Filmtipp #802: Coartada en disco rojo

Coartada en disco rojo

Originaltitel: I due volti della paura; Regie: Tulio Demicheli; Drehbuch: Pedro Mario Herrero, Mario di Nardo; Kamera: Manuel Rojas; Musik: Franco Micalizzi; Darsteller: George Hilton, Fernando Rey, Luciana Paluzzi, Anita Strindberg, Luis Dávila. Italien/Spanien 1972.
I due volti della pauraDr. Roberto Carli (Hilton) ist Chirurg und arbeitet in der Klinik, die seiner reichen Frau Elena (Paluzzi) gehört. Diese ist mit einem wachen Verstand und einem müden Herz geschlagen. In der Klinik stehen personelle Veränderungen an: Dr. Miguel Azzini (Dávila), der mit der hübschen Dr. Paola Lombardi (Strindberg) verlobt ist — beide arbeiten als Assistenten von Roberto —, möchte in ein Pflegeheim nach Mailand wechseln. Elena, die große Stücke auf Azzini hält, bittet ihn, seine Entscheidung zu überdenken. Um ihm das Bleiben schmackhaft zu machen, bietet sie ihm einen stattlichen Anteil der Klinikanteile an. Kurz darauf wird Miguel in Gegenwart eines Papageien erschossen. Ein gewisser Kommissar Nardi (Rey) tritt auf den Plan. Er ist gerade dabei, sich das Rauchen abzugewöhnen und ist deshalb reichlich neben der Spur…

»I due volti della paura«, international unter dem Titel »The Two Faces of Fear« vermarktet, wurde zwischen Juli und September 1971 als spanisch-italienische Co-Produktion in Rom gedreht und besticht 50 Jahre später vor allem durch seine exzellente Besetzung und einen der besten Scores seiner Zeit, bleibt ansonsten jedoch reichlich blut- und spannungsarm. Da hilft auch eine (etwas zu lang geratene) Szene im OP nicht, in welcher wir einer echten (!) Operation am offenen Herzen beiwohnen müssen. Ein unappetitlicher Moment, der seinerzeit als kleine Sensation (oder großer Schauwert) vermarktet wurde, dem Film als Ganzes jedoch einen Bärendienst erweist. Immerhin wird der Zuschauer mit schwelgerisch-schönen Bildern von einer in schwarzer Reizwäsche telefonierenden Anita Strindberg belohnt, und Luciana Paluzzi beweist einmal mehr, was für eine begabte Schauspielerin sie war. Fernando Rey, der es schaffte, eine sechs Jahrzehnte und 246 Film- und Fernsehrollen umspannende Karriere mit nur einem Gesichtsausdruck zu gestalten, schenkt uns als schrulliger Polizist ein paar comic reliefs. Es gibt eine Szene à la Russ Meyer, in der eine dickbusige Schönheit die Windschutzscheibe des Polizeiautos putzt, und zwei kurze, recht flott in Szene gesetzte Mordszenen, die einem Giallo durchaus Ehre erweisen. Regie-Routinier Demicheli serviert uns eine farbenfrohe, in breiten Bildern ausufernd schön gestaltete Ästhetik mit vielen Nah- und Detailaufnahmen (von Augen, Fingerkuppen, Zigaretten usw.), übergroßen Brillen und Damen in erlesener haute couture. Da vergibt man doch glatt die unoriginelle Story mit der plumpen Auflösung.
Zwar riss der am 9. März 1972 uraufgeführte Giallo seinerzeit weder in Italien noch im europäischen Ausland das Publikum vom Hocker, aber sein illustrer Cast und sein Seltenheitswert machen ihn anno 2022 zu einem erwähnenswerten Beitrag des Genres. Übrigens: Hilton, Strindberg, Rey und Paluzzi wurde in der italienischen Fassung von anderen Schauspielern nachsynchronisiert. Die 1973 entstandene englische Synchronfassung gilt als verschollen.

André Schneider

26. März 2022

Komatöser Schlaf, fast wie eine Ohnmacht. Der Alptraum in dieser Nacht ist dennoch glasklar: Ich stehe mitten auf der Stresemannstraße in Berlin, die Bushaltestelle hinter und der Potsdamer Platz vor mir, und die Autos fahren links und rechts an mir vorbei. Ich sehe einen LKW auf mich zufahren und möchte auf den Bürgersteig zurück, aber meine Füße sind wie festgeleimt, ich kann mich keinen Millimeter bewegen. Der Lastwagen kommt näher, ich kann spüren, wie er mich erfasst — und wache auf. Es ist 5:30 Uhr, ich gehe kurz ins Bad, um die Bilder abzuschütteln, aber sie begleiten mich durch den Rest des Tages.
Hinter mir liegt ein mehrtägiger Arbeitsmarathon, der mich ausgewrungen zurückließ. Die Rückenschmerzen, die mich seit Neujahr plagen, bereiten mir Kopfzerbrechen. Mein Hausarzt bestätigte meine Vermutung, dass sie Auswirkungen der Mumps-Infektion sein können. Ich müsste eigentlich zur Physiotherapie, aber daran ist zurzeit nicht zu denken, und vorm Herbst ist kein Urlaub drin. (Probezeit.) Ich halte den Rücken warm und versuche, mich so viel wie möglich zu bewegen, mehr kann ich nicht tun. Leider steht mein Fahrrad noch bei meinen Eltern in der Garage. Gerade jetzt könnte ich es gut gebrauchen, ich fühle mich seltsam eingeschränkt und immobil. Um mich herum häufen sich die Corona-Fälle; es grenzt an ein Wunder, dass es mich bislang nicht erwischt hat. Hier in Frankreich wurde schon vor Wochen alles gelockert. Es fühlt sich merkwürdig an, ohne FFP2-Maske im Kinosaal zu sitzen und im Restaurant nicht mehr nach der Impfbescheinigung gefragt zu werden. Man hat sich an das eingeschränkte Leben gewöhnt — was in gewisser Weise bedenklich ist.

Place Saint-Thomas

Place Saint-Thomas, direkt vor meiner Haustür.

Mit der Aufrüstung und den damit verbundenen Schulden hat die Ampel in Deutschland nun quasi den sozialen Kahlschlag beschlossen. Kapitalismus im Endstadium geht einher mit einer komplett entsolidarisierten Gesellschaft. Darauf haben sämtliche Regierungen seit den 1990ern hingearbeitet: Rot-Grün, Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb, nochmal Schwarz-Rot und jetzt die Ampel. In Sachen Wirtschafts- und Sozialpolitik sind CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und AfD gewissermaßen gleich. Ein neoliberaler Haufen. Die einst so starke »gesunde Mittelschicht« wurde abgebaut, bis Deutschland den größten Niedriglohnsektor Europas hatte. Doch in Zeiten, in denen jede Kritik an der Ampel-Politik als »Bashing« oder gar »Hetze« abgetan wird, ist auch darüber kein Diskurs möglich. (Den umgekehrten Fall, dass also Hetze und Bashing als »konstruktive Kritik« umbenannt werden, gibt es natürlich (besonders seitens der AfD) auch.)

Morgenfoto

Die Nachbarschaft um acht Uhr morgens.

»The Power of the Dog« (Regie: Jane Campion) ist ein ausnehmend schön gestalteter Film, der seine Kraft aus seinem unaufgeregt-ruhigen Erzählfluss zieht. Eine besonders in heutigen Zeiten mutige Entscheidung. Ein durchdringender Film fürwahr, aber längst nicht das 600-Filmpreise-Übermeisterwerk, zu dem er medial aufgeblasen wird.
Bei »The Batman« (Regie: Matt Reeves) beeindruckten mich vor allem die perfekt choreographierten Actionsequenzen und die katzenhafte Schönheit von Zoë Kravitz (ganz die Mama!). Ein Werk, das gut in unsere Zeit passt: Alles passiert im Halbdunkel, für einen ironischen Bruch oder Humor ist kein Platz, die wichtigsten Regungen finden im Dazwischen statt, in den Atempausen. Der Streifen ist ebenso politisch wie »Last Night in Soho« (Regie: Edgar Wright) und »Madres paralelas« (Regie: Pedro Almodóvar), nur weniger still.
Die subtile feministische Botschaft war das, was mir an »Last Night in Soho« am besten gefiel: Man muss vorsichtig sein, wen man glaubt, retten zu müssen. Diana Riggs letzter Auftritt, sie verabschiedet sich im Höllenfeuer mit dem Rücken zum Zuschauer. Sie gab ihrer Figur den nötigen lesbischen Touch, eine Doppelbödigkeit; ihr Spiel war ein Balanceakt zwischen Besessenheit und Hörigkeit die »andere Frau« (Thomasin McKenzie) betreffend. Die eine ist der Geist, die andere ihr Alter ego. Und dass auch noch Terence Stamp, Rita Tushingham und Margaret Nolan durch die Szenerie huschten: fast schon zu viel des Guten!
Der Plot um die vertauschte Mutterschaft in »Madres paralelas« war mir etwas zu konstruiert, etwas zu bemüht. Die Farben setzte Almodóvar hier ungewöhnlich dezent, beinahe blass ein, um Penélope Cruz jede Möglichkeit zu geben, in dieser Geschichte zu erblühen. Sie spielt mal wieder fabelhaft! Mit »Madres paralelas« setzt Almodóvar sich mit dem spanischen Faschismus auseinander, sehr reif, elegant und stilsicher. Seine Liebe zum Detail ist ungebrochen.

Kanal

Die Ill am Quai Saint-Thomas.

Vor September, Oktober werde ich keinen Urlaub bekommen, was de facto bedeutet, dass wir unseren für den Sommer angedachten Dreh auf 2023 verschieben müssen, was den Vorteil hat, dass ich genügend Zeit haben werde, das Drehbuch gewissenhaft auszuarbeiten (und abzunehmen). Zum Glück gibt es keine Deadline, keinen Zeitdruck. Habe mir im Rahmen meiner Recherchen wieder ein paar Filme von Billy Wilder angeschaut, vor allem The Apartment, der in jeder Meisterklasse als Beispiel für ein perfektes Drehbuch herangezogen wird. Hal Hartley und Woody Allen sind ebenfalls gute Lehrmeister.
Meinen diesjährigen Geburtstag feierte ich mit meinen Eltern im La Corde à Linge am Ende der Straße. Noch immer mache ich jeden Tag einen großen Spaziergang, meist am frühen Morgen, um Strasbourg zu erkunden. Vorgestern war Markus’ 18. Todestag. Abends war ich mit einem Bekannten am Place d’Austerlitz etwas trinken. Er wohnt bereits seit siebeneinhalb Jahren hier und meinte, er würde immer noch täglich etwas Neues entdecken und ständig fotografieren.

Ausblicke: Im April kommt mich Ian besuchen, wir wollen gemeinsam die Vorhänge und die letzten Regale anbringen. Im Mai dann werde ich Julien Doré im Zenith erleben. So, so viele Jahre seit dem letzten Konzert!
Bleibt gesund, achtet auf Euch! Herzlichst,

André

Filmtipp #801: The Fourth Victim

The Fourth Victim

Originaltitel: La última Señora Anderson; Regie: Eugenio Martín; Drehbuch: Vicente Coello [Vicente Colleo], Santiago Moncada, Sabatino Ciuffini; Kamera: Guglielmo Mancori [Memmo Mancori]; Musik: Piero Umiliani; Darsteller: Carroll Baker, Michael Craig, Marina Malfatti, Miranda Campa, José Luis López Vázquez [José Luis Lopez Vazquez]. Spanien/Italien 1971.

La última señora Anderson

Das Grundgerüst dieses Krimis mit sanften Giallo-Anklängen erinnert an Verhoevens De vierde man: Zu Beginn des Films muss Arthur Anderson (Craig) seine Gattin Gladys (Maria Gustaffson) ertrunken aus dem Pool fischen. Es war bereits seine dritte Ehefrau in vier Jahren — und bereits die dritte, die eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen hatte, in deren Genuss Anderson nun kommt. Sowohl die Versicherungsgesellschaft als auch Scotland Yard sind inzwischen etwas misstrauisch, und Anderson muss vor Gericht. Seine ihm hündisch ergebene Haushälterin Felicity (Campa) sagt für ihren Herrn aus — nicht alles entspricht der Wahrheit —, sodass dieser freigesprochen wird und sein sorglos-feudales Leben weiter genießen kann.
Inspektor Dunphy (José Luis López Vázquez gibt eine herrliche Vorstellung!), ein besonders gründlicher Scotland Yard-Mitarbeiter, setzt seine Ermittlungen dennoch fort, da ihm die Vita des windigen Playboys weiterhin suspekt bleibt. Anderson wird indes offensiv von einer verführerischen Amerikanerin namens Julie Spencer (Baker) umgarnt, welche eines Nachts plötzlich in dessen Swimmingpool aufgetaucht war. Nur wenige Tage später ist sie die neue Mrs. Anderson und als solche mit einer lukrativen Lebensversicherung ausgestattet…

Das finten- und wendungsreiche Skript ist bar jeder Logik und Glaubwürdigkeit. Darüber hinaus wurden Baker und Craig von Regisseur Martín nicht gerade souverän geführt, sodass sie von ihren (teilweise brillanten) Co-Stars glatt an die Wand gedrückt werden. Neben López Vásquez, Lone Fleming und Manuel Gallardo ist vor allem Marina Malfatti hervorzuheben, die wirklich große Klasse ist! Angenehm altmodisch inszeniert, ist »La última Señora Anderson« ein ruhiger und (fast) ohne Blut auskommender kleiner Krimi, der in Sachen Ausstattung und Musik einiges zu bieten hat und bis zum Schluss einwandfrei unterhält. Vor Ort in England gedreht, bietet der Streifen einiges für Auge und Ohr.

Carroll Baker, die in Europa damals etliche Filme dieser Couleur machte, hat ihren ersten Auftritt erst nach über 20 Minuten und wird schauspielerisch kaum gefordert. Dennoch gefällt sie mir in »La última Señora Anderson« um einiges besser als in dem quasi zeitgleich entstandenen »Il diavolo a sette facce« (Regie: Osvaldo Civirani, mit George Hilton und Stephen Boyd) oder den Thrillern, in denen sie unter Umberto Lenzis Regie zu sehen gewesen war. (Paranoia fand ich wirklich furchtbar!) Als vierte Mrs. Anderson bringt sie Eleganz und Chuzpe in den Film und wirkt dabei so angenehm gelöst und locker, als spielte sie eine Komödie. Eine interessante, wenn auch nicht ganz passende Entscheidung.
Eugenio Martín, Jahrgang 1925, darf auf eine facettenreiche und lange Karriere im spanischen Kino zurückblicken, in deren Verlauf er praktisch jedes Genre virtuos bediente. So drehte er ab 1955 Dokumentarfilme, bevor er Anfang der sechziger Jahre auf Abenteuerfilme, Komödien und Musicals umstieg. Natürlich entstanden unter seiner Ägide auch Western, Thriller und Horrorfilme. 1972 gelang ihm mit der spanisch-britischen Co-Produktion »Pánico en el Transiberiano« ein wahrer Kultfilm des Genres, in welchem er Telly Savalas, Christopher Lee, Peter Cushing, Helga Liné und Alberto de Mendoza zusammenführen konnte — auch heute noch ein echter Kracher!

André Schneider