Filmtipp #679: Eine reine Formalität

Eine reine Formalität

Originaltitel: Una pura formalità/Une pure formalité; Regie: Giuseppe Tornatore; Drehbuch: Giuseppe Tornatore, Pascal Quignard; Kamera: Blasco Giurato; Musik: Ennio Morricone; Darsteller: Gérard Depardieu, Roman Polanski, Sergio Rubini, Nicola Di Pinto, Tano Cimarosa. Italien/Frankreich 1994.

Ein Wald. Strömender Regen. Eine Waffe, die sich wie von Geisterhand direkt zur Kamera dreht. Ein Schuss, der sich löst und uns, die Zuschauer, direkt ins Gesicht trifft. Ein Mann, der durch den Regen hetzt, bis er von einigen Polizisten gestoppt wird. So beginnt Giuseppe Tornatores vierter Spielfilm, mit zwei französischen Schauspielern in Italien gedreht: »Una pura formalità«. Die Beamten nehmen den völlig durchnässten und offensichtlich verwirrten Mann (Depardieu) mit aufs Revier. Dies ist ein kafkaesker Ort: Aktenberge, verrottetes Holz, Regenwasser, das von allen Decken tropft, tote Telefonleitungen. Ein maroder Schrank öffnet sich offenbar grundlos, bringt Weinflaschen zum Vorschein. Der Mann hat sich eingenässt, bekommt eine Decke und wartet auf den namenlosen Inspektor (Polanski). Der hat Fragen, versichert dem zuweilen aggressiv um sich Schlagenden, es sei »eine reine Formalität«, dann dürfe er gehen. Es stellt sich heraus, dass der Verhörte ein berühmter Autor ist, Onoff sein Name, und der Inspektor sein größter Bewunderer. Er versteht es, den Literaten mit Zitaten aus dessen Werken zu verwirren. Onoff verstrickt sich in Widersprüche, hat Erinnerungslücken und hütet offenbar ein tiefes Geheimnis…

Dass Roman Polanski der wohl beste lebende Regisseur sein dürfte, ist hinlänglich bekannt. Selbst jene, die ihn aufgrund seines skandalösen Privatlebens diskreditieren, geben dies zähneknirschend zu. Ursprünglich hatte Polanski, der kürzlich 87 Jahre alt wurde, vor, Schauspieler zu werden, und er trat gerade als junger Mann nicht selten in Filmen auf, vor allem unter der Regie seines Mentors Andrzej Wajda. Nachdem es ihn selbst hinter die Kamera gezogen hatte, begnügte er sich damit, gelegentlich in seinen eigenen Streifen mitzuspielen — ohne als Schauspieler im Vor- oder Abspann genannt zu werden. Man denke an den schüchternen Alfred in The Fearless Vampire Killers, an den schmierigen Nasenschlitzer in »Chinatown« (1974) oder an »Le locataire« (1976), in welchem er eine wahre Glanzleistung hinlegte. Anfang der 1990er beschäftigte er sich gerade mit »Death and the Maiden« (1994, mit Sigourney Weaver), als er das Angebot Giuseppe Tornatores annahm, eine Hauptrolle an der Seite von Depardieu in einem kriminalistischen Kammerspiel im Stile von »Garde à vue« (Regie: Claude Miller) zu übernehmen. Leider fiel der fertige Film bei Kritik und Publikum durch; selbst in Italien wurde »Una pura formalità« ein Reinfall. Schuld daran waren nicht nur die üblen Kritiken — man monierte das behäbige Tempo des Dramas —, sondern vor allem die Schwierigkeiten, die Tornatore mit den internationalen Verleihern hatte: Der Film ging schlichtweg unter und lief nur in wenigen Lichtspielhäusern. Erst später, durch Ausstrahlungen im Fernsehen und DVD-Veröffentlichungen in den 2010ern, entdeckte (und bewertete) man diesen gediegenen, atmosphärisch dichten Film neu — wenn auch als Geheimtipp. Falk Straub von »kino-zeit.de« lobte, der Film sei »kurz, bündig und nostalgiefrei« und schwärmte von den ausgezeichneten Leistungen der beiden Stars: »Das ist Schauspielerkino, dem man gern zusieht.« Dass »Una pura formalità« anno 1994 so viel Ablehnung und Verwirrung hervorrief, begründete Straub folgendermaßen: »Tornatores Spiel mit dem Verstand der Zuschauer [war] seiner Zeit nur einen Wimpernschlag voraus. Andere Mindfuck-Filme wie ›Die üblichen Verdächtigen‹ (1995), ›Fight Club‹ oder ›Sixth Sense‹ (beide 1999) sollten erst noch folgen, adressierten zudem eine völlig andere Zielgruppe. Aus Tornatores […] Œuvre sticht ›Una pura formalità‹ in erster Linie durch seine Geschlossenheit hervor. Hier gibt es kein unnötiges Abschweifen, kein melancholisches Verweilen, kein Zerfasern in einzelne Episoden. Roman Polanski, der hinter der Kamera die Beklemmung des (filmischen) Raums immer wieder erprobt oder gleich das Kammerspiel als Darbietungsform wählt, weiß dessen Vorteile auch vor der Kamera zu nutzen. Genüsslich treibt er Depardieu vor sich her — wie eine gealterte Version seines Namenlosen mit dem Messer, der Jack Nicholson in seiner Rolle […] in ›Chinatown‹ mit sardonischem Lächeln die Nase aufschlitzt. Statt eines Messers benutzt der namenlose Inspektor seinen messerscharfen Verstand. Der Schriftsteller pariert dessen Attacken ein ums andere Mal: erst sichtlich angefasst, dann immer selbstbewusster.«

Ein geradezu perfekt austariertes Drehbuch — die französischen Dialoge verfasste Pascal Quignard —, eine schnörkellose, elegante Regie, zwei souverän agierende Schauspieler, die offensichtlich allergrößte Freude an der Dreidimensionalität ihrer Figuren hatten, und die ausgezeichnete Musik von Maestro Morricone machen diesen leisen, an überraschenden Wendungen nicht gerade armen Thriller zu einem wahren Hochgenuss. Unbedingt sehen, am besten gleich mehrmals.

André Schneider

Filmtipp #678: Kater

Kater

Originaltitel: Kater; Regie: Klaus Händl [Händl Klaus]; Drehbuch: Klaus Händl [Händl Klaus]; Kamera: Gerald Kerkletz; Musik: Johann Sebastian Bach, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Jospeh-Maurice Ravel; Darsteller: Lukas Turtur, Philipp Hochmair, Thomas Stipsits, Manuel Rubey, Gerald Rotava. Österreich 2016.

Wenn man bei »Kater« erst einmal die Lupe angelegt hat, finden sich zwischen den offensichtlichen Ebenen immer feinere, dünnere Zwischenschichten, die, fest ineinander verwoben, diesen Streifen zu einem der komplexesten der letzten Jahre machen. »Kater« wurde von der österreichischen Presse als »Liebesfilm« apostrophiert, doch er ist mehr als das. Es ist ein politischer Film, eine bitterböse Gesellschaftssatire, eine Charakterstudie, ein »postreligiöser« (so »Die Furche«) Film und vor allem, das sah der Rezensent von »Spiegel Online« ganz richtig, ein Horrorfilm. Der Tiroler Autor, Schauspieler und Filmemacher Klaus Händl schuf hier nach dem Selbstmord-Drama »März« (2008) seinen zweiten Spielfilm, und der verstört nachhaltig, weil er uns zunächst in das sichere Idyll eines realitätsnahen Bildungsbürgertums entführt, um uns dann mit einem eruptiven, unerklärlichen Gewaltausbruch die Dissonanzen spüren zu lassen.

Andreas (Hochmair) und Stefan (Turtur) sind ein glückliches Paar und leben mit ihrem süßen Katerchen Moses (Toni) in Hernals, dem 17. Wiener Gemeindebezirk, unweit des Dornbacher Weinbergs. Sie arbeiten beide in einem Wiener Orchester, Stefan als Musiker (Hornist), Andreas als Disponent. Ihr Freundeskreis besteht aus der Orchesterfamilie. Sie leben in einem ihrem gehobenen Bohème-Dasein angepassten Altbau inmitten eines malerischen Gartens. Sie kochen Johannisbeeren ein, geben Himbeeren hinzu, um das Saure etwas süßer zu machen. Der Kater schnurrt, Nachbarn fragen sie nach Kochrezepten, die Kolleginnen und Kollegen, die nach einer Ravel-Probe zum Essen kommen, sind verzückt ob der Gemüselasagne. Nachts tanzen die beiden nackt zu smooth jazz: »Dass es sich um einen Beziehungsfilm mit zwei Männern handelt, ist wichtig. Händl Klaus’ präziser und vor allem neugieriger Blick interessiert sich gerade für den schwulen Alltag, er gibt ihm in der ersten Hälfte die ganze Weite des Cinemascope-Bildes, in dem allenfalls eine Katze hin und wieder die beiden schönen Männerkörper trennt. Diese sind, eine von vielen Paradies-Anspielungen, in der Wohnung meistens nackt, ohne dass das ausgestellt wäre, und beim Sex sehen wir Erektionen, weil sich der Film für das genaue Hinsehen entschieden hat, nicht für Behauptungen.« (Jan Künemund, »Der Spiegel«) Dann kommt der Wendepunkt, der den Film mittig zerteilt wie ein Axthieb — oder, um noch einmal den »Spiegel« zu zitieren, wie »ein heftiges Sforzando im weichen Piano«. Ein plötzlicher, unerklärlicher Gewaltausbruch Stefans erschüttert diese Welt, die Beziehung, jeden als Einzelperson. Es beginnt ein schmerzlicher, beschwerlicher Weg…

Die große Stärke von »Kater« liegt weniger in den Antworten, die er nicht oder nur unzureichend liefert, sondern in den Fragen, die er aufwirft: »Sind wir immer wir selbst? Schlummert in jedem von uns ein unberechenbares Element? Kennt man den Menschen, den man liebt, kennt er sich selbst? Und: Wie viel kann die Liebe aushalten?« Was anschmiegsam-warm beginnt, als kommunikative Zweisamkeit, ist urplötzlich kaltes Schweigen. Händl setzt das Seziermesser an, lotet die psychologischen Hintergründe des Horrors aus, ohne dabei den liebevollen Blick auf den Menschen zu verlieren. Die traurigen Versuche des Paares, den Beziehungsschönklang zurückzuholen, die hilflos-beherzten Versuche, das Vertrauen wiederherzustellen, all das zeigen Händl und seine beiden nuancenreich agierenden Hauptdarsteller in beinahe zärtlicher Weise.
Zwischen Februar 2014 und März 2015 in Wien gedreht, zum Teil mit Fördergeldern aus der Schweiz, wurde »Kater« im Folgejahr ein weltweiter Kritiker- und Festivalerfolg. In Berlin gewann der den Teddy, in Hongkong den Jury Prize beim Internationalen Filmfestival. Bei der Verleihung des Österreichischen Filmpreises stand er anno 2017 in fünf Kategorien auf der Nominierungsliste. Das Kinopublikum jedoch tat sich etwas schwer mit dem alles andere als angenehmen Sujet. Wer jedoch den traurigen und schockierenden Plot goutieren kann, wird mit einem der besten deutschsprachigen Produktionen des vergangenen Jahrzehnts belohnt.

André Schneider

Filmtipp #677: Louise en hiver

Louise en hiver

Originaltitel: Louise en hiver; Regie: Jean-François Laguionie; Drehbuch: Jean-François Laguionie; Musik: Pascal Le Pennec, Pierre Kellner; Darsteller: Dominique Frot, Diane Dassigny, Piera Degli Esposti, Antony Hickling, Jean-François Laguionie. Frankreich/Belgien/Kanada 2016.

Jean-François Laguionie, Jahrgang 1939, ist bereits seit 55 Jahren als Animationsfilmemacher unterwegs, aber bis heute nur wenigen bekannt — was mehr als schade ist, denn seine Werke haben sowohl ästhetisch als auch inhaltlich viel zu bieten und sind von einer unverkennbaren Handschrift geprägt. »Louise en hiver«, im Juni 2016 beim Annecy International Film Festival uraufgeführt, war der erst sechste abendfüllende Animationsfilm des Meisters und wurde wärmstens aufgenommen. Dabei spielte Laguionie visuelles Zartgefühl eine große Rolle: »Die reduzierte Ästhetik der Animationen erinnert einerseits an die Flächigkeit der ligne claire und rekurriert andererseits auf Vorbilder aus der Kunstgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aquarelltechniken, Tusche und Kreide, aufgetragen auf einen strukturierten Untergrund sowie eine überwiegend gedeckte, ins Pastellige gehende Farbpalette, lassen viel Raum für Zwischentöne und Gedankenreisen, die ›Louise on hiver‹ zu einer kontemplativen Reflexion über das Leben und die Vergänglichkeit werden lassen«, hieß es in einer deutschen Rezension, und die Schweizerin Irene Jost schwärmte: »Eine poetische Erzählung über das Älterwerden, über Träume und Selbstfindung. Die Kulissen […] sind von Laguionie mit Pinsel auf grobkörniges Papier gemalt. […] Fragilität, Melancholie, Nostalgie, Imagination schwingen mit. Grandiose Stimme.«

»Louise en hiver« ist ein leises, assoziatives Werk, das den, der sich darauf einlässt, regelrecht verzaubert mit seiner Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor. Vor der Hintergrund einer fiktiven Küstenstadt, Biligen-sur-Mer, die in den Sommermonaten als beliebtes Ausflugs- und Urlaubsziel floriert, um in der Nachsaison nahezu zu verwaisen, breitet Laguionie in 75 Minuten seine Geschichte aus. Louise, eine ältere Dame, die schon seit Kindertagen ihre Sommer hier verbringt, plant ihre Abreise — um dann den letzten Zug der Saison zu verpassen und plötzlich festzusitzen. Ohne Telefon, ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne jede Möglichkeit, Biligen zu verlassen. Der Sommer ist vorbei. Louise hat niemanden mehr, der auf sie wartet oder sie vermisst. Sie ist, ähnlich wie Biligen außerhalb der Urlaubszeit, vergessen. Anstatt in blinde Panik zu verfallen, nimmt die patente Frau ihr Schicksal in die Hand und sorgt für ihr Überleben: Aus gesammelten Materialien baut sie sich eine Hütte am Stand, fischt sich ihre Nahrung aus dem Meer und freundet sich mit einem streunenden Hund an. Es erinnert beinahe an Robinson Crusoe auf seiner Insel. Immer wieder hängt Louise ihren Erinnerungen nach, ihre Gedanken gleiten zurück in ihre Kindheit. Fantasie und Realität verwischen zusehends, die Bruchstücke ihrer Vergangenheit treten klarer hervor, und »so wird gerade das Festsitzen an einem Ort zu einer Befreiung für ihren altersmüden Geist, der sich mit der Neugier eines Kindes auf das Abenteuer einlässt und die Natur und den Wechsel der Jahreszeiten erforscht.« (Joachim Kurz)

Aufgrund der Situation — es geht um Vereinsamung im Alter und Erinnerungen — hat »Louise en hiver« kaum Handlung, es gibt nur wenige Dialoge. Das Gros des Films wird über innere Monologe erzählt. Das mag nicht Jedermanns Geschmack befriedigen — es hat schon seinen Grund, warum Laguionies Filme nicht unbedingt massentauglich sind. Die Story mag hier für die meisten zu fragmentarisch gestreut sein. Einladend, geradezu verführerisch sind die liebevoll gestalteten Animationen, die Metapher und der Charme des Geisterstädtchens mit der schroffen Küste am Meer. Louise wird von gleich drei Schauspielerinnen gesprochen: Diane Dassigny spricht sie als Kind, Piera Degli Esposti als junge Frau und die hervorragende Dominique Frot als die alte Louise von heute. Kein Animationsfilm für Kinder, vielmehr eine Meditation für uns, die jenseits der 40 sind, und eine der schönsten, anmutigsten Erzählungen dieses Genres. Auf jeden Fall mein liebster Animationsfilm der letzten 20 Jahre. (Ohne Antony Hicklings Mitwirkung hätte ich ihn vermutlich nie entdeckt.) Bedauerlich, dass es keine deutsche Sprachfassung gibt. Ich hätte den Film gerne meiner Mutter geschenkt. Die wird heute nämlich 70 Jahre alt. Mit diesem Filmtipp möchte ich herzlich gratulieren und mich für die vielen wunderbaren Erinnerungen bedanken, die sie mir geschenkt hat.

André Schneider