Eine reine Formalität
Originaltitel: Una pura formalità/Une pure formalité; Regie: Giuseppe Tornatore; Drehbuch: Giuseppe Tornatore, Pascal Quignard; Kamera: Blasco Giurato; Musik: Ennio Morricone; Darsteller: Gérard Depardieu, Roman Polanski, Sergio Rubini, Nicola Di Pinto, Tano Cimarosa. Italien/Frankreich 1994.
Ein Wald. Strömender Regen. Eine Waffe, die sich wie von Geisterhand direkt zur Kamera dreht. Ein Schuss, der sich löst und uns, die Zuschauer, direkt ins Gesicht trifft. Ein Mann, der durch den Regen hetzt, bis er von einigen Polizisten gestoppt wird. So beginnt Giuseppe Tornatores vierter Spielfilm, mit zwei französischen Schauspielern in Italien gedreht: »Una pura formalità«. Die Beamten nehmen den völlig durchnässten und offensichtlich verwirrten Mann (Depardieu) mit aufs Revier. Dies ist ein kafkaesker Ort: Aktenberge, verrottetes Holz, Regenwasser, das von allen Decken tropft, tote Telefonleitungen. Ein maroder Schrank öffnet sich offenbar grundlos, bringt Weinflaschen zum Vorschein. Der Mann hat sich eingenässt, bekommt eine Decke und wartet auf den namenlosen Inspektor (Polanski). Der hat Fragen, versichert dem zuweilen aggressiv um sich Schlagenden, es sei »eine reine Formalität«, dann dürfe er gehen. Es stellt sich heraus, dass der Verhörte ein berühmter Autor ist, Onoff sein Name, und der Inspektor sein größter Bewunderer. Er versteht es, den Literaten mit Zitaten aus dessen Werken zu verwirren. Onoff verstrickt sich in Widersprüche, hat Erinnerungslücken und hütet offenbar ein tiefes Geheimnis…
Dass Roman Polanski der wohl beste lebende Regisseur sein dürfte, ist hinlänglich bekannt. Selbst jene, die ihn aufgrund seines skandalösen Privatlebens diskreditieren, geben dies zähneknirschend zu. Ursprünglich hatte Polanski, der kürzlich 87 Jahre alt wurde, vor, Schauspieler zu werden, und er trat gerade als junger Mann nicht selten in Filmen auf, vor allem unter der Regie seines Mentors Andrzej Wajda. Nachdem es ihn selbst hinter die Kamera gezogen hatte, begnügte er sich damit, gelegentlich in seinen eigenen Streifen mitzuspielen — ohne als Schauspieler im Vor- oder Abspann genannt zu werden. Man denke an den schüchternen Alfred in The Fearless Vampire Killers, an den schmierigen Nasenschlitzer in »Chinatown« (1974) oder an »Le locataire« (1976), in welchem er eine wahre Glanzleistung hinlegte. Anfang der 1990er beschäftigte er sich gerade mit »Death and the Maiden« (1994, mit Sigourney Weaver), als er das Angebot Giuseppe Tornatores annahm, eine Hauptrolle an der Seite von Depardieu in einem kriminalistischen Kammerspiel im Stile von »Garde à vue« (Regie: Claude Miller) zu übernehmen. Leider fiel der fertige Film bei Kritik und Publikum durch; selbst in Italien wurde »Una pura formalità« ein Reinfall. Schuld daran waren nicht nur die üblen Kritiken — man monierte das behäbige Tempo des Dramas —, sondern vor allem die Schwierigkeiten, die Tornatore mit den internationalen Verleihern hatte: Der Film ging schlichtweg unter und lief nur in wenigen Lichtspielhäusern. Erst später, durch Ausstrahlungen im Fernsehen und DVD-Veröffentlichungen in den 2010ern, entdeckte (und bewertete) man diesen gediegenen, atmosphärisch dichten Film neu — wenn auch als Geheimtipp. Falk Straub von »kino-zeit.de« lobte, der Film sei »kurz, bündig und nostalgiefrei« und schwärmte von den ausgezeichneten Leistungen der beiden Stars: »Das ist Schauspielerkino, dem man gern zusieht.« Dass »Una pura formalità« anno 1994 so viel Ablehnung und Verwirrung hervorrief, begründete Straub folgendermaßen: »Tornatores Spiel mit dem Verstand der Zuschauer [war] seiner Zeit nur einen Wimpernschlag voraus. Andere Mindfuck-Filme wie ›Die üblichen Verdächtigen‹ (1995), ›Fight Club‹ oder ›Sixth Sense‹ (beide 1999) sollten erst noch folgen, adressierten zudem eine völlig andere Zielgruppe. Aus Tornatores […] Œuvre sticht ›Una pura formalità‹ in erster Linie durch seine Geschlossenheit hervor. Hier gibt es kein unnötiges Abschweifen, kein melancholisches Verweilen, kein Zerfasern in einzelne Episoden. Roman Polanski, der hinter der Kamera die Beklemmung des (filmischen) Raums immer wieder erprobt oder gleich das Kammerspiel als Darbietungsform wählt, weiß dessen Vorteile auch vor der Kamera zu nutzen. Genüsslich treibt er Depardieu vor sich her — wie eine gealterte Version seines Namenlosen mit dem Messer, der Jack Nicholson in seiner Rolle […] in ›Chinatown‹ mit sardonischem Lächeln die Nase aufschlitzt. Statt eines Messers benutzt der namenlose Inspektor seinen messerscharfen Verstand. Der Schriftsteller pariert dessen Attacken ein ums andere Mal: erst sichtlich angefasst, dann immer selbstbewusster.«
Ein geradezu perfekt austariertes Drehbuch — die französischen Dialoge verfasste Pascal Quignard —, eine schnörkellose, elegante Regie, zwei souverän agierende Schauspieler, die offensichtlich allergrößte Freude an der Dreidimensionalität ihrer Figuren hatten, und die ausgezeichnete Musik von Maestro Morricone machen diesen leisen, an überraschenden Wendungen nicht gerade armen Thriller zu einem wahren Hochgenuss. Unbedingt sehen, am besten gleich mehrmals.
André Schneider