Der wärmste Oktober seit Beginn der Wetteraufzeichnung — so hieß es neulich im Radio — ist kurz davor, sich zu verneigen. Der Vorhang schließt sich. Mein letzter Herbst in Berlin, und die Wehmut schmeißt sich mir aufdringlich an den Hals. Ein wenig Melancholie, ein wenig Furcht vor der eigenen Courage, dazwischen eine leichte Grippe, der Anflug eines Magen-Darm-Infekts, oft Kopfschmerzen und ungezählte Telefonate. Im Schreiben bin ich nachlässig geworden, habe zeitweise das Gefühl, zu verstummen. Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen hier erschrecken mich zunehmend und zeigen mir auf, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. »Eine Wohnung signalisiert dir, wenn du ausziehen musst«, sagte meine liebe Freundin Angelika vorige Woche bei einer Tasse Tee, »wenn plötzlich ständig die Glühbirnen durchbrennen oder du dich einfach nicht mehr wohl fühlst. Du wirst dann fremd, und es ist Zeit zu gehen.« — Seit Mitte August spüre ich den Abschied, bin Fremdkörper und entwickle eine scheußliche Hassliebe zu dieser Stadt. Wie gut kann ich C. verstehen — obwohl seine Geschichte eine ganz andere ist. Immerhin verbrachte er seine Kindheit und Jugend im West-Berlin der siebziger und achtziger Jahre, das war eine ganz andere Ära, vielleicht ein Stück »heile Welt«, ich weiß es nicht. Aber bereits das Berlin der 2000er scheint Lichtjahre entfernt; der kreative Schmelztiegel, die rasanten Veränderungen, das flirrende Gefühl von Bohème und immerwährender Inspiration. 2014 ist das Flair bis in seine Moleküle zerbröselt, vereinzelt wirbeln noch Staubflöckchen herum, aber die gute Zeit ist passé. Was wir jetzt noch tun können? Uns der zunehmenden Verrohung entziehen, ihr ein Schnippchen schlagen, uns einen Raum für Esprit, Ästhetik, Schönheit suchen oder schaffen. Was für ein Jahr! Ich wage es kaum noch, die Zeitung aufzuschlagen. Überall prügeln sie aufeinander ein, brüllen herum, verklagen einander, rüsten auf, sterben, töten, zerstören. Und ich stehe da wie das Kaninchen vor der Schlange und frage mich, ob überhaupt noch Liebe sein kann zwischen den Menschen? Ob sich diese Frage aposteriorisch beantworten lässt? Ich bezweifle es.
Habe mich am 9. Oktober mit dem Künstler Dries Verhoeven getroffen, der in Berlin das Opfer einer von schwulen Faschisten heraufbeschworenen Pogromstimmung geworden war. Man schrie nach Zensur und Bestrafung, rief offen zur Gewalt gegen den Künstler auf. Er hatte die Todsünde begangen, der schwulen Szene den Spiegel vorzuhalten. Daraufhin wurde er entartet: »Das ist keine Kunst!«, hieß es in einem Hetzaufruf — wie in der Zeit der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen von 1933 und der Verfolgung »entarteter« Künstler und Musiker ab 1938. Kunst ist in den Augen einer faschistischen Gruppierung nur das, was dem Konzept dient. Bei den Schwulen geht das entweder mit einer schmeichelhaften Darstellung, einer Glorifizierung oder Fetischisierung ihrer sexuellen Orientierung oder einer Zelebrierung der Opferhaltung einher. Alles andere wird geschmäht und diffamiert. Doch was ist Kunst wirklich? Kunst ist immer auch eine Spiegelung der Realität. Sie sollte zur Reflektion, zum Diskurs anregen. Sie sollte eine Aussage haben. Sie sollte hinterfragen, gern auch kritisch. Sie kann Entwicklungen aufzeigen sowie Strömungen erkennen und sichtbar machen. All das traf auf das Projekt von Dries Verhoeven zu. Natürlich lässt sich darüber streiten, wie geschmackvoll oder –los es war, ob es schlecht durchdacht oder fehlerhaft umgesetzt worden war. Aber es war Kunst! Zensur ist in einem Land, das sich zumindest auf dem Papier als Demokratie begreift, keine Option. Nie. Und doch siegte sie. Dabei ging es, wie bei einem schwulen Mob meistens, nicht um das Kunstwerk, sondern um die Vernichtung des Menschen, des Künstlers. — Dries und ich unterhielten uns in der Ankerklause. Ein besonnener, kluger Mann, dessen Geist ungebrochen war: »I refuse to be the persona non grata for them«, sagte er im Brustton der Überzeugung. Das fand ich bewundernswert. Ich glaube, an seiner Stelle hätte ich mich tage-, wochenlang nicht vor die Türe getraut aus Angst, man würde mir etwas antun. Und er war ja schließlich von einer geifernden Tunte schon physisch attackiert worden.
Den Oktober brachte ich nur mit strengster Disziplin hinter mich. Zum Glück kann ich mich dahingehend immer auf mich verlassen. Den Nebenjob erledige ich in einem Zustand, den man als eine Art »hochkonzentrierten Halbschlaf« beschreiben könnte, meine Schreibaufträge für »Séparée« und »Männer« lieferte ich gewissenhaft und termingerecht ab, und täglich schickte ich Bewerbungen raus. Nächste Woche habe ich die ersten Vorstellungsgespräche.
Bei meinem letzten Besuch in Hildesheim vor ungefähr vier Wochen — wir feierten den 64. Geburtstag meiner Mutter nach — traf ich mich zu einem gemütlichen Spätsommerspaziergang mit Frau Behrens. Zum allerersten Mal war ich im Magdalenengarten; ich wusste bis dato gar nichts von seiner Existenz, dabei liegt er gerade mal zehn Gehminuten vom Marktplatz entfernt. Was für ein herrlicher, magisch-schöner und ruhiger Ort! Ich kann es noch immer nicht fassen: Da kennt man seine Geburtsstadt seit 36 Jahren und weiß nicht einmal, was für traumschöne Fleckchen sie hat! Frau Behrens hatte ich lange nicht gesehen, bestimmt zwei Jahre nicht mehr, und ich freue mich immer wieder, dass wir in unseren Gesprächen nahtlos dort ansetzen können, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben. Es ist immer sehr kurzweilig und anregend, mit ihr zu sprechen. Wir kennen uns seit 1992, praktisch mein halbes Leben, und sie hat mich in ungezählten furchtbaren Situationen aufgefangen und gestützt.
In Berlin traf ich mich ab und an mit Freunden, die ich zum Teil lange nicht mehr gesehen hatte. Martin Freudenstein war da, wir aßen einen köstlichen Salat am Kollwitzplatz; mit Barbara verbrachte ich einen sonnigen Nachmittag am Plötzensee; Ottokar schaute zum Teetrinken vorbei; mit Daniel Aldridge und Sebastian D. hatte ich gemütliche DVD-Abende. S. war aus Göteborg noch einmal nach Berlin gekommen, um seine Wohnung aufzulösen. Bei der Gelegenheit frühstückten wir noch ein letztes Mal zusammen. Er war mit Sicherheit eine der angenehmsten Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren hier in Berlin machen durfte, ein wirklich lieber Mensch.
Darüber hinaus intensiviert sich, seit ich den Entschluss gefasst habe, Deutschland den Rücken zu kehren, mein Kontakt zur Familie. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass sie mich bei meinem Vorhaben unterstützen. Die Gespräche mit meiner Mutter waren noch nie so gut und ausführlich. Mit meiner Schwester sah ich vor zwei Wochen »Who am I — Kein System ist sicher« (Regie: Baran bo Odar) im Kino. Ein ordentlicher, gut geschriebener Thriller, eine Seltenheit aus Deutschland.
Die Pariser Premiere von One Deep Breath steht wie geplant für Ende November an, und ich kann es kaum erwarten, die Kolleginnen und Kollegen wieder zu sehen. Deed Poll und Le deuxième commencement wurden unlängst von der französischen Presse »wiederentdeckt« (siehe hier und hier), auch ein schönes Kompliment. Im Moviemento traf ich am Samstag auf Nicolas Maille, der für sein Magazin vom 9. Porn Film Festival berichtete. Auch er ist klaviersaitenstramm gespannt auf das Baby von Antony und mir.
Sie7en gibt es inzwischen auch ganz normal im Buchhandel, bei Dussmann, bei Amazon und als E-Book bei iTunes. Bislang hab ich noch kein Feedback erhalten, ich weiß nicht, ob das Buch gefällt, aber ich bin stolz, es nach langer Zeit endlich fertig zu haben.
Kommt gelassen durch die letzte Oktoberwoche.
André