Filmtipp #629: Abgeschnitten

Abgeschnitten

Originaltitel: Abgeschnitten; Regie: Christian Alvart; Drehbuch: Christian Alvart; Kamera: Jakub Bejnarowicz; Musik: Maurus Ronner, Christoph Schauer; Darsteller: Moritz Bleibtreu, Jasna Fritzi Bauer, Lars Eidinger, Fahri Yardim, Enno Hesse. Deutschland 2018.

Unser hehres Feuilleton besprach »Abgeschnitten« bestenfalls lauwarm. Kaspar Heinrich von der »Zeit« schimpfte über die »überfrachtete Story« und sah mit dem Film den »generell miesen Ruf deutscher Thriller« bestätigt, sein Kollege Philipp Schwarz vom »Spiegel« sprach von einem »seltsam blutleeren Thriller«, und Antje Wessels spuckt ohnehin Gift und Galle über (so gut wie) jeden Film, den sie sieht. Das Publikum sah die Sache etwas anders und goutierte »Abgeschnitten« durchaus; die Produktion aus dem Hause Ziegler war einer der kassenstärksten deutschen Kinobeiträge des Jahres 2018. — Vermutlich kam es mir zugute, dass ich im Vorfeld nichts über den Film gelesen hatte. Auch die Romanvorlage von Sebastian Fitzek, in Zusammenarbeit mit dem Rechtsmediziner Michael Tsokos entstanden, kannte ich nicht. Das brachte mir den Vorteil einer »unschuldigen« Unvoreingenommenheit, mit der ich dem Film begegnen konnte. Ich gebe zu, ich konnte mich gut einlassen und fühlte mich blendend unterhalten. Was ich sah, erinnerte mich an die dänische Thriller-Reihe nach den Romanen von Jussi Adler-Olsen mit Nikolaj Lie Kaas und Fares Fares in den Hauptrollen. Derer gibt es mittlerweile vier, und sie sind allesamt hervorragend konstruiert und bieten Hochspannung bis zur letzten Minute. Was will man mehr?

»Abgeschnitten« ist kein Film, der in die Tiefe geht. Die Charaktere und ihre Handlungsanlässe bleiben eindimensional. Aber komplexe Figuren waren nie Alvarts Stärke. Der Regisseur beglückte uns in der Vergangenheit mit beherzten Thriller-Versuchen wie »Antikörper« (2005) oder »Case 39« (2009, mit Renée Zellweger), die kurzweilig-hohle Spannung boten und ganz von ihrer Atmosphäre lebten. Das ist es auch, was »Abgeschnitten« ausmacht. Alvart und seinem polnischen Kameramann Bejnarowicz gelangen atemberaubende Bilder. Der Film ist ein Meisterstück in Sachen Ausleuchtung. Es ist ein dunkles Werk. Trübes Herbst- bzw. Winterwetter, Regen, Sturm, Schnee und Eis. Gruselige Innenaufnahmen in einer verwaisten Leichenhalle. Helgoland bei Nacht. Vergewaltigungs- und Folterszenen, in denen Lars Eidinger als das personifizierte Böse alle Fäden in der Hand hat. Handlungsmäßig ist — ähnlich wie bei einem guten Hitchcock — alles so engmaschig gestrickt, dass man beim ersten Anschauen gar nicht merkt, wie hanebüchen alles ist. Die Geschichte beginnt auf Helgoland. Hierhin hat sich Linda (Jasna Fritzi Bauer) zurückgezogen, um ihrem Ex zu entkommen, der sie stalkt. Ein Sturm schneidet die Insel von der Außenwelt ab. Schnitt zu Moritz Bleibtreu, der den Gerichtsmediziner Prof. Paul Herzfeld verkörpert. Dieser obduziert gerade eine Frauenleiche, in deren Kopf er eine kleine Kapsel entdeckt. Darin befindet sich ein Zettel, auf dem die Handynummer seiner Tochter (Barbara Prakopenka) steht. Er ruft an und muss entsetzt mitanhören, dass seine Tochter entführt wurde. Der Täter fordert ihn zu einer Art Schnitzeljagd heraus. Er soll auf weitere Hinweise warten. Keine Polizei. Schnitt. Wieder auf Helgoland, findet Linda am Strand die Leiche des Entführers und nimmt einen Anruf entgegen, als dessen Handy klingelt. Am anderen Ende ist Herzfeld, der sie bittet, die Leiche mithilfe des Hausmeisters der Insel-Klinik (hervorragend gespielt von Fahri Yardim) aufzuschneiden, um an den nächsten Hinweis zu kommen, der ihn zu seiner Tochter führt. Während die angewiderte und überforderte Linda sich ans Werk macht, fährt Herzfeld, begleitet von seinem tollpatschigen Praktikanten Ingolf (Enno Hesse) von Berlin Richtung Küste. Es ist ein Spiel auf Zeit, und es wird noch einige Tote geben. Und der Schlüssel zu allem liegt in Herzfelds Vergangenheit…

Nach zwei misslungenen Fitzek-Verfilmungen — »Das Kind« (Regie: Zsolt Bács) und »Das Joshua-Profil« (Regie: Jochen Alexander Freydank) — bedeutete »Abgeschnitten« einen qualitativen Quantensprung. Ein Großteil der Szenen wurde tatsächlich auf Helgoland gedreht. Mitarbeiter der dortigen Paracelsus-Nordseeklinik waren als Statisten mit von der Partie. Auch in einem Hörsaal des Universitätsklinikums Benjamin Franklin in Berlin wurde gefilmt. Einige Aufnahmen entstanden in Alt-Treptow und in Schöneweide. Die Obduktionen, die im Film zu sehen sind, entstanden unter Anleitung Michael Tsokos’ und wurden von ihm als »sehr realistisch« gelobt. Mit einer Lauflänge von mehr als zwei Stunden ist Alvarts »nordischer« Thriller recht lang geraten, und das Finale ist ihm leider ins Pseudo-Hollywoodische entglitten, aber unterm Strich ist »Abgeschnitten« ein erstklassiger Thriller, für den sich keiner der Beteiligten schämen muss, ganz im Gegenteil: man kann ihn guten Gewissens weiterempfehlen.

André Schneider

Filmtipp #628: Haie bitten zu Tisch

Haie bitten zu Tisch

Originaltitel: Estouffade à la Caraïbe; Regie: Jacques Besnard; Drehbuch: Michel Lebrun, Pierre Foucaud; Kamera: Marcel Grignon; Musik: Michel Magne; Darsteller: Frederick Stafford, Jean Seberg, Serge Gainsbourg, Maria-Rosa Rodriguez, Mario Pisu. Frankreich/Italien 1967.

Aus der Schmiede des rein kommerziell orientierten Produzenten André Hunebelle, dem die Welt unter anderem die ersten »OSS 117«-Filme zu verdanken hat, stammt dieser in grellem Eastmancolor leuchtende Actionfilm, der vor Ort in Kolumbien gedreht wurde. Frederick Stafford spielt Sam Morgan, einen international bekannten Safeknacker, der auf einer karibischen Insel einer Gruppe Partisanen hilft, den tyrannischen Präsidenten zu stürzen. Dabei tut er das, was er am besten kann und stiehlt den Staatsschatz. Ihm zur Seite steht Jean Seberg, hier besonders apart in Szene gesetzt, als eine der Führerinnen der Opposition. Ihre Figur heißt Colleen O’Hara. Bereits ihr erster Auftritt ist fulminant. Souverän entführt sie mit ihren Kumpanen den urlaubenden Sam Morgan, sediert ihn und bringt ihn auf ihre Yacht. Im Laufe der Handlung, die sich stellenweise etwas in die Länge zieht, stirbt Colleens Vater (Pisu). Das Ende ist vorhersehbar. Natürlich gelingt es dem Ex-Salongangster, den Goldschatz zu rauben. Der Diktator wird gestürzt. Colleen und Sam, in Liebe entbrannt, sehen einer gemeinsamen Zukunft entgegen. In einer Nebenrolle mit dabei: Serge Gainsbourg.

In Frankreich relativ erfolgreich, kam »Estouffade à la Caraïbe« in der damaligen BRD nicht ganz so gut an. Obwohl selbst der »Spiegel« in seiner Kritik verhältnismäßig freundlich mit dem Film umsprang: »Das legere Gebrauchskino, durch exotische Panoramen und artige Damen (Jean Seberg) verschönt, gerät zuweilen in Lebensnähe — nach geglücktem Zivilistenputsch kommt ein Offizier und meldet: ›Die Armee steht auf Ihrer Seite.‹« Besonders hervorgehoben wurden der »fashionable[n] Schnitt, gediegene Ausstattung und ein Gran Intelligenz«. Nach der Kinoauswertung verschwand der Streifen für längere Zeit in der Versenkung, um dann unter neuen Titeln — »Blutiges Gold« und »Discovery« — auf dem Videomarkt wieder aufzutauchen. Im Fernsehen ist »Estouffade à la Caraïbe« so gut wie nie zu sehen.

Stafford und Seberg drehten 1975 noch einen zweiten Film zusammen: »Bianchi cavalli d’Agosto« (Regie: Raimondo Del Balzo), ein leider etwas zäh geratenes Melodram über ein Paar in der Ehekrise. Beide Stars starben im Sommer 1979, also vor genau 40 Jahren. Stafford ließ am 28. Juli bei einem Flugzeugunglück über dem Luganer See sein Leben. Er war 51 Jahre alt, mit Marianne Hold verheiratet und Vater eines 14jährigen Sohnes. Seberg wurde Anfang September vergiftet in ihrem Wagen in einer Pariser Seitenstraße aufgefunden. Ihr Tod wurde später als »möglicher Selbstmord« gewertet, konnte aber nie ganz geklärt werden. Als Todesdatum wird meist der 30. August 1979 angegeben. Sie war 40 Jahre alt.

André Schneider

26. August 2019

Um mich gleich im Vorfeld zu entschuldigen: Dies wird ein Beitrag im Jammerton. Seit nunmehr sieben Tagen wache ich jeden Morgen mit diesem ekelhaften Gefühl auf, krank zu werden. Ihr kennt das, diesen Kloß, den man im Hals hat, ein, zwei Tage, bevor die Erkältung mit Halsweh und allem drum und dran losgeht. Bislang verzieht sich dieser vermaledeite Kloß im Laufe des Tages immer, dennoch stehe ich neben mir. Gestern wachte ich um 6:30 Uhr mit erhöhter Temperatur auf. Es wäre schön, wenn mein Körper sich endlich entscheiden würde. Am besten fürs Gesundbleiben, denn wenn ich im Augenblick eines nicht gebrauchen kann, sind es Fehltage in der Schule. Unsere Pädagogik-Dozentin galoppiert nur so durch den Unterrichtsstoff; wenn ich montags nach vier Stunden bei ihr meine Notizzettel durchgehe, kreist mir der Helm. Im Anschluss haben wir vier Stunden Theaterpädagogik. Nicht jedermanns Sache. Kann ich verstehen. Wir stellen ein Bühnenstück für Kinder zusammen, das zum Ende des Semesters in einer Einrichtung aufgeführt werden soll. (Vor Jahren habe ich mal mit dem Drehbuch zu einem Kinderfilm begonnen, »Die pupsende Glücksfee«, das man gut überarbeiten und ausbauen könnte. Vielleicht sogar zu einem Bilderbuch?) Dienstags haben wir bis November Profilunterricht. Ich wäre gern im Deeskalationskurs bei Ronny Braatz gelandet, der war aber so schnell voll, dass ich auf eine Alternative zurückgreifen musste, und so habe ich jetzt Musik bei Herrn Balgenorth. Die letzten Wochen haben wir »Gewinner« von Clueso und »Zombie« von den Cranberries einstudiert, richtig als Band mit Gitarren, Bass, Keyboard, Schlagzeug und Gesang. Das war beinahe rauschhaft schön. Für das Lernfeld 3 haben wir eine Hausaufgabe bekommen: eine Buchbesprechung. Am Donnerstag traf »Deutschland misshandelt seine Kinder« per Post bei mir ein. Über 300 Seiten über eines der widerwärtigsten Themen, die man sich vorstellen kann. Ausführliche Schilderungen von Opfern, Tätern, Rechtsmedizinern, die man nicht lesen will. In den 1980ern verprügelte mich mein Vater mit Gürteln oder einem Rohrstock. Das war zu der Zeit nicht unüblich. Heute sind die Erwachsenen auf kranke Art und Weise »kreativer«: Kinder werden skalpiert, in die Genitalien gebissen und ausgepeitscht, das Schütteln von Säuglingen ist Alltag. Abscheuliches Kopfkino, das man kaum wieder loswird.

Beunruhigendes Dauerthema der letzten Wochen sind die verheerenden Brände in Südamerika. Der Amazonas steht in Flammen. Gebiete, die so groß sind wie Mitteleuropa. Die Ausmaße können wir uns kaum vorstellen. Komischerweise hatte Bolsonaro kurz vor dem Ausbruch der Brände das Klimaschutz-Budget um satte 95% gekürzt (!), sämtliche Maßnahmen gegen Waldbrände gestrichen (!!) und alle Experten, die vor den Folgen etwaiger Brandrodungen warnten, gefeuert (!!!). Und jetzt, wo das Land brennt, stellt er sich allen Ernstes vor die Kameras und gibt den Umweltschützern die Schuld daran. Die Chuzpe muss man erst einmal haben! Zwischenzeitlich wird der Rest der Welt mit Bildern aus den Brandgebieten bombardiert, die an Grauen schwer zu übertreffen sind. Wenn ich an die unzähligen Tiere denke, die den Flammen zum Opfer fallen, dreht sich mir der Magen um. Und nicht nur Südamerika, auch Afrika brennt. Die Flammen wüten südlich der Sahara und sind mindestens ebenso brutal wie im Amazonasgebiet. Die Folgen des Ganzen sind kaum einzuschätzen, aber wir alle werden sie zu tragen haben. Der Klimawandel ist längst da. Ob er ganz, teilweise oder auch gar nicht menschengemacht ist, ist letztlich egal — oder? So oder so ist es uns gelungen, die Erde seit Beginn der Industriellen Revolution vor weniger als 270 Jahren in ein Trümmerfeld zu verwandeln. Und wir werden immer mehr. Vor 50 Jahren lebten 3,7 Milliarden Menschen auf diesem Planeten, in fünf Jahren werden wir die Acht-Milliarden-Marke geknackt haben. Die Meeresspiegel steigen unaufhaltsam, ganze Inselgruppen werden verschwinden. Der Pazifik ist dank Fukushima nördlich des Äquators vollkommen kontaminiert. Es schwirren kaum noch Insekten herum, die Vogelpopulation nimmt demzufolge auch ab. Im Mai diesen Jahres berichteten die Vereinten Nationen, dass eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht sind, also gut ein Achtel aller Arten auf dieser Welt: »Seit dem Jahr 1900 sind die Arten, die auf dem Land leben, um mindestens 20 Prozent zurückgegangen. Von den Feuchtgebieten sind bereits 85 Prozent zerstört. Mehr als 40 Prozent von Amphibienarten, mehr als 30 Prozent der Korallenriffe und mehr als ein Drittel aller Meeressäuger sind in Gefahr«, schrieb der »Deutschlandfunk«.
Wenn uns vor 20 Jahren jemand erzählt hätte, dass es bald keine Schmetterlinge oder Bienen mehr geben würde, hätten wir ihn für bekloppt gehalten. Und jetzt? Es geht alles so rasend schnell und fühlt sich, ja, wie der Anfang vom Ende an.

1996: Unschuldigere Zeiten.

But on to happier subjects! Eskapismus. Ich habe Warren Leights einzige Regiearbeit, die süße Komödie »The Night We Never Met« (1993), gesehen und war ganz begeistert von der Unschuld, die mir da präsentiert wurde. Die frühen Neunziger wirken aus heutiger Sicht wie ein Historienfilm. Die Menschen haben sich, fern aller digitalen Ablenkungen, tatsächlich angerufen oder sogar persönlich getroffen. Die Welt war schon fortschrittlich und modern, aber einen Tick langsamer, stressfreier, lebendiger. Die Menschen wirkten gelöster, irgendwie schöner. Sicher, man kann auch heute noch Nina Simone spielen, aber sie klang auf Vinyl oder Kassette anders als durch die Boxen am Computer. Eine Flugreise war vor 25 Jahren etwas Besonderes, heute zahlen die Leute für eine WLAN-freie Zeit sehr viel Geld.
Es erwartetet mich die Herausforderung, bis Freitag mit zehn Euro auszukommen. (Zum Glück habe ich vorausschauend schon genug Futter für Chelito besorgt.) Im September freue ich mich dann darauf, »Das Café am Rande der Welt« zu lesen. Das Buch von Nicholas Müller, »Ich bin mal eben wieder tot«, sollte dann auch eintreffen. Ich mag ihn als Poet und Songwriter sehr gerne. Das Album seiner neuen Band ist einfach nur schön. »Gold gegen Blei«, »Lady Angst«, »Dann sammle ich Steine« und »Mein furchtbar besoffenes Herz« sind Lieder, wie sie sonst höchstens Niels Frevert hätte schreiben können: »Wenn du mich am Rand der Welt siehst / Dann sammle ich Steine / Dann bau’ ich ein Haus, das dem Wind trotzt / Und mach’ es zu deinem.«
Schöne Woche Euch allen,

André