31. März 2020

Hallo, Ihr lieben Eingesperrten!
Anfang des Monats hatte ich angekündigt, über das Burgund und den neuen Hickling-Film zu schreiben, aber dann überschlugen sich die Ereignisse — darüber brauche ich niemandem etwas erzählen, da hocken wir alle im gleichen Boot. Dass sich das Ganze noch verlängern und ausdehnen wird, ist anzunehmen. Wir können nur das Beste draus machen. Alexander Moitzi versorgt mich via WhatsApp jeden Tag mit meiner Morgenmeditation, ich höre Suzanne Vega und schaue alte Filme, lese Romane von Carson McCullers und Yasunari Kawabata, gehe mit Chelito spazieren, erledige Schulkram und arbeite momentan zwei Tage pro Woche in der Kita. Das Gros des Tages verbringe ich am Schreibtisch. Die Krise hat alte Ressourcen mobilisiert, es fließt nur so in die Finger und in die Tastatur. Mal schauen, was daraus wird. Einen Titel hat der Text noch nicht.
Ich hoffe, Ihr habt noch keinen Lagerkoller und seid alle wohlauf. Herzlichste Grüße von

André

Filmtipp #644: Blutspur im Park

Blutspur im Park

Originaltitel: Una farfalla con le ali insanguinate; Regie: Duccio Tessari; Drehbuch: Gianfranco Clerici, Duccio Tessari; Kamera: Carlo Carlini; Musik: Gianni Ferrio; Darsteller: Helmut Berger, Giancarlo Sbragia, Ida Galli [Evelyn Stewart], Silvano Tranquilli, Carole André. Italien 1971.

Die Jahre 1971 und 1972 dürften in Sachen Giallo die wohl produktivsten gewesen sein. Regisseure wie Lucio Fulci, Sergio Martino und Dario Argento reihten Film an Film, und die meisten davon sind heute noch faszinierende und spannende Kost. Duccio Tessaris »Una farfalla con le ali insanguinate«, der bei uns auch unter dem Titel »Das Messer« ausgewertet wurde, gilt gemeinhin als einer der besten Genre-Beiträge. Komplex in seiner Gestaltung und atmosphärisch dicht, kommt das Werk im Krimi-Gewand daher. Tessari borgt sich lediglich einige Giallo-Elemente; der im Regen stattfindende Mord im Park ist ein besonders auffälliges Beispiel. Das von Tessari und Gianfranco Clerici konzipierte Drehbuch ist ausgesprochen intelligent — eine Ausnahmeerscheinung in einem Genre, in welchem meist eine flamboyante Bildsprache im Zentrum steht, nicht selten auf Kosten des narrativen Zusammenhalts.
Gleich zu Beginn des Films wird Carole André in einem Park ermordet. Der Mörder wird von einigen Zeugen gesehen, kann aber durch den Regen fliehen. Einige Spuren am Tatort führen die Polizei rasch zu einem Verdächtigen: Alessandro Marchi (Sbragia), der als Journalist fürs Fernsehen tätig ist, wird inhaftiert und wartet auf seine Verhandlung. Er weiß nicht, dass seine Frau Maria (Galli) eine Affäre hat und ihn gerne loswerden möchte. Sein Verteidiger Cordaro (Günther Stoll) ist nicht der beste Vertreter seiner Zunft, und aufgrund der erdrückenden Beweislage wird Marchi verurteilt. Als jedoch weitere Morde nach ähnlichem Muster geschehen, kommen dem ermittelnden Inspektor (Tranquilli) Zweifel an der Schuld des Fernsehmannes. Marchi wird auf freien Fuß gesetzt, um bald darauf von dem unbekannten Mörder erpresst zu werden.

»Una farfalla con le ali insanguinate« ist ein rundum geglücktes Filmerlebnis. Schon die Titelgrafik in Form eines negativ ausgeschnittenen Schmetterlings, einfach und wirkungsvoll, zieht den Zuschauer in ihren Bann. Unterlegt mit Tschaikowskis berühmtem Klavierkonzert Nr. 1 in b-Moll op. 23, dessen wuchtige Opulenz uns förmlich erdrückt, entfalten die ersten Filmminuten bereits eine enorme Durchschlagskraft. Tschaikowski wird abgelöst von Gianni Ferrios ungleich sanfteren Klängen, irgendwo zwischen smooth jazz und easy listening mäandernd, sehr gialloesk und einlullend. Gedreht in Mailand und Bergamo, bietet uns »Una farfalla con le ali insanguinate« nicht die architektonischen Schauwerte Roms oder Londons, sondern ein vergleichsweise bodenständiges Setting. Tessari, der wenige Jahre später den wunderschönen L’uomo senza memoria aus der Taufe heben sollte, lockt uns subtil ins das Labyrinth des Geschehens hinein. Seine Erzählstruktur ist brillant. Die Story ist als »Blick zurück nach vorn angelegt« (Thomas Hübner) und verlangt Involvement vom Zuschauer, allein schon der zahlreichen Wendungen, die jedoch alle Hand und Fuß haben, wegen. Die Polizeiarbeit wird akribisch genau dargelegt, die Szenen vor Gericht sind von einer Beklemmung sondergleichen: der Angeklagte ist das Tau, an dem Verteidigung und Staatsanwalt von beiden Seiten ziehen. Dazwischen die Rückblenden im Stakkato. »Una farfalla con le ali insanguinate« zeugt von einer Transparenz, wie wir sie von Hitchcock kennen: der Zuschauer ist immer informiert und stets mit dabei.
Neben der schlüssig und kraftvoll aufgebauten Geschichte bietet Tessari uns hier ein Kabinettstück in Sachen Schauspielführung. Helmut Berger ist als Sympathieträger zwar fehlbesetzt, spielt aber für seine Verhältnisse ganz ordentlich. Giancarlo Sbragia ist ein starker Akteur, der während der Verhandlungsszenen wie betäubt die Tiraden der Anklage über sich ergehen lässt. Das scheinbar Teilnahmslose, das stumme Aushalten ist eine Herausforderung für einen Schauspieler: das Denken sichtbar machen ist oft anspruchsvoller als das Handeln. Silvano Tranquilli kreiert als Polizist eine dreidimensionale und glaubhafte Figur, ebenfalls ein Novum im Giallo, wo es selten echte Charaktere zu sehen gibt. Mit Wolfgang Preiss und Günther Stoll sind zwei teutonische Schauspieler mit von der Partie, die den Streifen für den deutschen Markt attraktiver machen sollten. (Ursprünglich sollte der Krimi in der BRD als Wallace-Verfilmung vermarktet werden, ein Vorhaben, dass die Verleiher schließlich verwarfen.) Ida Galli hat als weibliche Hauptdarstellerin reichlich Gelegenheit, der Kamera das zu bieten, was sie am besten kann: traurig-entrückt gucken und dabei unsere Neugier zu wecken. Was steckt hinter dieser Fassade? Was verbirgt diese Frau? Galli wäre eine hervorragende Hitchcock-Blondine gewesen: kultiviert, elegant, weltgewandt, irgendwie schroff, kühl und abweisend — bis die Schlafzimmertür ins Schloss fällt und sie sich erlaubt, den Vulkan unter dem Eis eruptieren zu lassen. Maria Marchi war mit Sicherheit eine der besten Rollen, die es in jenen Jahren für Ida Galli gab.

Zusammenfassend darf gesagt werden, dass »Una farfalla con le ali insanguinate« darstellerisch und erzählerisch beste Unterhaltung bietet. Ein leider etwas in Vergessenheit geratenes Kleinod, das sich zu entdecken lohnt. Ich durfte den kleinen Schatz 2018 bei einer Filmbörse bergen. Die Edition aus dem Hause Eyecatcher war auf 77 Exemplare limitiert; ich habe die Nummer 29.

André Schneider

Filmtipp #643: Die Liebenden – Von der Last, glücklich zu sein

Die Liebenden — Von der Last, glücklich zu sein

Originaltitel: Les bien-aimés; Regie: Christophe Honoré; Drehbuch: Christophe Honoré; Kamera: Rémy Chevrin; Musik: Alex Beaupain; Darsteller: Chiara Mastroianni, Catherine Deneuve, Ludivine Sagnier, Louis Garrel, Milos Forman. Frankreich/Tschechien/GB 2011.

Hinter einem (wieder einmal) abgrundtief idiotischen deutschen Titel verbirgt sich einer der wohl leichtesten Filme Honorés, eine musikalische Liebeskomödie, die verspielt mit Zeit und Raum hantiert und uns einige der schönsten Chansons aus der Feder Alex Beaupains präsentiert. Darüber hinaus ist »Les bien-aimés« eine filmische Verbeugung vor seinen weiblichen Stars. Die Deneuve, inzwischen eine üppige ältere Dame, agiert mit ihrer Tochter Chiara (hervorgegangen aus einer Liaison mit Marcello Mastroianni) und ist dabei so gelöst und weich wie selten. Ludivine Sagnier, eine von François Ozons bevorzugten Heroinen, darf unter Honorés Führung beides sein: Schauspielerin und Star. Die drei Damen — 1943, 1972 und 1979 geboren — werden so liebevoll in Szene gesetzt, als wären sie Carmen Maura, Victoria Abril oder Penélope Cruz in einem Almodóvar-Film. Die Männer — Louis Garrel, Regie-Fossil Milos Forman, Paul Schneider, Michel Delpech und Radivoje Bukvic — verkommen dabei allerdings nicht zur Staffage, sondern sind Dreh- und Angelpunkt des weiblichen Agierens und haben gleichsam einprägsame Auftritte. »Les bien-aimés« feierte am 22. Mai 2011 seine Weltpremiere in Cannes, wo er bei den Filmfestspielen außer Konkurrenz lief. Im August 2011 startete er regulär in den französischen Kinos und wurde als Honorés bislang schönster Film gefeiert. Als das Werk im Frühjahr 2012 Deutschland erreichte, war die Reaktion des Feuilletons eher verhalten. So sprach »Cinema« von einem »traurigen Abgesang auf die Liebe mit […] einigen Längen«, während andere Rezensenten die Eleganz des Films, die Schönheit der Songs und die Leistungen der Schauspielerinnen mit Lob bedachten. Ein großer Publikumsrenner wurde das Musical mitnichten, aber die Deutschen können sich ohnehin nur in Ausnahmefällen für das französische Kino begeistern.

Die Handlung springt zwischen 1964 und 2007, zwischen Paris, Prag, London, Montréal und Reims. Die junge Madeleine (Sagnier) jobbt als Verkäuferin in einem Schuhgeschäft und stockt ihr Taschengeld als Gelegenheits-Prostituierte auf. So lernt sie einen jungen tschechischen Arzt Jaromil Passer (Bukvic) kennen und lieben. Madeleine geht mit Jaromil nach Prag und bekommt eine Tochter, die sie Véra nennt. Als Prag von den Russen besetzt wird, flieht Madeleine alleine in Richtung Frankreich, während der notorische Fremdgänger Jaromil bei einer seiner Mätressen bleibt. Zeitsprung: 1978. Madeleine hat erneut geheiratet. Der Polizist François Gouriot (Guillaume Denaiffe) ist ihr ein guter Ehemann und ihrer Tochter Véra ein liebevoller Vater. Als sie erfährt, dass Jaromil wieder in der Stadt ist, überlegt sie, ihm zu folgen, entscheidet sich jedoch für Gouriot. 1997 lernt Véra (Mastroianni) in London einen schwulen Musiker namens Henderson (Schneider) kennen, in den sie sich verguckt und den sie nur halbwegs erfolgreich — er befriedigt sie oral — verführen kann. Begleitet wird sie von Clément (Garrel), mit dem zwar nichts läuft, der sie aber dennoch mit seiner überbordenden Eifersucht belästigt. Unterdessen betrügt ihre Mutter (jetzt von Deneuve gespielt) in Paris ihren Mann einmal mehr mit Jaromil (Forman), der diesmal mutig genug ist, ihren Mann (Delpech) zu bitten, sie mit ihm ziehen zu lassen, was dieser ablehnt. Kurz darauf wird er von einem herabstürzenden Ast am Kopf getroffen, taumelt jedoch weiter zu dem Hotel, in dem Madeleine auf ihn wartet, bevor er tot zusammenbricht. In den folgenden Jahren forciert Véra immer wieder Begegnungen mit Henderson, der inzwischen HIV-positiv ist und einen Freund (Dustin Segura Suarez) hat. Mutter und Tochter bleiben glücklos.

Alex Beaupain wurde für seine umwerfende Musik für einen César vorgeschlagen. »Les chiens ne font pas des chats« (gesungen von Sagnier und Bukvic), »Ici Londres« und »Qui aimes-tu?« (beide interpretiert von Mastroianni und Schneider) sind richtige Ohrwürmer. Zu Beginn des Films singt Sagnier als junge Madeleine »Je peux vivre sans toi«, am Schluss singt die Deneuve die melancholisch gealterte Version »Je ne peux vivre sans t’aimer«. Das Melancholische verbindet Christophe Honoré in gewohnter Manier mit dem Leichten. In all seinen Filmen geht es um die Vergänglichkeit, das Abschiednehmen, den Tod. Hier wechselt sich das Bunte mit dem Dunklen, das Schwere mit dem Leichten ab. Die mal poppigen, mal tieftraurigen Chansons unterstützen den Plot nach Kräften. Meiner Meinung nach erreicht »Les bien-aimés« nicht die Qualität seines Meisterwerkes »Les chansons d’amour« (2007), dafür fehlt dem 135-Minuten-Werk zuweilen die Kohärenz. Trotzdem ist und bleibt es ein bezauberndes Stück Kino, und schließlich hat Honoré bislang noch keinen schlechten Film gemacht.

André Schneider