Filmtipp #20: An einem trüben Nachmittag

Obwohl ihre Karriere nur knapp 15 Jahre dauerte, sie nur in einem Dutzend Stücken und vier Spielfilmen auftrat, gilt sie als die größte amerikanische Schauspielerin des 20. Jahrhunderts. Ihr Name wird in einem Atemzug mit Marlon Brando genannt. Sie war rebellisch, neurotisch und  (wenn sie wollte) bildschön. Sie gab sich geheimnisvoll und streute die wildesten Gerüchte über sich, ihre Herkunft, ihre Familie. Die einzige Liebschaft, der sie wirklich treu war, war die Schauspielerei. Fünf Jahre nach ihrem Tod im August 2001 erschien die sorgfältig recherchierte Biographie von Jon Krampner. (Lediglich ein paar kleine Fehler sind ihm unterlaufen, aber das kann man bei der Vielzahl von Mysterien, die diese Frau über sich selbst verbreitet hatte, kaum verargen.)
     Noch 40 Jahre nach ihrem letzten Auftritt auf einer amerikanischen Bühne schwärmte Frank Langella: »If I could go back in time, I would ask to go to the theatre where Kim Stanley is playing in ›A Far Country‹, so I can hear her say, ›I can’t move my legs‹. I’d go back to see her in ›Cheri‹ where she puts a string of pearls on Horst Buchholz’s neck saying, ›This is going to be the last great moment of my life.‹ […] I would go to see her again in ›The Three Sisters‹ just to hear her say, ›I love, I love Vershinin!‹«

Kim erzählte gern, sie käme aus Texas und hätte Psychologie studiert. Sie stammte aus New Mexico und hatte Schauspiel studiert, bevor sie 1946 im Alter von 21 Jahren nach New York kam. Mühsam ihr Weg von der Zweitbesetzung für eine Nebenrolle am Off-Off-Broadway bis zur Leading Lady in William Inges »Bus Stop« (1955). Zwischenzeitlich hielt sie sich als Fotomodell und Cocktailkellnerin über Wasser, nahm mit Marlon Brando, Monty Clift, Julie Harris und Eva Marie Saint Unterricht am Strasberg Institute und absolvierte erste Fernsehauftritte. Damals gab es noch Live-TV. Eine Fernsehsendung wurde wie ein Theaterstück geprobt und dann live vor vier bis sechs Kameras in einem Rutsch durchgespielt, wie eine Radioshow. Daher gibt es aus der damaligen Zeit so gut wie keine Aufzeichnungen. Die wenigen, die sich noch daran erinnern — Kim spielte in etwa 30 Fernsehshows —, preisen Kim als die First Lady of Live Television.
     Sie spielte in drei Inge-Stücken, das letzte war »Natural Affection« (1963). Eugene O’Neills »A Touch of the Poet« (1958) wurde für sie geschrieben, sie spielte die Uraufführung mit Helen Hayes und Eric Portman und erhielt dafür eine Tony-Nominierung. Liz Taylor kam nach einer Londoner Aufführung von »Cat on a Hot Tin Roof« zu ihr und bat sie, einiges von ihrer Interpretation für die Filmversion übernehmen zu dürfen. Kim, geschmeichelt, sagte: »Natürlich!« Bereits 1955 hatte Marilyn Monroe bei den »Bus Stop«-Vorstellungen mit Notizblock und Bleistift in der ersten Reihe gesessen und Kims Spiel für die anstehende Verfilmung studiert.
     Ihr erster Film »The Goddess« (Regie: John Cromwell) wäre fast ihr letzter geworden. Sie hasste das Filmemachen generell und Hollywood speziell. Sie weigerte sich, ihren vertraglichen Verpflichtungen die Promotion betreffend nachzukommen und verließ sogar das Land, als der Film Premiere hatte. Auch später äußerte sie sich verächtlich über den Film, der ihr glänzende Kritiken eingebracht hatte. Erst sechs Jahre später stand sie wieder vor einer Kamera, diesmal in England und unter der Regie eines Ex-Schauspielers: »Séance on a Wet Afternoon« (1964) wurde zu einer weitaus glücklicheren Erfahrung für Kim — obwohl sie sich das Endergebnis nie ansah. Ihre Preise, Auszeichnungen und Nominierungen für diese Arbeit: Oscarnominierung, BAFTA-Nominierung, Laurel Award, National Board of Review Award, New York Film Critics Circle Award, Preis beim Filmfestival von San Sebastián. Dass sie zu Preisverleihungen und Ehrungen nicht erschien, war für sie damals schon typisch. Ihren ersten Emmy für ihre Gastrolle in der TV-Serie »Ben Casey« hatte sie im Vorjahr ebenfalls nicht angenommen, ihr Theatre World Award für »The Chase« musste ihr ebenfalls per Post zugestellt werden. Zwei Male war sie für einen Tony nominiert, beide Male bekam eine andere den Preis.
     Zwischen 1946 und 1967 war Kim viermal verheiratet. Ihre erste Ehe hielt kaum ein Jahr, die letzte nicht ganz drei. Kim liebte Ehen, Kinder — und Theaterstücke während der Proben und ersten Aufführungen, aber sie besaß kein Durchhaltevermögen. Am Broadway stand sie längere Spielzeiten nicht durch, meist ließ sie sich nach wenigen Wochen krankschreiben. Ihren Kindern versuchte sie eine gute Mutter zu sein, ein Freund drückte es höflich so aus: »She wasn’t cut out for motherhood.« Ihr Sohn Jamie war nicht der Sohn ihres Ehemanns Curt Conway, sondern der von Brooks Clift (Bruder von Montgomery), ihre zweite Tocher Rachel war auch nicht von ihm, sondern von seinem Nachfolger Alfred Ryder. Auch während ihrer Ehen nahm Kim sich alle Freiheiten, die eigentlich Männern zugeschrieben werden.
     1964 trat sie ein letztes Mal am Broadway auf, in Lee Strasbergs Inszenierung von Tschechows »The Three Sisters«. Zum ersten Mal an der Seite ihrer besten Freundin Geraldine Page spielte Kim Tschechows Masha mit der ihr typischen Intensität und Kraft. Ihre psychische Instabilität und ihr Alkoholismus machten die Arbeit für sie und ihre Kollegen fast unerträglich. Sie war nicht mehr in der Lage, mit anderen zu interagieren, das Stück wurde zu einer one- woman show für Kim. Nach 119 Aufführungen wurde das Stück abgesetzt.
     Die Londoner Aufführungen der Inszenierung, Anfang 1965, gerieten zum Fiasko. Nach dieser Erfahrung schwor sich Kim, nie wieder eine Bühne zu betreten. (Obwohl ihre Kritiken wie immer sehr gut waren.) Ein Schwur, den sie bis zu ihrem Tode 36 Jahre später nicht brach. Nach einem Nervenzusammenbruch wurde sie Ende 1965 in eine Anstalt eingewiesen, ihre vierte Ehe wurde kurz darauf geschieden, ihr Alkoholismus machte sie beruflich unvermittelbar: Sie ließ Drehtermine platzen, sagte Bühnenproduktionen kurz vor Probenbeginn ab oder erschien nicht zu den Vorpremieren. Zwischen 1968 und 1971 trat sie noch in sechs marginalen TV-Produktionen auf, dann begann ihre selbstzerstörerische Odyssee durch die Vereinigten Staaten. Selbst ihre Kinder — zu jener Zeit im Teenageralter — wussten oft monatelang nicht, wo sie sich aufhielt, dann stand sie plötzlich vor der Tür, blieb ein paar Tage, verschwand wieder. Sporadisch gab sie Schauspielunterricht an der Universität von New Mexico, später auch am Lee Strasberg Institute, doch immer wieder gab es Zusammenbrüche und lange Suffperioden. Selbst ihr Biograph Jon Krampner, der jahrelang recherchierte und zahlreiche Interviews führte, weiß über die Zeit bis 1982 nur wenig zu berichten.
     1981 schaffte es der Regisseur Graeme Clifford, Kim in New Mexico aufzustöbern und sie zu ihrem ersten Film seit 17 Jahren zu überreden: »Frances« (1982) brachte ihr Nominierungen für Golden Globe und Oscar und zog ein grandioses Presse-Echo und ein kleines Comeback nach sich. Bis 1984 trat sie noch in einem weiteren Kinofilm (Phil Kaufmanns Astronautenfilm »The Right Stuff« (1983), in dem sie nur etwa drei Minuten zu sehen ist) sowie drei TV-Produktionen auf. Für ihren Abschied von der Schauspielerei wählte Kim die Fernsehverfilmung eines Stückes aus, mit dem sie 1957 im West End Triumphe feierte: »Cat on a Hot Tin Roof« (Regie: Jack Hofsiss). Diesmal spielte ihre Schülerin Jessica Lange (die bis heute nicht begriffen hat, dass Stanislawskis Methode kein Stil, sondern eine Technik ist) die Maggie, Kim gab ihre Abschiedsvorstellung als Big Mama. Der Lohn: Ihr zweiter Emmy (den sie wieder nicht in Empfang nahm). Grandios die Szene, in der sie erfährt, dass ihr Mann sterben wird. Der Arzt teilt ihr die Diagnose mit. Ihr Gesicht vereist. Zuerst ganz leise, dann immer lauter, fassungsloser werdend, schreit sie: »Cancer? Cancer?«
     Die folgenden Jahre bis zu ihrem Tod hagelte es Ehrungen, an denen sie nicht teilnahm, und Angebote, die sie nicht annahm. Gelegentlich gab sie Privatunterricht, nach 1988 verließ sie jahrelang nicht das Haus. Noch bis 1994 lebte sie in Los Angeles, dann zog sie zurück nach New Mexico, wo ihr Bruder lebte. Sie starb im Alter von 76 Jahren an Gebärmutterkrebs. Ihre Alkoholsucht hatte sie einige Jahre zuvor besiegt, ihre Dämonen leider nicht.Oder, wie Rex Reed es formulierte: »She fell victim to her talent.«
     Lesenswert: »Female Brando« von Jon Krampner. Wer Lust hat, kann sich auf YouTube »A Cardinal Act of Mercy« (Regie: Sydney Pollack) anschauen, ihre preisgekrönte »Ben Casey«-Doppelfolge. Einige ihrer Fernseharbeiten gibt es in den USA auch auf DVD, zum Beispiel »I Can’t Imagine Tomorrow« von Tennessee Williams oder »U. M. C.« mit Edward G. Robinson.
     Ich möchte mich heute Kims zweitem Film annehmen, meinem persönlichen Lieblingsfilm mit ihr: »Séance on a Wet Afternoon«, der inzwischen sowohl in England als auch in den Staaten in wunderbaren DVD-Editionen erhältlich ist.

An einem trüben Nachmittag

Originaltitel: Séance on a Wet Afternoon; Regie: Bryan Forbes; Drehbuch: Bryan Forbes; Kamera: Gerry Turpin; Musik: John Barry; Darsteller: Kim Stanley, Richard Attenborough, Mark Eden, Nanette Newman, Judith Donner. GB 1964.

Séance on a Wet Afternoon

Wie ein dunkler Geist spiegelt sich das große viktorianische Haus der Savages in einer Pfütze, Regen tropft direkt aufs Objektiv der Kamera, der stimmungsvoll-makabere Score von John Barry erklingt. Auftakt zu einem fesselnden Thriller aus der Zeit des Free Cinema. (Es handelte sich um eine Art englische nouvelle vague, auch als New British Cinema bekannt. Wichtige Regisseure waren Karel Reisz, Tony Richardson und Lindsay Anderson.)
     Myra Savage (Stanley) ist ein professionelles Medium, das Kontakt zur anderen Welt aufnehmen kann. Aus Frustration und dem Wunsch nach Anerkennung überredet sie ihren schwächlichen Mann Billy (Richard Attenborough) zu einer Kindesentführung, die ihr die erhoffte Publizität bringen soll. Aus Liebe zu seiner Frau willigt er ein und kidnappt die kleine Amanda (Judith Donner). Myra schlägt wie geplant deren Eltern (Mark Eden und Nanette Newman) eine Séance zur Aufklärung des Falles vor. Zunächst verläuft alles glatt, doch dann ist sie plötzlich davon überzeugt, Kontakt zu ihrem verstorbenen Sohn zu haben, der eine Spielkameradin bräuchte. Billy soll nun das kleine Mädchen töten. Billy muss sich eingestehen, dass seine Frau eine Psychopathin ist — oder vielleicht doch mit dem Jenseits in Kontakt steht?

Eine unangenehme, bedrückende Geschichte fürwahr. Bryan Forbes und seine Schauspieler machen daraus einen überzeugenden, spannenden und faszinierenden psychologischen Thriller, unterstützt von den hervorragenden Schwarzweiß-Aufnahmen Gerry Turpins. Die behäbigen, bedrohlichen Szenen in dem unheimlichen Haus wechseln sich ab mit rasanten, teilweise mit versteckten Kameras gefilmten Szenen rund um den Piccadilly Circus, die Forbes als seinen Beitrag zum cinéma vérité bezeichnete.
     Das Projekt sollte bereits 1962 realisiert werden, doch Forbes und Attenborough, der hier auch als Co-Produzent fungierte, hatten Schwierigkeiten, die Rolle der Myra zu besetzen. Simone Signoret und Deborah Kerr lehnten ab, weil sie das Thema für geschmacklos hielten, und Margaret Lockwood wurde von den Finanziers als nicht kassenträchtig angsehen. Forbes schrieb das Drehbuch sogar für zwei Männer um (im Gespräch waren Tom Courtenay und Alec Guinness), der homosexuelle Aspekt des Ganzen schreckte die Geldgeber allerdings noch mehr ab. Schließlich wurde im Herbst 1963 Kim Stanley in Erwägung gezogen — Forbes hatte sie zufällig als »Göttin« gesehen —, die hier zusammen mit Attenborough zu Höchstleistungen auflief. Den Oscar allerdings bekam in jenem Jahr die im Vergleich doch sehr blasse Julie Andrews für »Mary Poppins« (Regie: Robert Stevenson).
     »Séance on a Wet Afternoon« wurde mit einem Budget von unter 130.000 Pfund realisiert. Nicole Kidman und andere schrieben Forbes seit der Wiederentdeckung dieses Kleinods wegen der Rechte für ein Remake an — gottlob gibt er sie nicht heraus. Der subtile Horror würde sich heute überhaupt nicht mehr herstellen lassen, Tarantino und andere haben die Zuschauer abstumpfen und verrohen lassen, die umwerfende letzte Séance des Films würde in einer Neuauflage niemals einen derartigen Gänsehautfaktor haben. »Séance on a Wet Afternoon« ist spannungsgeladenes Schauspielerkino auf allerhöchstem Niveau.

André Schneider