Filmtipp #846: Gothic

Gothic

Originaltitel: Gothic; Regie: Ken Russell; Drehbuch: Stephen Volk; Kamera: Mike Southon; Musik: Thomas Dolby; Darsteller: Gabriel Byrne, Julian Sands, Natasha Richardson, Myriam Cyr, Timothy Spall. GB 1986.

Gothic

»Sleep is nature’s balm.« (John Keats)

Ein kleiner Halloween-Filmtipp, der sich, wie der Titel schon andeutet, mit der Entstehung eines Klassikers der englischen Literatur beschäftigt: »Frankenstein« aus der Feder Mary Shelleys. Der in England geprägte Begriff Gothic Novel bezeichnet das, was man im Deutschen schlicht Geistergeschichte nennt und hat eine lange Tradition. Ken Russell, einer der exzentrischsten britischen Regisseure, wollte die Geburtsstunde der Phantastik, ein historisches Treffen zwischen Lord Byron und Mary Shelly nebst Verlobten in der Villa Diodati am Genfer See, filmisch aufbereiten und entschied sich, dafür ein paar Genres miteinander zu verquicken: »Gothic« ist gleichzeitig ein opulent in Szene gesetztes Historiendrama, ein mit surrealen Bildern arbeitender Horrorfilm und zu guter Letzt auch ein Psychothriller, ein Liebesfilm und ein (missglückter) Kunstfilm. Passagenweise ist der Streifen inspirierend und packend, in seiner Gänze findet er jedoch zu keiner Einheit und ist in der Hauptrolle (Gabriel Byrne als Lord Byron) schmerzhaft fehlbesetzt. Als flirrend-delirierender Alptraum daherkommend und mit etlichen intellektuellen Querverweisen arbeitend, avancierte »Gothic« rasch zum Kultfilm. Russell schielte seinerzeit — in den 1980ern liefen Horrorfilme äußerst erfolgreich, vor allem auf dem Videomarkt — auf kommerziellen Erfolg und drehte eine Reihe von Genrefilmen, von denen dieser hier der am wenigsten gelungene war, was sicher auch an der holprig-assoziativen Herangehensweise lag. Nicht falsch verstehen, der Film ist beileibe kein Rohrkrepierer, sondern durchaus faszinierend. Die Symbolkraft der Bilder ist ansprechend; allein die kurze Sequenz, in der das Gemälde »Der Nachtmahr« von Johann Heinrich Füssli mit Natasha Richardson nachgestellt wird, macht »Gothic« schon sehenswert. Auch der Moment, in der sich Myriam Cyrs Brustwarzen in Augen verwandeln, ist nicht ohne surreal-erotische Wirkung. Anno 2023 hat Russells Film vor allem einen Nostalgiewert: Als Gruselfilme noch von Atmosphäre und Story lebten und nicht von albernen CGI-Effekten.

Lord Byron lebt mit seinem Leibarzt Dr. Polidori (Spall) im schweizerischen Exil am Genfer See und wird von Percy Shelley (Sands) besucht, der seine Verlobte Mary Goodwin (Richardson) und deren Halbschwester Claire (Cyr) im Schlepptau hat. Byron hat ein Verhältnis mit Claire und wird von Polidori beinahe masochistisch vergöttert. Mary kann mit Byrons dekadenter Extravaganz nichts anfangen und begegnet ihm mit Zurückhaltung. Die Egomanie und Ekelhaftigkeit Lord Byrons kapituliert lediglich vor Percy Shelley, dessen poetisches Werk er bewundert. Abends am Kamin liest man abwechselnd in einer Anthologie deutscher Gruselgeschichten und gibt sich dem Genuss von Laudanum hin, woraufhin die Idee geboren wird, doch lieber selbst Geschichten zu erfinden — und plötzlich wird vor den großen Fenstern ein Baum vom Blitz getroffen, was unheimlich tanzende Schatten an die Zimmerdecke wirft, was Byron den Gedanken äußern lässt, dass man vielleicht mithilfe eines Blitzes aus leblosen Gedanken etwas Lebendiges schaffen könnte…

»Gothic« ist gleichzeitig beunruhigend ruhig und fahrig und ähnelt in seiner Gesamtheit einer Fieberfantasie. Russell hatte an den tatsächlichen geschichtlichen Begebenheiten kein Interesse, sie dienten nur als Nährboden für sein spekulatives Werk, für das er tief in die Trickkiste filmischer Erzählweise griff: Rückprojektion, Lichtspiele, Zeitlupe, Farbfilter, verzerrende Objektive sowie unkonventionelle Kamerapositionen und -fahrten fanden ebenso Verwendung wie dramaturgische Kniffe wie echte und »unechte« Rückblenden oder Visionen, die erst später vom Zuschauer als Trugbilder identifiziert werden können. Gedreht wurde der Film übrigens nicht in der Schweiz, sondern ab Mai 1986 im englischen Hertfordshire. Aber auch das passt irgendwie zu diesem bizarren Film, in dem nichts so ist, wie es zunächst scheint. Viel Spaß beim Wiederentdecken!

André Schneider

24. Oktober 2023

»2023 soll ein Jahr werden, das ich im Einklang mit meinem eigenen Rhythmus gestalte: Möglichst ohne ein einschnürendes Korsett, ohne eine ausbremsende Angst. Ich möchte schreiben, schreiben, schreiben … und nach Möglichkeit wieder einen Schritt in Richtung Film machen.« — Dies war der letzte von fünf »Vorsätzen«, die ich im Dezember 2022 hier formuliert habe — und es ist der einzige, den ich wirklich einhalten konnte. Ich habe dieses Jahr tatsächlich reichlich schreiben können (verglichen mit den Jahren davor). Mit Le jour se lève kam am 17. Februar mein erstes französischsprachiges Buch auf den Markt, die überarbeitete Neuauflage von Die Feuerblume erschien am 20. März und nun wurde Zwei Löwen im Goldfischglas veröffentlicht. Ich übersetze weiterhin die Romane von Petr Zhgulyov, die sich gut verkaufen und mir etliche weitere Aufträge einbrachten. Andere Projekte sind in der Pipeline; ich bin gespannt, was 2024 bringen wird.

Stars_Paris

Es ist einiges passiert in diesem Jahr. Beruflich war der Arbeitgeberwechsel zum 1. Mai ein wichtiger Schritt gewesen. Ich habe weniger gebloggt, kaum Filmbesprechungen gemacht, ich war zu sehr mit mir und meinem privaten Leben beschäftigt. Familiär hat sich einiges getan. Im Oktober hatte ich, immerhin gut zwei Jahre nach Ende der Psychoanalyse, einen Nachsorgetermin bei Frau A., der noch einmal einige Prozesse in mir anstieß. Ich vermisse die Berliner Freunde, möchte Strasbourg aber um keinen Preis verlassen. Helena ist mittlerweile in der zweiten Klasse, Ian hat im September geheiratet, Antony Hickling doziert am Cours Florent. Vor drei Jahren überfiel mich dieses Gefühl, dass das Netz um mich herum sich langsam auflöst. Also bereitete ich meinen Abschied vor und ging in ein Land, in dem diese Auflösung keine Rolle spielt. Ich wollte den Absprung und den Neuanfang wagen, bevor ich mich »zu alt« fühle. Ich denke, ich habe diesbezüglich alles richtig gemacht, denn mein Gefühl hat mich nicht getrogen; das eng geknüpfte Berliner Sicherheitsnetz ist zerfleddert und Hildesheim existiert für mich nur noch als meine Geschichte, obwohl meine Schwester und ich uns näher stehen als je zuvor. London: ein anderes Leben. Bockhorn: viel zu lang her. Von den Orten der Vergangenheit ist mir Paris (nicht nur geographisch) am nächsten. Strasbourg ist meine Gegenwart und meine Zukunft. Ich bin jeden Tag dankbar für die Schönheit, die mich umgibt. Wenn ich mit dem Fahrrad durch Krutenau und Petite France fahre, die Architektur bewundere, die Beschaulichkeit einer (vermeintlich) heilen Welt mich ergreift, dann heben sich meine Lebensgeister. Ich liebe meine kleine Wohnung, in der ich mich sofort willkommen gefühlt habe, und freue mich über jede Nacht, die ich hier verbringen darf.

Strasbourg_Oktober 2023

Heute ist Nadines 41. Geburtstag. Ich habe einen Tag Verschnaufpause nach einem elendig strapaziösen Arbeitsmarathon. Ab morgen habe ich wieder vier 24-Stunden-Dienste hintereinander. Ich fühle mich ausgelaugt und spüre das langsame Ausbrennen. Ich hoffe, dass ich es trotzdem schaffe, mir den neuen Scorsese-Film anzuschauen. Habt einen schönen Tag!

André

Zwei Löwen sind dem Goldfischglas entkommen!

Frohe Neuigkeiten!
Ab sofort ist Andrés Debütroman Zwei Löwen im Goldfischglas direkt beim Verlag bestellbar. Das Taschenbuch umfasst 264 mit Liebe verfasste Seiten. In wenigen Tagen wird das Buch überall im Buchhandel, bei Thalia und bei Amazon bestellbar sein. In circa zwei Wochen ist es auch als E-Book auf allen gängigen Plattformen erhältlich. Wer zu den ersten Lesenden gehören möchte, klicke bitte hier, um die zwei Löwen zu bestellen.

Zwei Löwen im Goldfischglas_TB

Inhalt:
Paris im Frühling: Zwei Männer, die unterschiedlicher kaum sein könnten, verlieben sich auf den ersten Blick ineinander. Der eine aufregend schön, charmant, reich und faul, der andere gedankenvoll, ehrgeizig, arm und begabt.
Eine aufregende Zeit beginnt. Doch was passiert, wenn Liebe und Schmerz zu nahe beieinander liegen? Wenn anfängliche Zuneigung und Bindungslust nach und nach toxisch werden?
Über viele Jahre sollten der sich sammelnde und der sich verschwendende Mann sich im Wechsel annähern und abstoßen. Philosophen wollten sie werden — und sie sind es auch geworden. Auf ihre eigene, schmerzhafte Weise. Ein poetischer Roman über sexuelle Selbstfindung und einen langen Abschied.