Filmtipp #26: Griff aus dem Dunkel

Griff aus dem Dunkel

Originaltitel: Night Must Fall; Regie: Karel Reisz; Drehbuch: Clive Exton; Kamera: Freddie Francis; Musik: Ron Grainer; Darsteller: Albert Finney, Susan Hampshire, Mona Washbourne, Sheila Hancock, Michael Medwin. GB 1964.

Night Must Fall

Der letzte Filmtipp in diesem Jahr ist ein ganz besonderes Kleinod, einer meiner heimlichen Lieblingsfilme, den kaum einer kennt.
     Karel Reisz war einer der wichtigsten Regisseure des Free Cinema, einer englischen Variante der nouvelle vague. Er war ein Meister, wenn es darum ging, Schauspieler zu großen Leistungen zu animieren: Mit seinem ersten Langfilm »Saturday Night and Sunday Morning« (1960) sprengte er die seinerzeit geltenden Tabus und etablierte mit Albert Finney einen der (bis heute) größten Schauspieler Englands, und mit der Satire »Morgan – A Suitable Case for Treatment« (1966) entdeckte er die Theaterschauspielerin Vanessa Redgrave für den Film.
     Zwischen diesen beiden Meisterwerken drehte er 1964 »Night Must Fall«, einen leider etwas in Vergessenheit geratenen Psychothriller nach dem Theaterstück von Emlyn Williams, das 1937 bereits einmal mit Robert Montgomery verfilmt worden war. Albert Finney, der den Film zusammen mit Reisz produzierte, liefert hier eine der besten Leistungen seiner frühen Karriere ab. Zwanzig Jahre vor Ted Bundy spielt er einen »netten« Geisteskranken namens Danny, der sich in einem Dreimäderlhaus einnistet und jede der Damen geschickt um den Finger zu wickeln weiß: die alte Mrs. Bramson (Mona Washbourne) becirct er mit seiner Hilfsbereitschaft, deren Tochter (Susan Hampshire) mit seinem Charme und das Hausmädchen Dora (Sheila Hancock) mit seiner sexuellen Potenz. Die jüngeren Frauen ahnen nichts von der dunklen Seite des geltungssüchtigen jungen Mannes, der sich oft allein in seiner Dachkammer einschließt. Nur Mrs. Bramson ist mehr und mehr fasziniert von Dannys merkwürdigem Verhalten und lässt sich auf ein perverses Spiel mit der Angst ein, das sie letztlich mit dem Leben bezahlt.

Zu Beginn des Films zerhackt Finney in einem Waldstück eine Frauenleiche mit einem Beil. Den Torso versenkt er in einem Tümpel, in dem er anschließend wie ein ausgelassener Junge schwimmt. Den Kopf seines Opfers bewahrt er in einer Hutschachtel in seinem Zimmer auf. In einer der schauspielerisch aufregendsten Szenen des Films steht er vor einem Spiegel, lässt den Deckel der Hutschachtel abspringen und sagt: »Hallo.« Dabei durchzuckt die Erregung seinen ganzen Körper, seine Augen glühen förmlich.
     Danny ist von Anfang an als Mörder etabliert. Trotzdem ist er so liebenswürdig, witzig, charmant und verrückt, dass der Zuschauer »bei ihm« ist. Susan Hampshire agiert wie üblich sehr blass, und das Schicksal von Sheila Hancocks Figur interessiert einen nicht allzu sehr. Es sind die Szenen zwischen Albert Finney und der wunderbar schrulligen Mona Washbourne, die »Night Must Fall« zu einem unvergesslichen Thriller machen.

Freddie Francis, einer der besten Kameramänner der Filmgeschichte, brachte »Night Must Fall« in nüchternen Schwarzweißbildern auf die Leinwand. Der Horror, der sich hier entfaltet, braucht auch keine Farben. Er entsteht einzig durch das brillante Spiel Albert Finneys. Was für ein genialer Schauspieler! Leider drehte er viel zu wenige Filme. Unvergesslich in »Two for the Road« (Regie: Stanley Donen), »Murder on the Orient Express« (Regie: Sidney Lumet), »The Dresser« (Regie: Peter Yates), »Wolfen« (Regie: Michael Wadleigh), »Under the Volcano« (Regie: John Huston), »Big Fish« (Regie: Tim Burton) und vielen anderen.

»Night Must Fall« wurde 1964 bei der Berlinale uraufgeführt und erfuhr eine nur mäßige Resonanz. Auch an den Kinokassen herrschte Flaute. Alle paar Jahre wird er im Nachtprogramm der ARD wiederholt. Wer die Möglichkeit und starke Nerven hat, sollte sich den Film unbedingt anschauen. Stilistisch und inhaltlich erinnern spätere Filme wie »Séance on a Wet Afternoon« (Regie: Bryan Forbes, bereits hier besprochen) oder »The Night Digger« (Regie: Alastair Reid, bereits hier besprochen) übrigens sehr stark an Reisz’ Film.

André Schneider

22. November 2011

Fotosession zu »50 Words for Snow«

André (Foto: Hardy Röck)

Es ist teuflisch schwer, bei Kate Bush nicht ins Schwärmen zu geraten. »50 Words for Snow« und »Director’s Cut« sind die Alben, die mein 2011 entscheidend geprägt haben. Kate Bush ist eine wirkliche Musikerin, die so viel Licht und Wärme in die Welt trägt, dass die Ärgernisse über die Aufmerksamkeitserhaschungsversuche (über die ich hier geschrieben habe) gewisser Möchtegerns mehr als verblassen. Musik, die wirklich zählt und etwas bewegt. Bei »50 Words for Snow« hört man den Schnee förmlich fallen, man gleitet hinein in Kates Traumwelten, atmet und fühlt die Musik — wenn man sich darauf einlässt. Für einen 08/15-Popkonsumenten, der durch Madonna, Rosenstolz und Lady Gaga bereits abgestumpft ist, ist das vermutlich nicht immer leicht. Aber man sollte es wagen. Man wird so reich belohnt! Kate Bush war, ist und bleibt eine der wenigen Ausnahmekünstlerinnen, die wirklich die eigene Kreativität stimulieren. Was für inspirierende Klanggemälde sie mal wieder geschaffen hat! Ich erinnere mich an die langen Pausen während des Half Past Ten-Drehs, in denen Kerstin Linnartz und ich »Aerial« hörten. Oder an die Autofahrten mit »Hounds of Love« und »The Kick Inside«. In vielerlei Hinsicht ist »50 Words for Snow« das genaue Gegenteil zu dem luftig-leichten und sommerlich-warmen »Aerial«: melancholisch, dunkel, winterlich, aber nicht weniger schön als sein Vorgänger.

André (Foto: Hardy Röck)

Während wir Kates Musik lauschten, machten Hardy Röck und ich eine kleine Fotosession, bei der man »50 Words for Snow« hoffentlich auch sehen konnte. Hier einige Resultate.

André (Foto: Hardy Röck)

André hört 50 Words for Snow

Ein vorwinterlicher Gruß, seid musikalisch umarmt und kauft Euch das Album.

André

Filmtipp #24 & #25: Before Sunrise & Before Sunset

Before Sunrise

Originaltitel: Before Sunrise; Regie: Richard Linklater; Drehbuch: Richard Linklater, Kim Krizan; Kamera: Lee Daniel; Musik: Fred Frith; Darsteller: Ethan Hawke, Julie Delpy, Andrea Eckert, Hanno Pöschl, Erni Mangold. USA/Österreich 1995.

Before Sunrise

Before Sunset

Originaltitel: Before Sunset; Regie: Richard Linklater; Drehbuch: Richard Linklater, Julie Delpy, Ethan Hawke, Kim Krizan; Kamera: Lee Daniel; Musik: Igor Kipnis; Darsteller: Julie Delpy, Ethan Hawke, Vernon Dobtcheff, Albert Delpy, Marie Pillet. USA 2004.

Before Sunset

Leider kann man nicht viel über Richard Linklaters »Before Sunrise« und »Before Sunset« schreiben. Die beiden Filme sind, besonders im Doppelpack, einfach nur wunderschön und sprechen für sich.
     Ein Amerikaner und eine Französin treffen sich in einem Zug nach Wien und verbringen dort einen Abend, eine Nacht miteinander, reden, nähern sich einander an, verlieben und verabschieden sich. Das war 1995. Ein ungewöhnliches Kino-Ereignis. Kaum jemand hat den Film im Kino gesehen, aber die, die ihn sahen, sahen ihn immer wieder. Man war verliebt in Wien, in Julie Delpy/Celine oder in Ethan Hawke/Jesse — ich war damals nicht weniger verwirrt als heute und verliebte mich in die beiden als Pärchen —, in die Romantik. »Before Sunrise« ist bis heute einer der französischsten unter den US-amerikanischen Filmen geblieben. Brillante Dialoge, die sich so echt und gelebt anfühlen, dass man als Zuschauer glaubt, live dabei zu sein. Und Wien sah in der Tat nie so schön aus. Das offene Ende — werden sie sich wieder sehen? — gehört mittlerweile zu den berühmtesten der Filmgeschichte und lud zu den irrwitzigsten Phantasien und Träumen ein, die ich damals meiner Klassenkameradin Conny, die den Film ebenfalls liebte, auf kleinen Zettelchen mitteilte. »Before Sunrise« war Romantik pur, aber unverkitscht. Zartschmelzend herb, nicht bitter. Weich im Abgang. Vor allem aber beschäftigte er — mit Unterbrechungen — das kleine Romantikerherz noch einige Jahre.

Gut zehn Jahre später wurde das offene Ende mit der Fortsetzung »Before Sunset« zunichte gemacht, die Fragen wurden beantwortet — und es wurden neue gestellt. Das gleiche Konzept funktionierte gottlob auch zeitverzögert: Das Paar trifft sich in Paris zufällig wieder, zehn Jahre liegen dazwischen, und es funkt erneut. Jesse — verheiratet und Papa — hat ein Buch über die gemeinsame Nacht in Wien geschrieben, Celine — unverheiratet, aber in festen Händen — kommt zu seiner Lesung bei Shakespeare & Company. Sie schlendern an der Seine entlang, sprechen über ihr Leben, die verpassten Chancen, darüber, wer sie mal waren, wie sie heute sind. Für das Herzweichmacherdrehbuch gab’s verdientermaßen eine Oscarnominierung. (Inzwischen bin ich zwar immer noch verwirrt, aber verliebt hab ich mich in Julie Delpy, bei Ethan ist der Schmelz ab.)

Zwei Filme, die man als double feature und unbedingt in der englischen Originalfassung genießen sollte. Und hinterher eine Nina-Simone-Platte auflegen. Zu Weihnachten genau richtig. Ein gewisses Maß an Tiefgang und Philosophie, federleicht serviert. Dabei gibt es komische und melancholische Momente, der Anfangszauber einer aufkeimenden, noch zart unterdrückten Liebe streift die Sinne, Julie ist zuckersüß, Ethan keck-charmant, die Morgendämmerung in Wien, die Abenddämmerung in Paris, die Donau, die Seine, die Cafés, der Buchladen in Paris, der Dichter in Wien, die Kopfsteinpflasterstrassen…
     Natürlich ist die Dialoglastigkeit nichts für jeden. Ein Bekannter von mir fand die Filme langweilig: »Da passiert ja gar nichts.«
     Ich: »Stimmt eigentlich. Trotzdem passiert eigentlich viel. Wie ist es denn, wenn man sich verliebt?«
     Er: »Die labern ja nur.«
     Ich: »Ja, sicher. Aber Sprache ist doch das Schönste, was es gibt. Neben der Musik.«
     Er: »Da ging’s doch um nichts!«
     Ich schweige und überlege. Dann füge ich hinzu: »…und doch ging’s um alles.«

André Schneider