Filmtipp #602: Das Haus im Kreidegarten

Das Haus im Kreidegarten

Originaltitel: The Chalk Garden; Regie: Ronald Neame; Drehbuch: John Michael Hayes; Kamera: Arthur Ibbetson; Musik: Malcolm Arnold; Darsteller: Deborah Kerr, Hayley Mills, John Mills, Edith Evans, Felix Aylmer. USA/GB 1964.

Auf einem Kreidefels an der englischen Südküste steht das Haus der alten Mrs. St. Maugham (Evans), in deren Garten nichts so richtig gedeihen mag. Sie ist eine schrullige Dame, die sich gemeinsam mit dem Butler Maitland (John Mills) um ihre 16jährige Enkelin Laurel (starker Auftritt: Hayley Mills) kümmert. Dabei geht es Mrs. St. Maugham nicht unbedingt ums Kindeswohl, sondern vor allem um sich selbst. Sie redet dem verbockten und am Rande der Hysterie balancierenden Mädchen ein, ihre Mutter Olivia (Elizabeth Sellars), die nach dem Tod ihres Mannes neu geheiratet hat, würde sie nicht lieben. Laurel hat schon einige Gouvernanten vergrault, als sich eines Tages Miss Madrigal (Kerr) auf die vakante Stelle bewirbt. Obwohl sie weder Zeugnisse noch Referenzen vorlegen kann, stellt Mrs. St. Maugham die sicher auftretende Dame ein — auch, um Laurel noch fester an sich zu binden. Doch Miss Madrigal hat ihre eigenen Vorstellungen, was die Erziehung des Mädchens angeht. Sie spürt, dass Laurel vor allem Geduld und Verständnis braucht, hat es jedoch nicht leicht, zu ihr durchzudringen. Laurel ist ein boshaftes Gör, das zwanghaft lügt, zu Erpressungen neigt und den Erwachsenen in ihrer Umgebung das Leben zur Hölle macht. Einzig der treue Butler unterstützt Miss Madrigal, die selbst eine ziemlich bewegte Vergangenheit zu haben scheint, die sie mit aller Kraft geheimzuhalten versucht…

Enid Bagnolds in den 1950er Jahren uraufgeführtes Bühnenstück — am Broadway hatten Gladys Cooper, Siobhan McKenna und Betsy von Furstenberg mit großem Erfolg die Hauptrollen gespielt — hatte mehr Spannung und Tiefgang als die hollywoodisierte Fassung unter der Leitung des Glamour-Produzenten Ross Hunter. Einige Handlungselemente sowie eine nicht in Erscheinung tretende Figur wurden einfach eliminiert, der symbolische Gehalt des unfruchtbaren Kreidegartens wurde etwas unter den Teppich gekehrt und Regisseur Ronald Neame war unglücklich mit der Besetzung von Disney-Star Hayley Mills. Er fand sie »too kittenish; she should have been far more dangerous. I also hated the music. The play is filled with epigrams. Every time one was uttered that crashing music would swell up.« Auch in Sachen Ausstattung war Neame nicht zufrieden. In seiner Vorstellung sollte das Haus von Mrs. St. Maugham leicht verfallen und staubig sein, ein bisschen wie das Zuhause von Miss Havisham in »Great Expectations«, doch Ross Hunter bestand auf schickes Interieur und üppigen Blumenbouquets in jedem Zimmer. Immerhin ließ der Produzent sich überzeugen, das englische Umfeld beizubehalten — er hatte die Handlung ursprünglich ins kalifornische Carmel verlegen wollen, damit das amerikanische Publikum sich mit dem Stoff besser arrangieren kann — und die Farbpalette nicht ganz so grell zu gestalten, wie er es eigentlich mochte. Ursprünglich hatten Joanne Woodward und Sandra Dee die Hauptrollen übernehmen sollen, doch als Woodward aufgrund einer Schwangerschaft ausstieg, entschieden sich Hunter und Neame, auf eine komplett britische Besetzung umzusteigen. Leider wählte man mit Deborah Kerr eine Hauptdarstellerin aus, die alles andere als mysteriös war. Unglaubwürdig, dass eine Lady wie Kerr ein dunkles Geheimnis hüten soll. Abgesehen von dieser Fehlbesetzung ist »The Chalk Garden« ein hervorragend gespieltes Melodram, angenehm exzentrisch und auf wunderbar altmodische Weise unterhaltsam. Die Kameraarbeit von Arthur Ibbetson ist vorzüglich, geradezu erlesen. Edith Evans wurde für einen Oscar vorgeschlagen, unterlag aber Lila Kedrova, die die Statuette für »Alexis Zorbas« (Regie: Michael Cacoyannis) einheimste. Darüber hinaus wurde der Streifen für vier BAFTAs (Ausstattung, Kamera, Kerr und Evans) sowie für einen Golden Globe nominiert und wurde ein Hit an den Kinokassen. Mittlerweile ein wenig in Vergessenheit geraten, ist »The Chalk Garden« ein Schatz, dessen Bergung sich definitiv lohnt.

Spoiler Alert!
Das Ende des Streifens ist ambivalent zu verstehen. Laurel wird von ihrer Mutter abgeholt und sieht einer glücklicheren Zukunft entgegen, während ihre Großmutter jeden Lebensinhalt verloren hat. Ihr bleibt nur der Kreidegarten mit seinen verkümmerten Pflanzen. Sie klammert sich in ihrem Kummer und ihrer Einsamkeit an Miss Madrigal, die als unentbehrliche Gesellschafterin bei ihr bleibt. Die beiden Frauen brauchen einander. Miss Madrigal wird versuchen, im Hause von Mrs. St. Maugham ihre grauenvolle Vergangenheit zu vergessen und sich zu rehabilitieren.

André Schneider