Filmtipp #48: Die blaue Stunde

Die blaue Stunde

Originaltitel: Die blaue Stunde; Regie: Marcel Gisler; Drehbuch: Marcel Gisler, Andreas Herder, Rudolf Nadler; Kamera: Ciro Cappellari; Musik: Paul Bley; Darsteller: Andreas Herder, Dina Leipzig, Cyrille Rey-Coquis, Anton Rattinger, Christoph Krix. Deutschland/Schweiz 1992.

Die blaue Stunde

Im Postskriptum von Aus der Umarmung des Wassers schrieb ich: »[…] für Filmemacher wie Angelina Maccarone, Christian Petzold, Martin Gypkens, Mike Marzuk, Stefan Westerwelle oder Buket Alakus würde ich mich mit den Nasenlöchern an einen Wolkenkratzer hängen, wenn sie es verlangten.« Leider habe ich in dieser Auflistung Marcel Gisler vergessen. Warum? Warum nur macht Marcel Gisler keine Filme mehr? Jeder seiner vier Filme, zwischen 1985 und 1999 entstanden, heimste Kritikerlob und (nicht gerade unwichtige) Filmpreise ein. Seine bis heute letzte Regiearbeit, »F. est un salaud« (1999), war eine kongeniale Adaption des schweizerdeutschen Kultromans »Ter Fögi isch e Souhung« von Martin Frank. Gisler schildert darin mit der ihm eigenen Genauigkeit und Ruhe die drogenumwölbte Hassliebe eines jungen Groupies zu einem Rockmusiker, die in eine Sackgasse der Agonie und Selbstzerfleischung führt. Tage-, wochenlang beschäftigte mich diese Geschichte; in gewisser Weise nahm sie mein eigenes Schicksal vorweg. (Ich sah den Film im Jahr 2000, vier Jahre später nahm sich mein Partner nach einer langen Drogenkarriere das Leben.)

»Die blaue Stunde«, 1991/92 entstanden, sah ich als Jugendlicher im Fernsehen. Er lief, wenn ich mich recht erinnere, im Rahmen einer schwulen Filmreihe auf 3sat. Ich war 14 oder 15 Jahre alt, noch einige Jahre von meinem Coming Out entfernt, und nahm mir den Film heimlich auf. Abgesehen davon, dass der von Andreas Herder gespielte Theo für Geld mit Männern schläft, ist »Die blaue Stunde« mitnichten ein Schwulenfilm. Vielmehr ist es das Portrait einer Großstadt: (West-)Berlin kurz nach der Wende. Eine ehemals halbierte Stadt in der Mauser, Presslufthammergeräusche an jeder Ecke, Durchreisende, Verkehrschaos und abgeblätterter Putz an maroden Stuckdecken — der Begriff der Gentrifizierung war noch nicht geboren —, und allerorts werden Vinylplatten gespielt, Swing-Klassiker von Charlie Parker und Chet Baker. Das Portrait einer Stadt, die sich einem immer fortwährenden Wandel unterzieht, muss zwangsläufig einen anachronistischen Touch bekommen. Heute, 20 Jahre nach seiner Entstehung, ist »Die blaue Stunde« mehr denn je in das schimmernde Gewand der Nostalgie gehüllt; Gislers Berlin, so vertraut es stellenweise auch scheint, gehört einer fernen Vergangenheit an. In meinen Augen macht dieser Umstand diesen kleinen, feinen Film, den ich über die Jahre immer wieder mit großem Interesse angeschaut habe, immer reizvoller — und darüber hinaus zu einem kulturgeschichtlich ungeheuer wichtigen Beitrag des modernen deutschen Autorenkinos.

Seiner Mutter erzählt er am Telefon, er sei Krankenpfleger. In Wahrheit arbeitet Theo als Callboy. In Magazinen schaltet er seine Annoncen. Er hat zwei Telefonanschlüsse, einen privaten und einen für seine Kunden. Das Geschäft läuft gut. Er kann sich seine Freier aussuchen, einige findet er sogar ganz nett. Sein Hauptaugenmerk liegt — neben der Bezahlung natürlich — darin, die Distanz zu wahren: seinen Körper verkauft er, sein Gefühl nicht. Er besucht seine Kunden zu Hause oder im Hotel, abends kehrt er in seine große, leere Wohnung zurück. Sein Privatleben gehört ihm allein, Freundschaften pflegt er kaum.
Die aparte Französin Marie (Leipzig) ist Theos Nachbarin. Sie arbeitet in einem Plattenladen, um sich und ihrem Freund Paul (Rey-Coquis), einem erfolglosen Autor, den Lebensunterhalt zu finanzieren. Sie geht ihrer Arbeit lustlos und ohne Interesse nach, während Paul tagein, tagaus in der gemeinsamen Wohnung faulenzt. Als es deswegen wiederholt zum Streit kommt, verlässt Paul Marie, die sich daraufhin tagelang in ihrer Wohnung einigelt. Theos Anteilnahme hilft ihr wieder auf die Beine, behutsam nähern sich Marie und Theo einander an. Eine Freundschaft blüht kurz auf, eine vorsichtige Liebesgeschichte bahnt sich an. Doch Theos Unfähigkeit zur Kontinuität verletzt Marie immer wieder, und sie zieht sich von ihm zurück. Die Tür, die sich einen Spalt geöffnet hatte, wird wieder verschlossen.
In einem Café gesteht Theo Marie (und auch sich selber): »Ich weiß, es ist ein Klischee, aber es stimmt: Man wird kühl dabei.« Er hat berufsbedingt seine Emotionen über einen so langen Zeitraum von sich abgekapselt, dass er keinen Zugang mehr zu ihnen findet. Er ist sich selbst fremd geworden. Die Enttäuschung, die er empfindet, als er erfährt, dass Paul und Marie sich wieder versöhnt haben, ist vordergründig und lediglich ein sentimentales Gefühlchen, leicht bitter und selbstmitleidig, im Kern aber unaufrichtig.

Nach »Tagediebe« (1985) und »Schlaflose Nächte« (1988), die ich leider beide nicht gesehen habe, war »Die blaue Stunde« der letzte Teil von Gislers Trilogie über die Berliner Gegenwartskultur. Das von ihm, Rudolf Nadler und Hauptdarsteller Herder entwickelte Drehbuch ist eine gründliche, brisante und niemals sentimentale Studie über die Vereinsamung in der Großstadt. Die Schauspieler wurden mit einer solchen Finesse geführt, dass sie mit ihren Figuren buchstäblich verschmelzen konnten. Andreas Herder ist als Theo verblüffend authentisch.
»A master study in character, extremely well structured and acted, the film satisfies on a broad level«, lobte die Kritikerin Rebecca Lieb in »Variety«, und der New Festival Film Guide ergänzte: »Never hysterical, judgmental or definitive, the film takes on male prostitution and gay man sleeping with women is at once precise, sexy, and insightful.«
Beim Max Ophüls Filmfestival in Saarbrücken wurden Gisler und Herder 1992  für ihre hervorragenden Leistungen geehrt.

André Schneider

24. März 2012

»In der Filmförderung wird Vetternwirtschaft betrieben!«
Interview von Michael Bauer für hitchecker.de, 24. März 2012.

Es gibt auch deutsches Kino abseits von Schweiger, Schweighöfer und Co: hitchecker.de hat mit Regisseur und Schauspieler André Schneider über die Herausforderung gesprochen, hierzulande Independent-Projekte umzusetzen.

Der zweite Anfang

Independent-Filme haben es hierzulande eher schwer. Die breite Masse der Deutschen kann sich immer nur für seichten Romantik-Klamauk mit Til Schweiger oder Matthias Schweighöfer oder die großen Hollywood-Produktionen begeistern. Woran liegt das deiner Meinung nach?

»Da gibt es viele Gründe, und über jeden einzelnen ließe sich lange reden. Einer der wichtigsten Punkte ist sicherlich der miese Ruf, den das deutsche Kino hat — zu Unrecht, wie ich finde! Und dass kaum für deutsche Filme geworben wird. Nur die wirklich großen Firmen können ihre Filme mit fetten Etats bewerben. Dreiviertel der deutschen Kinoproduktionen entdeckt man erst, wenn sie im Nachtprogramm der ARD laufen oder auf DVD veröffentlicht werden. Nachwuchs wird kaum gefördert, in der Filmförderung wird eine ungeheuerliche Vetternwirtschaft betrieben.«

Was motiviert dich dennoch, neue Projekte anzugehen?

»Ach, ich kann einfach nicht anders. Das Schreiben, das Geschichtenerzählen, das ist einfach Teil meines Lebens. Wie das Atmen. Es ginge nicht ohne. Obwohl ich mich ab und an, wenn ich müde und ausgelaugt bin, schon frage, ob ich eigentlich bescheuert bin, mich schon so viele Jahre dieser Selbstausbeutung zu unterwerfen.«

Dein aktueller Film Der zweite Anfang ist eine deutsch-französische Produktion. Gedreht wurde in Paris und Berlin mit einem bunt gemischten Team. Sind da auch mal zwei Mentalitäten aufeinander geprallt?

»Geprallt ist da gar nichts, das war alles sehr harmonisch und familiär. Wir hatten einen Riesenspaß. Jade, unsere Assistentin, ist Australierin, Niko hat amerikanisch-österreichische Wurzeln, Laurent ist Franzose, Jen aus Leipzig und ich aus Niedersachsen. Am Set sprachen wir Englisch, Französisch und Deutsch. Ich war leider der einzige, der alle drei Sprachen sprach. Wir haben den Dreh alle sehr genossen. Es gab keine Pannen, keine Verzögerungen, kein Gezanke oder Gezicke. Die unterschiedliche Herkunft hat man eigentlich nur in der Sprache gemerkt.«

Der zweite Anfang

In der Beziehung der beiden Protagonisten André und Laurent, die von dir und deinem französischen Kollegen Laurent Delpit gespielt werden, sind kulturelle Unterschiede ja durchaus ein Knackpunkt…

»Ja, das schon, aber die eigentlichen Schwierigkeiten zwischen den beiden liegen in ihren Charakteren. Natürlich sind die auch kulturell geprägt: André ist sehr deutsch-pragmatisch, Laurent sieht das Leben etwas französisch-leichter. Aber die eigentlichen Probleme liegen in ihrem Wesen. André hat für die Beziehung sehr viele Opfer gebracht: seine Heimat verlassen, eine fremde Sprache gelernt und sich ganz auf Laurent eingelassen. Dieser wiederum hielt es beispielsweise nicht für nötig, Deutsch zu lernen, so dass er nie Andrés Familie oder dessen deutsche Freunde kennen lernen konnte. Er regt sich über Andrés Steifheit auf, und André wiederum hatte über viele Jahre das Gefühl, Laurent nähme die Beziehung nicht ernst.«

Klingt nach zu viel Konfliktstoff für ein klassisches Happy-End…

»Die beiden haben durchaus viel, das sie verbindet, zum Beispiel einen ähnlichen Sinn für Humor und Selbstironie. Sie haben Spaß, sich miteinander über andere und auch sich selbst lustig zu machen. Dabei flirten sie ungehemmt miteinander. Auch in erotischer Hinsicht haben die beiden nach 13 Jahren noch Appetit aufeinander. Es ist eine besondere Verbindung, die dank der Anstrengungen beider viele Aufs und Abs überlebt hat und am Ende des Films in die nächste Runde geht. Der zweite Anfang ist ein Plädoyer dafür, dass man an seiner Liebe festhalten sollte, auch wenn man größere Schwierigkeiten überbrücken muss. Man sollte nicht voreilig sein und alles hinschmeißen. Die Liebe zwischen zwei Menschen ist eine feste Institution, die man pflegen sollte.«

Gibt es einen besonderen Grund, weshalb die Charaktere im Film eure tatsächlichen Vornamen tragen?

»Es sind zwei sehr schöne Namen, oder? Kein Autor könnte sich bessere einfallen lassen.«

Du bist Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller von Der zweite Anfang, also quasi der Schweighöfer-Schweiger des schwulen Independent-Kinos. Würdest du dem jetzt widersprechen?

»Ja, dem würde ich widersprechen. Schon deswegen, weil mich Vergleiche generell nicht so interessieren. Es gibt Dinge, von denen man sich im Laufe seines Lebens freimachen sollte. Dazu gehören Neid und auch das Bedürfnis, sich ständig mit anderen vergleichen und messen zu wollen.«

Ist der Allround-Einsatz eine reine Sparmaßnahme, um das Budget klein zu halten? Beruht er einfach nur auf purer Leidenschaft fürs Filme machen? Oder gehörst du zu den Kreativen, die ungern die Kontrolle über ihr »Baby« verlieren? Kläre uns auf!

(lacht) »Eine Sparmaßnahme ist es sicher nicht, nein. Es gibt mehrere Gründe hierfür, und ich könnte ausschweifen, ohne zu einem Ende zu kommen. Sagen wir einfach: Ich habe aus den Fehlern meiner Vergangenheit gelernt. Und natürlich liebe ich das, was ich tue, sehr. Ich arbeite gern im Team. Das Tolle an der Filmarbeit ist ja, dass so viele Leute ihre Kreativitität und ihre Ideen zusammentragen können. Daraus entsteht dann etwas, das ein Eigenleben hat. Der zweite Anfang ist genauso der Film meiner Kamerafrau Jennifer, meines Tonmannes Niko, meiner Schauspielkollegen Laurent, Marc und Hanna und der Komponisten. Natürlich habe ich das letzte Wort, aber ich sehe mich nicht allmächtig oder als Kontroll-Freak. Man muss offen für den Input der anderen sein, sonst tritt man auf der Stelle.«

Kannst du schon sagen, wann und wo Der zweite Anfang in Deutschland zu sehen sein wird?

»Nein, definitiv kann ich da noch nichts sagen. Wir sind gerade mit dem Rohschnitt fertig, es gibt bereits Festivalanfragen aus Frankreich und Spanien. Wir haben auch schon eine Liste von Festivals gemacht, bei denen wir uns bewerben werden. Aber außer der Weltpremiere auf Gran Canaria im August steht noch nichts fest.«

Stehen schon neue Projekte an?

»Ja, ich schreibe gerade Tag und Nacht an einem neuen Drehbuch und habe einen Heidenspaß dabei.«

Welchen Film hast du dir zuletzt im Kino angesehen? Wie lautet dein Urteil?

»Zuletzt habe ich vor ein paar Wochen Steve McQueens ›Shame‹ im Kino gesehen, ein sehr dichter, mutiger und tieftrauriger Film, den man möglichst nicht alleine sehen sollte.«

20. März 2012

Als ich am Mittwoch in Brüssel eintraf, begrüßte mich die erste Frühlingssonne. Mein lieber Freund Mirko aus Antwerpen, den ich zuletzt im September 2009 getroffen und der mich nun nachträglich zum Geburtstag nach Belgien eingeladen hatte, holte mich vom Bahnhof ab. Untergebracht war ich im feudalen Royal Windsor Hotel. So edel, dass ich mich mal wieder underdressed fühlte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, musste ich ein kurzes Video von meiner Suite drehen (sorry, this clip is in English so I can share it with everybody):

Julien Dorés Konzert im Ancienne Belgique war sagenhaft. Was für ein buntes Publikum — zwischen 16 und 60 dürfte jedes Alter vertreten gewesen sein, man sah kreischende Frauen um die 30 und harte Rockfans, Heteros und Homos, Anzüge und Punks, und alle hatten ihren Spaß. Julien Doré ist eine Rampensau, und was für eine! So eine Präsenz und Energie hatte noch nicht einmal der junge Robbie Williams. Ein Entertainer, der seinen Zuschauern den ganzen Abend pausenlos den Atem raubte. Die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen! Die Art, wie er tanzt! Die wilde Kraft, die da von der Bühne sprang! Ich liebe es, wie er mit seiner Androgynität spielt, mit den Geschlechterrollen jongliert, zwischen Sinnlichkeit und Witz pendelt. Serge Gainsbourg ist ja leider tot, David Bowies wilden Jahre schon lange vorbei. Julien füllt die entstandenen Lücken angemessen würdevoll aus. Ganz abgesehen davon ist er ein echter Musiker, der sein Handwerk virtuos beherrscht. Den Refrain von »Laisse avril« schrien wir alle mit: »Si tu me perds si tu vois que la berge se dérobe / Prête l’oreille et tu me devineras / Si tu te lasses si tu sens que la rive s’éloigne / Ferme les yeux et d’un seul geste m’oublieras…«, und er ließ uns minutenlang »I want to go to Winnipeg with you« mit ihm im Chor singen. An dieses Konzert werde ich mit Sicherheit noch lange zurückdenken.
     Nach einem ausgiebigen Frühstück am nächsten Morgen machten wir noch einen langen Stadtbummel; ich kaufte mir eine CD von Zazie und Pralinen für die Familie. Im Schaufenster von dotspot sah ich ein zum Schreien komisches Bild, in das ich mich so sehr verliebte, dass Mirko es mir kaufte:

Je suis un lapin...

(Die Übersetzung lautet: »Ich bin ein Kaninchen, ich bin schwul, ich liebe Kronjuwelen und… jetzt verpiss dich!«)
     Um 14:30 Uhr fuhr ich via Köln zurück nach Hause, gern wär ich noch eine Nacht geblieben, aber ich musste am Wochenende nach Berlin, um unseren Film zu schneiden. Die Festivals warten.
     Zum Abschluss des Arbeitswochenendes gönnte ich mir dann einen DVD-Abend. Blöde Idee. Ehrlich, ich war erstaunt, wie schlecht »What a Man« (Regie: Matthias Schweighöfer) tatsächlich war. Eine Komödie, die einen noch nicht einmal schmunzeln ließ. Ärgerlich. Wenn die süße Sibel Kekilli nicht so zum Verlieben gewesen wäre, hätte ich den selbstverliebt-phantasielosen Schmarren nicht durchgehalten. Und immerhin: Elyas M’Barek, Milan Peschel und Antoine Monot waren auch mit von der Partie.
     Heute ist Dienstag, Brüssel liegt schon fast wieder eine Woche zurück, aber der Frühling ist geblieben. Genießt ihn! 

André