Sie wirkt entrückt, teilnahmslos, als wohne sie der Zeremonie als unbeteiligte Zuschauerin bei. Im Laufe der Handlung wird sie immer wieder gefragt, ob ihr kalt sei. Sie verneint stets. Körperliche Kälte scheint ihr nichts auszumachen. Sie liebt das raue Klima des englischen Nordens und würde nur zu gern die ewig verschlossenen Fenster des düsteren Anwesens aufreißen, in dem sie nach ihrer Eheschließung wie eine Gefangene haust. Es ist keine Liebesheirat. Ihr Angetrauter begehrt Katherine mitnichten, pocht jedoch beständig darauf, dass sie gefälligst ihre ehelichen Pflichten zu erfüllen habe. Als er ihr am Abend ihrer Hochzeit barsch befiehlt, sich nackt auszuziehen, vergeht ihm die Lust, und Katherine wird klar, dass diese Ehe für sie zu einem seelischen Grab werden wird. Unter ständiger Kontrolle und Bevormundung leidend, sitzt das schweigsame Mädchen mit den langen, in der Mitte gescheitelten schwarzen Haaren ihre Zeit ab. Sie lebt in einem pervertierten System, in dem die Kontrolle die Maske der Sorge trägt und dadurch noch perfider wirkt. Als ihr Mann verreist, entkommt sie ihrem Hausarrest für kurze Zeit und lernt einen attraktiven Landarbeiter namens Sebastian (Jarvis) kennen. Mit ihm entdeckt Katherine zum ersten Mal die Freuden ungestümer Leidenschaft. Die Rückkehr ihres Mannes allerdings bedroht ihr Glück, und so trifft sie eine folgenschwere Entscheidung.

Patriarchale Strukturen, schneidende, glasklare Bilder, emotional verkrüppelte Charaktere: »Lady Macbeth« ist weiß Gott kein angenehmes Filmerlebnis — aber ein gelungenes. Es ist eine aseptisch-kraftvolle Studie über die Unbeugsamkeit der Macht und über die Spiralen der Gewalt. Katherines Mann, eindrucksvoll gespielt von Paul Hilton, wurde von einem Rezensenten als »ein Monster der Schwäche« bezeichnet, welches die ihm aufgezwungene Frau mit seiner Verachtung demütigt. Die Gewalt setzt sich innerhalb des Haushaltes fort. So, wie sie von Ehemann und Schwiegervater behandelt wird, springt Katherine mit Anna (Ackie), einer farbigen Dienerin, um. Auch ihre Affäre mit Sebastian ist weniger ein Akt der Befreiung als vielmehr ein Verschieben der Machtverhältnisse im Haus. Anders als die Shakespear’sche Lady Macbeth fällt Katherine nicht dem Wahnsinn anheim, sie ähnelt in ihrer kalten Methodik eher einer Psychopathin: »Ihre Morde haben Methode und sind im Rahmen der gesellschaftlichen Verhältnisse konsequent. Und genau diese tödliche Konsequenz, diese Pervertierung von Bertolt Brechts revolutionärer Einsicht ›Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht‹, macht sich Oldroyd zu eigen. Die rigiden Symmetrien der Einstellungen und die schon chirurgische Präzision der Filmschnitte, die die Gewalt auf der formalen Ebene erfahrbar macht, greifen die Mechanismen des zerstörerischen Systems auf, das ›Lady Macbeth‹ porträtiert. Die analytische Schärfe der Inszenierung und Florence Pughs Spiel, das Emotionen höchstens erahnen lässt, verleihen Oldroyds Debüt eine opake Brillanz, die einem Bewunderung abnötigt […].« (Sascha Westphal, »epd Film«)

Die karge Schönheit der Landschaft ist ein Höhepunkt des Films. Eine sich konstant verdüsternde Atmosphäre, nebelgrau und nachtschwarz, ein feiner Schleier aus Unterdrückung und Befreiung, nur scheinbar hermetisch fest in der Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts verankert. Tatsächlich gestaltet Oldroyd sein Werk so offen, dass es problemlos mit der Gegenwart kommuniziert. Die Kamera, meist starr und symmetrisch, offenbart berückend schöne Stillleben: Möbelstücke, Gemälde, Fensterrahmen sind stets perfekt arrangiert — nur eben nicht lebendig. Die Personen gehören praktisch zum Dekors, sind Traumwandler auf einer Bühne, die das Leben lediglich imitiert. Das Haus ist von außen nicht zu sehen, so dass Oldroyd Zeit und Raum in einer Art Niemandsland ansiedelt. Er vertraut der Kraft der Bilder so sehr, dass er keine Musik benötigt und auch im Dialog äußerst sparsam bleibt.

Sowohl Oldroyd als auch Pugh wurden mit Lob nur so überschüttet. Die junge Schauspielerin gehört jetzt schon zu den neuen shooting stars des britischen Kinos und wird in den kommenden Jahren noch viel von sich hören lassen. Was sie uns hier als Katherine bietet, zeugt von müheloser Brillanz. Ein Film, der auf jeden Fall einen Blick wert ist!

André Schneider