Filmtipp #791: Der Zug zur Hölle

Der Zug zur Hölle

Originaltitel: Train d’enfer; Regie: Gilles Grangier; Drehbuch: Gilles Grangier, Jacques Robert; Kamera: Antonio Macasoli; Musik: André Hossein; Darsteller: Jean Marais, Marisa Mell, Howard Vernon, Gérard Tichy, Jean Lara. Frankreich/Spanien 1965.

Train d'enfer

Barcelona anno 1965: Ein böser Nazi-Wissenschaftler (Vernon) plant, einen Zug in die Luft zu sprengen, in welchem sich ein Emir befindet. Dies soll geschehen, bevor dieser an der Côte d’Azur eintrifft. Der smarte französische Geheimagent Antoine Donadieu (Marais), engagiert von einem gewissen Matras (Tichy), ist ihm und seiner Bande jedoch bereits auf den Fersen und versucht, den Anschlag zu vereiteln.

Es scheint, als habe Gilles Grangier mit seinem Co-Autoren Jacques Robert den ersten Entwurf des Drehbuches in einer weinseligen Nacht auf eine Serviette gekritzelt. Die Story gibt wirklich nicht viel her; es ist verwunderlich, dass der 1962 veröffentlichte Roman »Combat de nègres« von René Cambon über 200 Seiten umfasste! Nein, der Story wegen schaut man »Train d’enfer« sicher nicht an. Auch nicht wegen der Spannung. Mit der ist es nämlich nicht weit her. Der Zuschauer weiß ziemlich schnell, wohin der Hase hoppelt. Es gibt auch keine kreativen Wendungen oder Überraschungen. Es blitzen ein paar humorige Funken auf, doch als Parodie oder gar Komödie geht der un-thrillige Thriller leider auch nicht durch.
Wer Jean Marais mag, ist klar im Vorteil. Leider konnte ich mich nie so ganz für ihn erwärmen. Nach Cocteaus Tod im Oktober 1963 nahm Marais seine Karriere, die zuvor mit dem Schaffen seines Lebensgefährten verwoben gewesen war — man fühlt sich an Visconti und Helmut Berger erinnert —, selbst in die Hände und drehte einen Actionfilm nach dem anderen. Dabei ließ er sich stets als schneidiger Frauenheld inszenieren, was man ihm trotz seiner unangenehm tuckigen Art und seiner mittlerweile über 50 Lenze irgendwie sogar abnahm. Im Gegensatz zu vielen jüngeren Kollegen übernahm Marais all seine Stunts selbst, und die waren teilweise gar nicht so ohne! Seine Filme aus jener Zeit, wie zum Beispiel »Fantômas« (Regie: André Hunebelle), »Le gentleman de Cocody« (Regie: Christian-Jaque) und eben »Train d’enfer«, wurden ausnahmslos Kassenhits und zählten zu den erfolgreichsten Produktionen dieser Zeit. Die Franzosen strömten nur so in die Lichtspielhäuser. Zum Klassiker brachte es jedoch keines dieser Werke.

»Train d’enfer« beeindruckt mit einigen sehr gut choreographierten Kampfszenen; gleich zu Beginn geraten Jean Marais und Álvaro de Luna sehr ausgiebig aneinander. Dann wäre da der Look des Ganzen, und der ist wirklich eine Augenweide. Gedreht wurde fast ausschließlich auf der damals noch touristenmüden Mittelmeerperle Mallorca sowie in Barcelona, Almería und Madrid. Die Außenaufnahmen sind atemberaubend schön! Auch die Interieurs sind erlesen ausgestattet. Was die Farbdramaturgie betrifft, wähnt man sich fast in einem Werk von Mario Bava. Perfekte Lichtsetzung, interessante Kamerapositionen, flotte Schnitte, untermalt mit einem zeitgeistgemäßen Score von André Hossein. Es ist ein Film, den man, wenn man die Handlung vergisst, ohne weiteres bei einer WG-Party im Hintergrund laufen lassen könnte.
Wäre noch die Mitwirkung Marisa Mells zu erwähnen. Sie ordnet sich ganz professionell den Divengehabe ihres erfahrenen Kollegen unter. Bei den Kussszenen pflegte Marais sie so zur Seite zu drehen, dass seine Schokoladenseite der Kamera zugewandt war. Sie erzählte später ihren Grazer Freunden, dass der eitle Marais sie wie ein Stück Requisite behandelt hätte. Ihre Rolle verlangt ihr nicht viel ab. Sie trägt haute couture vom Feinsten und wird von Regisseur Grangier nach allen Regeln der Kunst als Star inszeniert. Ihre Schönheit wurde selten so vorteilhaft genutzt wie in diesem ansonsten durch und durch mittelmäßigen Film.
Bei den Dreharbeiten in Südspanien kam es, wie Grangier in seiner Autobiographie ausführte, zu einem kostspieligen und nicht ungefährlichen Unfall: Das Team filmte auf einer Bahnstrecke, welche zu Drehzwecken gesperrt worden war, als plötzlich ein Schnellzug angerast kam. Die Crew konnte sich noch in Sicherheit bringen, das Equipment jedoch kollidierte mit dem Zug und war futsch.

Nach langer, langer Zeit, in welcher der Film quasi unauffindbar gewesen war, brachte Coin de Mire den Film in einer schier unglaublichen Aufmachung diesen Monat heraus: Als auf 3.000 Exemplare limitiertes Mediabook mit BluRay plus DVD, Filmplakat, etlichen Fotos und einem Booklet, das einem die Ohren schlackern lässt! Ich war selten so glücklich über eine Veröffentlichung eines (an sich) schlechten Films!

André Schneider

Filmtipp #790: Agenten lassen bitten

Agenten lassen bitten

Originaltitel: Masquerade; Regie: Basil Dearden; Drehbuch: Michael Relph, William Goldman; Kamera: Otto Heller; Musik: Philip Green; Darsteller: Cliff Robertson, Jack Hawkins, Marisa Mell, Michel Piccoli, Bill Fraser. GB 1965.

Masquerade

Mit der filmischen Umsetzung des Romans »Castle Minerva« von Victor Canning wollte das Gespann Relph-Dearden 1965 seine erste Komödie aus der Taufe heben: »Masquerade« hieß das Unterfangen, das im Kielwasser der James-Bond-Euphorie mitschwimmen sollte. Cliff Robertson, damals bereits jenseits der 40, spielt eine Art US-amerikanischen Aushilfs-007, der von der britischen Regierung angeheuert wird, auf einen jugendlichen Ölprinzen (Christopher Witty) aufzupassen. Den Gesetzen der Parodie folgend, wirkt er bei seiner Mission alles andere als souverän. Tollpatschig strauchelt er von einer Katastrophe in die nächste. Das ist auch heute, gut 60 Jahre später, noch amüsant anzuschauen. Der Prinz wird vom englischen Außenministerium entführt (!) und soll festgehalten werden, bis ein neues Ölabkommen zugunsten der Briten unterschrieben ist. Raubein Jack Hawkins gibt Robertsons alten Freund Drexel, einen Colonel kurz vor der Pension, der ihm scheinbar helfend unter die Arme greift, sich am Ende jedoch als geldgieriger Doppelagent entpuppt, der vor keiner Gemeinheit haltmacht. Mit von der Partie ist auch ein kleiner französischer Wanderzirkus, dessen Artisten eine für lange Zeit undurchsichtige Rolle in dem Verwirrspiel spielen. Michel Piccoli ist als Dompteur zu sehen, und Marisa Mell spielt Sophie, eine mysteriöse Dressurreiterin, die Robertson mit ihrer quirligen Naivität den Kopf verdreht, gewissermaßen ein »braves Bond-Girl«.

Die Innenaufnahmen fanden ab Mai 1964 in den Pinewood Studios statt, und für die Außenaufnahmen reiste man für drei Wochen ins spanische Alicante. Wie für englische und US-amerikanische Produktionen üblich, war der Drehplan professionell kalkuliert, die straffe Organisation ließ keinen Raum für Verzögerungen oder Leerläufe, die sich sonst in der Filmarbeit kaum vermeiden lassen. Eine derartige Disziplin bringt eigentlich nur Vorteile mit sich: wenn alles im Vorfeld schon geregelt wurde und »sitzt«, fängt die Freiheit an — und der Spaß. »Masquerade« war für alle Beteiligten eine herrliche Erfahrung. Fotos vom Dreh zeigen einen scherzenden Regisseur, der sich über seine wild lachende Hauptdarstellerin beugt, Cliff Robertson und der Kameramann Otto Heller wirken gut gelaunt und entspannt. In Alicante wohnte das Team im Hotel Glasor. Das ganz in der Nähe gelegene Castillo de Santa Barbara war bereits vom Filmarchitekten Don Ashton in das Castle Minerva verwandelt worden, bevor der Rest der Crew eintraf. In der kühlen Eingangshalle des Hotels entstanden wundervolle Bilder, auf denen der norwegische Schauspieler und Choreograph Tutte Lemkow mit Marisa Mell einen Flamenco-ähnlichen Tanz für die Zirkusszenen probt. Auf einem sieht man ihn Gitarre spielend, während sie mit einer Zigarette in der Hand lachend den Kopf in den Nacken wirft; ein Bild, auf dem Unbekümmertheit und Sinnlichkeit um die Wette strahlen.

»Masquerade« ist ein rundum gelungener Unterhaltungsfilm, »eine wunderbare Persiflage auf das harte Leben der Geheimagenten« (»TV Spielfilm«), die die Jahre gut überstanden hat. In den Nebenrollen ist eine ganze Schar englischer Charakterköpfe zu sehen: John Le Mesurier, Charles Gray, Felix Aylmer und Ernest Clark dürften die bekanntesten sein. Dass der Streifen damals trotz guter Besprechungen kein überwältigender Kassenerfolg wurde, kann auf eine Übersättigung des Publikums zurückgeführt werden, das Mitte der 1960er mit Agentenfilmen geradezu bombardiert wurde.
Kino Lorber brachte diesen selten gezeigten Film diesen Monat erst in bester Bild- und Tonqualität neu heraus. Als besonderes Leckerli gibt es einen beeindruckend recherchierten Audiokommentar der Filmhistoriker Howard S. Berger und Christ Poggiali, die mit aufschlussreichen Hintergrundinformationen ebenso wenig geizen wie mit Lob für alle Beteiligten.

André Schneider

Filmtipp #789: Exodus

Exodus

Originaltitel: Exodus; Regie: Otto Preminger; Drehbuch: Dalton Trumbo; Kamera: Sam Leavitt; Musik: Ernest Gold; Darsteller: Paul Newman, Eva Marie Saint, Ralph Richardson, Peter Lawford, Lee J. Cobb. USA 1960.

Exodus

Die amerikanische Krankenschwester Kitty Fremont (Saint), eine junge Soldatenwitwe, kommt anno 1947 in das von den Briten verwaltete Palästina und wird dort Zeugin, wie sich die aus aller Welt herbeigeströmten Juden, die meisten von ihnen Überlebende des Holocausts, versammeln, um auf die Gründung eines unabhängigen Staates zu drängen. Die Flüchtlinge entern den Frachter Exodus, um ihr Anliegen zu verdeutlichen. Kitty verliebt sich in einen der Anführer, Ari Ben Canaan (Newman), und erlebt an seiner Seite die Gründung des Staates Israel.

Leon Uris hatte einen ausufernden Wälzer geschrieben — der Roman umfasste mehr als 800 Seiten —, in welchem er kunstvoll historische Fakten mit fiktiven Handlungssträngen verwob. Otto Preminger gelang das Kunststück, den Roman filmisch zu adaptieren, ohne dass die Hauptfiguren etwas von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Allerdings verzichtete er im Gegensatz zur Vorlage auf zeitliche Sprünge in Form von Rückblenden und erzählte die Geschichte chronologisch. Anfangs hatte Preminger Leon Uris angeboten, das Drehbuch selbst auszuarbeiten, musste ihn dann doch aus dem Projekt entlassen, da er in Uris’ Dialogen jegliches Gefühl von Sensibilität vermisste. So erhielt Dalton Trumbo den Auftrag. Preminger wollte mit dem Engagement Trumbos ein Zeichen gegen die McCarthys Schwarze Liste setzen, was ihm auch gelang: Donald Trumbo erhielt kurz darauf das Angebot von Produzent Kirk Douglas, das Drehbuch für »Spartacus« (Regie: Stanley Kubrick) zu schreiben.

»Exodus« ist ein Spektakel von monumentalen Ausmaßen. Die DVD hat eine Lauflänge von 199 Minuten, im Kino dauerte der Streifen 208. (Während der New Yorkers Premiere am 15. Dezember 1960 soll der Komiker Mort Sahl nach drei Stunden aufgesprungen sein und laut gebrüllt haben: »Otto, let my people go!«) Preminger hatte keine Kosten gescheut, sein Opus entstand unter dem Einsatz tausender Komparsen zwischen März und Ende Juni 1960 vor Ort auf Zypern und in Jerusalem. Trotz der eindrucksvollen Massenszenen liegt die Attraktivität von »Exodus« in den feinfühlig gestalteten stillen Momenten. Hier sticht vor allem die zarte und tragisch endende Liebesgeschichte zwischen Karen, die von Jill Haworth ergreifend gespielt wurde, und dem polnischen Juden Dov Landau, für dessen Darstellung Sal Mineo seine zweite Oscarnominierung einheimste, hervor. Das elegisch-tragische musikalische Leitthema des Films, für das Ernest Gold den Oscar erhielt, entwickelte sich zu einem Klassiker der symphonischen Filmmusik.
Wie bei einem Preminger-Film üblich kam es während des Drehs zu großen Spannungen zwischen dem als Despot bekannten Regisseur und seinen Schauspielern. Besonders Paul Newman litt unter Premingers Schikanen, die letzten Endes so weit gingen, dass zwischen den beiden Funkstille herrschte. Newman bezeichnete seine Mitwirkung an »Exodus« später als groben Fehler — eine Auffassung, die von einem Gros der Kritiker geteilt wurde; gemeinhin wird Newman bis heute als Fehlbesetzung in »Exodus« angesehen. Dafür sind die Nebenrollen geradezu meisterhaft besetzt: Hugh Griffith, Ralph Richardson, John Derek, Peter Lawford, Felix Aylmer, Gregory Ratoff, Marius Goring, Alexandra Stewart, David Opatoshu, Martin Benson, Paul Stevens, Martin Miller, John Crawford, Esther Ofarim, Peter Madden, Joseph Fürst und viele, viele andere geben sich hier die Ehre. Für die Rolle der Karen war zunächst Hayley Mills die Wunschkandidatin Premingers, doch Disney wollte sie für diesen »Erwachsenenfilm« nicht freigeben. So ließ der Altmeister in London eine ganze Reihe junger Schauspielerinnen vorsprechen. Unter ihnen war auch Christine Kaufmann, die ihn so sehr beeindruckte, dass er sie für die Hauptrolle in Town Without Pity empfahl.

Waren die Kritiken seinerzeit auch recht gemischt, so spielte »Exodus« an den Kinokassen weltweit etwa das Vierfache seiner Kosten ein, was Preminger ermutigte, auch künftig auf überlange, große Ensemblefilme wie beispielsweise The Cardinal und »In Harm’s Way« (1965) zu setzen, die jedoch in der Gunst des Publikums nicht ganz so hoch im Kurs stehen sollten wie dieser Film.

André Schneider