Filmtipp #668: Kap der Angst

Kap der Angst

Originaltitel: Cape Fear; Regie: Martin Scorsese; Drehbuch: Wesley Strick; Kamera: Freddie Francis; Musik: Bernard Herrmann, Elmer Bernstein; Darsteller: Robert De Niro, Nick Nolte, Jessica Lange, Juliette Lewis, Joe Don Baker. USA 1991.

Es dauerte sage und schreibe anderthalb Jahre, bis die Chefs von Amblin Entertainment Martin Scorsese überredet hatten, das Remake des Klassikers von 1962 zu inszenieren. Zuvor hatte sich Steven Spielberg für das Projekt interessiert (!), war aber glücklicherweise abgesprungen. So durfte Scorsese den Charakteren einige Dimensionen hinzufügen. Gemeinsam mit einem eindrucksvoll spielenden Ensemble — allen voran De Niro und die blutjunge Juliette Lewis —, dem Kamera-Veteranen Freddie Francis und einem Team von ehemaligen Hitchcock-Mitarbeitern (Saul Bass kreierte den Titelvorspann, Henry Bumstead war der Production Designer und Elmer Bernstein adaptierte die Musik von Bernard Herrmann — sogar dessen ungenutzten Score von Hitchcocks »Torn Curtain« (1966)) gelang dem New Yorker Regisseur ein Remake, das dem Original in Sachen Spannung und Komplexität haushoch überlegen ist. Dabei wird die Handlung an und für sich — ein Ex-Knacki will sich an seinem Pflichtverteidiger, der einst im Prozess entlastendes Beweismaterial unterschlagen hatte, rächen und belagert dessen Familie — kaum verändert, doch die Rollen sind merkwürdig vertauscht. Der »böse« Ex-Knacki, den De Niro in unnachahmlich-beängstigender Manier verkörpert, ist eigentlich im Recht, während der »gute« Anwalt (Nolte) ein rückgratloser, schleimiger Karrierist ist, der auch bereit ist, den Boden der Legalität zu verlassen. Die Familie des Anwalts ist, anders als in der 1962er Version und in den ersten Entwürfen von Spielberg, keine idyllisch-glückliche all-american family, die nach Feierabend gemeinsam vorm Kaminfeuer musiziert, sondern im Kern zerrüttet: Der Ehemann hatte (oder hat) Affären, die neurotische Ehefrau (Lange) stichelt und gängelt ihn unentwegt, die Teenie-Tochter (Lewis) rebelliert. Jetzt kommt auch noch die Gefahr von außen, der es standzuhalten gilt. De Niro bedient sich vieler Kniffe, die von psychologischer Finesse zeugen, um die angeschlagene Familie vollends zu zermürben und den Anwalt zu lehren, »was Verlust heißt«…

Scorsese geizt in seiner Hommage nicht mit Referenzen und Querverweisen. So gibt es einige wunderschön-altmodische matte paintings à la Albert Whitlock zu bewundern, welche die unheimliche Atmosphäre gekonnt unterstreichen. Robert Mitchum, Martin Balsam und Gregory Peck (in seinem letzten Leinwandauftritt), die Stars des Originals, sind in gut skizzierten Gastauftritten mit von der Partie. Das inzwischen berühmte Finale auf dem Hausboot entstand komplett im Studio (Drehzeit: vier Wochen!) und ist in sich schon ein Kabinettstückchen inszenatorischer Sorgfalt. Es gibt nur wenige Szenen eruptiver Gewalt, aber die schlagen zielsicher ein, vor allem die Szene, in welcher Robert De Niro sich an Illeana Douglas »austobt«. Kernstück des gut gealterten Streifens ist und bleibt jedoch die komplett improvisierte Szene zwischen De Niro und Lewis im Auditorium der Schule. Im Drehbuch war diese als Verfolgungsszene vorgesehen, doch die Schauspieler machten daraus eine Verführungsszene, die dermaßen verstörend ist, dass dem Zuschauer auch fast 30 Jahre später noch der Atem stockt. Beide Schauspieler wurden für ihr Spiel mit einer Oscarnominierung bedacht.
Die Drehzeit von »Cape Fear« betrug 17 Wochen (November 1990 bis März 1991). Neben den Außenaufnahmen in Georgia und Florida entstanden die Innenaufnahmen größtenteils in Shepperton Studios in London. Die Produktionskosten von rund 35 Millionen Dollar hatte der Film im Handumdrehen wieder eingespielt. Zurecht gilt er bis heute als einer der besten Thriller der Neunziger. Scorsese drehte hiernach viele Jahre lang erfolgreiche, aber letztlich belanglose Konfektionsware, und Robert De Niro gab später freimütig zu, dass dies der letzte Film gewesen war, auf den er sich ausgiebig und intensiv vorbereitet hatte; erst 2013 stand er mal wieder auf der Anwärterliste für einen Oscar.

André Schneider

22. Juli 2020

Am Samstag kam ein unerwartetes Geschenk vom lieben Mirko aus Antwerpen bei mir an: Carlo Savinas Soundtrack zu La encadenada. Den Film habe ich 2006 zum ersten Mal gesehen; es war der erste Mell-Film, den ich mir aus dem Ausland bestellt hatte. Von Anfang an fand ich, dass dies eine der schönsten Filmmusiken überhaupt war. Ich war verblüfft, dass sie niemals kommerziell ausgewertet worden, also nicht als LP oder Kassette auf den Markt gebracht worden war. Erst im Februar diesen Jahres, also bald 50 Jahre nach den Dreharbeiten, hat das Label Quartet Records die Rechte zu einigen Savina-Kompositionen erworben und sie in wirklich würdigen CD-Editionen auf den Markt gebracht. Der Soundtrack zu La encadenada ist auf 300 Exemplare limitiert und enthält einige Tracks, die es nicht in den fertigen Film geschafft haben, so auch einen Song, den Edda Dell’Orso auf Französisch singt. Dell’Orso arbeitete oft mit dem kürzlich verstorbenen Ennio Morricone zusammen; ohne ihren wunderschönen Sopran wären viele Filmmusiken nicht denkbar. Die letzten zehn Tracks der CD gehören zu einem anderen Film, »Stress« (Regie: Corrado Prisco) mit Lou Castel. Diese Musik ergänzt sich prima zu der von La encadenada. Die Tonqualität ist so gut, dass sie den Eindruck erweckt, das Album sei jetzt erst aufgenommen worden. Es ist ein Ohrenschmaus sondergleichen. Das Booklet ist reich an seltenen Filmstills und Background-Infos, welche im Falle von La encadenada leider nicht ganz korrekt sind. Das Anhören des Soundtracks machte mir Lust, den Film mal wieder zu sehen. Das letzte Mal hatte ich ihn gemeinsam mit Mirko geschaut, das ist einige Jahre her. (Ich glaube, es war anlässlich eines Geburtstages von Frau Mell.) La encadenada, der in Italien »Perversione« hieß, hat einen gewissen Zauber, welcher natürlich auch durch Savinas klavier- und streicherlastige Musik ausgelöst wird. Die Kameraarbeit von José Luis Alcaine ist im wahrsten Wortsinne traumhaft. Das Dekor, die Kostüme, die verschwurbelte Handlung — Manuel Mur Oti, »der spanische Orson Welles«, war wirklich ein Meister seines Fachs, das bewies er selbst bei einer Auftragsarbeit wie dieser; Espartaco Santoni, der damalige Lebensgefährte der Mell, hatte das Projekt als Vehikel für seine Geliebte produziert. Objektiv betrachtet ist es jedoch kein guter Film. Die Dialoge sind entsetzlich einfältig — was natürlich der dürftigen Übersetzung vom Spanischen ins Englische geschuldet sein kann —, die Handlung an und für sich kommt nicht so recht in den Tritt, weshalb des zu deutlichen Längen kommt. Dennoch bleibt der Film auch nach so vielen Jahren einer der faszinierendsten und schönsten Mell-Filme für mich. Schade, dass es damals mit Herrn Heise nicht zu einem Remake kam.
Nach Manuel Mur Oti, Álex de la Iglesia und Sergio Leone habe ich mir Tesis angeschaut. Es ist und bleibt einer der spannendsten Thriller, die je gedreht wurden. Ich vergesse das immer wieder und bin dann jedes Mal wieder überrascht und maßlos begeistert, wie gut der Film dem Zahn der Zeit trotzt. Die 1990er waren das vielleicht letzte innovative Jahrzehnt, was die Filmkunst betrifft. Sharon Stone gab in »Basic Instinct« (Regie: Paul Verhoeven) die letzte star performance in einer US-amerikanischen Produktion. Fast 30 Jahre ist das jetzt her. Autorenfilmer wie Hal Hartley gibt es nicht mehr; spontan fielen mir höchstens Tommy Weber und Antony Hickling ein, aber das sind Franzosen, und die nehmen filmisch eh eine Sonderstellung ein.
Weitere Geschenke kamen diesen Monat aus Osnabrück zu mir. Ein freundlicher Facebook-Kontakt schickte mir Filme von Jess Franco, Peter Strickland und Éric Rohmer. Rohmer hätte im März seinen 100. Geburtstag gefeiert. Grund genug, mal wieder seinen Jahreszeiten-Zyklus zu genießen. Strickland kannte ich bislang nur dem Namen nach. Seine Werke erinnern mich in ihrer Strenge und Sorgfalt an die frühen Arbeiten Greenaways. Beeindruckende Bilder, gekonntes Spiel mit Sound- und Musikeffekten, schöne Farben.

Ich vor über 40 Jahren mit Latzhose, Telefon und Ernie.

Habe wieder ausgemistet, DVDs an Momox verschickt, weil die Fahrrad-Reparatur teurer war als erwartet: 137 Euro habe ich in der Werkstatt gelassen. 2018 waren es insgesamt 230 Euro gewesen. Wenn ich alles addiere, hätte ich mir längst ein neues Fahrrad kaufen können. Aber irgendwie hängt mein Herz dran, es war immerhin ein Geschenk von Ian. Der ist mittlerweile endlich zur Kur in Wilhelmshaven und erhält rund um die Uhr Anwendungen. Ich selbst bin augenblicklich ständig bei einem Spezialisten: Proktologe, Kardiologe, Zahnarzt in rascher Folge. Nehme Blutdrucksenker und habe seither keine Kopfschmerzen mehr. Mir fehlt ein Enzym aus der Bauchspeicheldrüse, was mir im Alltag empfindliche Probleme bereitet — wir werden sehen, was die Testergebnisse bringen und uns dann überlegen, was für Lösungen es gibt. Angesichts der vielen kleinen und größeren Veränderungen, die augenblicklich anliegen, bin ich aber recht gelassen und frohgemut. Die Facharbeit schleicht voran. Langsam, aber gut. Das größte Problem stellt mal wieder die Formatierung dar; irgendwie scheint mein Laptop nicht das zu wollen, was meine Schulleitung will. Aber daran soll’s nicht scheitern.

Wie Ihr sicher gemerkt habt, bin ich zurzeit furchtbar schreibfaul. Die Nachrichten öden mich an. Corona ist längst alltägliches Geschäft geworden. Auf Facebook regt man sich über den CSD auf, der mich ohnehin nicht interessiert. Lustig allerdings, dass die Verantwortlichen sich a) dieses Jahr mit »Black Lives Matter« solidarisieren und b) Nina Queer als Moderatorin eingeladen haben. (Finde den Fehler!) Ich werde dieses Jahr nicht mehr ins Kino oder zu einem Konzert gehen. Urlaub ist finanziell eh erst 2021 wieder möglich. Ich bin schon froh, wenn ich mit meiner Mama ihren 70. Geburtstag feiern und meine Familie wiedersehen kann. Das wäre im September.

Am Freitag wird es eine Online-Lesung aus Es wird schon hell. Ein Corona-Nachtbericht geben. Nähere Infos findet Ihr hier bzw. auf Facebook. Das Buch wird weiterhin eifrig bestellt. Es würde mich nicht wundern, wenn diesen Monat noch das 100. Exemplar geordert werden würde. Danke dafür. Auch für das wohlwollende Feedback.

André

Filmtipp #667: Ariane – Liebe am Nachmittag

Ariane — Liebe am Nachmittag

Originaltitel: Love in the Afternoon; Regie: Billy Wilder; Drehbuch: Billy Wilder, I.A.L. Diamond; Kamera: William C. Mellor [William Mellor]; Musik: Franz Waxman; Darsteller: Gary Cooper, Audrey Hepburn, Maurice Chevalier, John McGiver, Van Doude. USA 1957.

Audrey Hepburn und Billy Wilder drehten in den Fünfzigern zwei Filme zusammen. Der erste, »Sabrina« (1954, mit Bogart) war ein sensationeller Erfolg gewesen, während der zweite, um den es heute gehen soll, seinerzeit zumindest in den USA ein wenig unterging. Den prüden Amis war der Ausgangsstoff, der kesse Roman »Ariane« von Claude Anet, zu schlüpfrig. In Europa indes, vor allem in Frankreich, war »Love in the Afternoon« — wie die meisten Wilder-Filme zu jener Zeit — durchaus ein Erfolg. Der Regisseur und sein Team drehten zwischen August und Dezember 1956 vor Ort an der Seine und in den Ateliers von Boulogne-Billancourt und schuf einen der wohl zartesten Paris-Filme, die nicht von einem Franzosen stammten. (Ähnliches gelang später Robert Parrish mit In the French Style.)

»Love in the Afternoon« ist das Remake eines deutschen Films: »Ariane« (Regie: Paul Czinner) war 1931 ein Vehikel für Elisabeth Bergner und Rudolf Forster gewesen. Wilder bearbeitete den Stoff ziemlich freizügig. Wo der deutsche Film melodramatisch war, setzt die US-Version auf komische Töne. Die Pointen verdankt der Streifen vornehmlich der Kontrastierung von europäischer und amerikanischer Lebensauffassung. Am Schluss des Films springt Hepburn, die personifizierte Unschuld, zu dem von Gary Cooper gespielten Playboy ohne weitere Erklärung auf den Zug auf — ein schamloses Ende, das der Zensurbehörde, die damals noch streng nach dem Hays Code fungierte, gar nicht behagte, so dass im amerikanischen Abspann noch die in Aussicht stehende Heirat der beiden erwähnt werden musste. Tja, und zur Handlung? Hepburn ist Ariane, eine Cellistin, die bei ihrem Vater (Chevalier) wohnt, einem Privatdetektiv, der seine größten Erfolge einem amerikanischen Weiberhelden (Cooper) verdankt, dessen Eskapaden mit diversen Ehefrauen zu einigen Scheidungen führten. Ariane blättert in ihrer Freizeit in den Akten ihres Vaters und ist von der sexuellen Ungezwungenheit des Filous ausgesprochen fasziniert. Und so rettet sie den Schwerenöter auch vor einem aufgebrachten Gatten (John McGiver, dem Tiffany-Angestellten aus Breakfast at Tiffany’s, in seiner ersten Filmrolle), der mit einem Revolver das Techtelmechtel seiner Frau zu beenden sucht. Es kommt, wie es kommen muss: Hepburn verliebt sich in Cooper und greift tief in die Lügen-Schublade, um sein Interesse für sie zu wecken…

Als ich den Film in den 1990ern zum ersten Mal sah, gefiel er mir nicht. Heute, über 20 Jahre später, denke ich, dass »Love in the Afternoon« einer von Billy Wilders schönsten Filmen ist — und das trotz des kolossal fehlbesetzten Hauptdarstellers. Cooper ersetzte Cary Grant, der aufgrund anderweitiger Verträge absagen musste. Cooper war beinahe 30 Jahre älter als Audrey Hepburn; nicht viel älter als Grant, aber ohne dessen Charme und Esprit. Als Salonlöwe war er schon bei Lubitsch nicht besonders überzeugend. Sehr steif, sehr streng, nicht besonders sexy. Vermutlich war dies auch der Grund, weshalb viele Zuschauer »Love in the Afternoon« nicht mochten. Trotzdem: ein herrlicher Film, der die Balance zwischen Frivolität, Witz und Romantik herrlich austariert. Audrey Hepburn ist als Ariane so umwerfend, dass man sie den ganzen Film hindurch küssen möchte. Maurice Chevalier gibt als besorgter Vater eine wunderbare Vorstellung, und das Drehbuch von Wilder und seinem Kollegen Diamond ist nahezu perfekt. Im Original kann man Louis Jourdans Stimme als Erzähler hören. In winzigen Nebenrollen sind Wilders Ehefrau Audrey, Elga Andersen, Betty Schneider sowie der Art Director Alexandre Trauner zu sehen, welcher ein ständiger Mitarbeiter Billy Wilders war; für The Apartment erhielt er 1961 sogar einen Oscar. »Love in the Afternoon« ist ein wunderschöner, leider zwischen den großen Meisterwerken wie Some Like It Hot und »Witness for the Prosecution« (1957) etwas unbekannt gebliebener Streifen des Meisters. Angucken!

André Schneider