31. Juli 2022

Meine Erschöpfung hat den beunruhigenden Punkt erreicht, an dem ich abends grundlos weine. Eine Abgrenzung scheint jetzt, da eine Kollegin beklagt, ich würde zu wenig arbeiten, nicht möglich. Mir fehlt die Kraft für eine fortdauernde Konfrontation — was soll sie auch bringen außer einem Kräfteverlust? —, und in der ersten Augustwoche werden sich weitere 20 Überstunden ansammeln.
Manchmal ist Schweigen der lauteste Schrei.

Pause

Immerhin konnte »nebenbei« ich zwei kurze Textbeiträge verfassen, die, wenn alles klappt, in der zweiten Jahreshälfte in unterschiedlichen Anthologien veröffentlicht werden: Die erotische Kurzgeschichte »Der Sexturm der Schnecken« und ein essayistischer Text zum Thema Arbeit, der passenderweise den Titel »Wertschätzung und Freiheit« trägt. Dazu aber beizeiten mehr.
Mit diesen paar Zeilen läute ich meine diesjährige Schreibpause ein. Ich denke aber, dass ich mich spätestens im Herbst wieder zu Wort melden werde. Bis dahin: Genießt die Hitzewellen und lasst Euch nicht ärgern. Herzlichst,

Euer André

P.S.: »Everything Everywhere All at Once« (Regie: Dan Kwan, Daniel Scheinert) ist ein Film, den man auf der großen Leinwand gesehen haben muss! Der Spaß, den Michelle Yeoh und Jamie Lee Curtis gehabt haben müssen, ist ein wahrer Sehgenuss! Wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte dies schleunigst nachholen!

Filmtipp #818: Dark Glasses – Blinde Angst

Dark Glasses — Blinde Angst

Originaltitel: Occhiali neri; Regie: Dario Argento; Drehbuch: Dario Argento, Franco Ferrini; Kamera: Matteo Cocco; Musik: Arnaud Rebotini; Darsteller: Ilenia Pastorelli, Asia Argento, Andrea Gherpelli, Mario Pirello, Xinyu Zhang. Italien/Frankreich 2022.

Occhiali neri

»Die große Rückkehr des Meisters des Horrors«, versprach der deutsche Trailer zu »Occhiali neri«, der am 11. Februar 2022 im Rahmen der Berlinale seine umjubelte Weltpremiere feierte. Was für ein Ereignis! Nach zehn Jahren Kreativpause der erste Film des inzwischen 81jährigen Dario Argento, der uns mit Meisterwerken wie Profondo rosso, »Suspiria« (1977) und zuletzt Tenebre beglückte — und der (traurigerweise) seit Mitte der Achtziger Film für Film seiner eigenen Benchmark hinterherzulaufen schien. Seine letzten drei Filme, »Dracula 3D« (2012, mit Thomas Kretschmann), »Giallo« (2009, mit Emmanuelle Seigner) und »La terza madre« (2007, mit Daria Nicolodi), sind nicht zu verzeihen, aber schon davor speiste uns Argento gut 20 Jahre lang mit unterdurchschnittlichen, oft lieblos zusammengeschusterten Konfektionsthrillern ab. (»Trauma« (1993, mit Piper Laurie) grenzte an Arbeitsverweigerung!) Schwer zu sagen also, ob die Erwartungen an »Occhiali neri« besonders hoch oder besonders niedrig waren — so oder so war das Medieninteresse enorm und die treuen Fans des Altmeisters völlig aus dem Häuschen, unerwarteterweise doch noch einmal ein neues Werk in den Kinos begrüßen zu dürfen. Das Feuilleton äußerte sich größtenteils euphorisch, der »Tagesspiegel« zumindest freundlich. Als der Film dann im Juni regulär in den Kinos startete, hagelte es die ersten Verrisse: »Dario Argento enttäuscht auf ganzer Linie«, lautete die Schlagzeile von Christopher Diekhaus’ Kritik, und auch »kino-zeit.de« konstatierte mit Bedauern, dass Argentos Neuling »weder ein guter noch ein unterhaltsamer Film geworden ist«.
Gestern erschien »Occhiali neri« als liebevoll gestaltetes Mediabook bei Pierrot le Fou, das mit einem Audiokommentar von Dr. Marcus Stiglegger, einem Text von Stefan Jung sowie einer Videoeinführung von Argento persönlich punktet und allein deshalb schon wärmstens zu empfehlen ist. Nach einer zweimaligen Sichtung des Films kann ich Diekhaus zustimmen: Ja, »Occhiali neri« hat mich enttäuscht. Allerdings muss ich »kino-zeit.de« widersprechen, denn der Film ist durchaus unterhaltsam. Szenenweise ist er sogar spannend. Vor allem jedoch, und das ist eine große Freude zu sehen, erweist Argento hier sich selbst Reverenz. Man könnte »Occhiali neri« eine Selbsthommage nennen, in welcher der Filmemacher immer wieder Bögen zu früheren, besseren Filmen schlägt: Die von Ilenia Pastorelli verkörperte Diana ist blind wie Karl Malden in Il gatto a nove code, das Sehen bzw. das Sehenmüssen ist Dreh- und Angelpunkt der Story und evoziert Erinnerungen an »Opera« (1987). Einige Bildfolgen sind so sorgfältig inszeniert, als würde Argento direkt an seine eleganten Frühwerke wie L’uccello dalle piume di cristallo anknüpfen wollen. Leider fehlt es diesem Film hier an Kohärenz, (zu) viele der anfänglich etablierten Elemente — sowohl stilistisch als auch auf der Handlungsebene — werden im Laufe der Geschichte schlicht und einfach nicht weiter verfolgt, um »Occhiali neri« im letzten Drittel zu einem unnötig blutigen 08/15-Thriller absacken zu lassen.

Das Drehbuch hatte Argento gemeinsam mit Franco Ferrini bereits 2002 geschrieben, doch ließen sich für das Projekt keine Finanziers finden, was laut Argento an der Entwicklung des Marktes lag, der »nach gewalttätigen und bedeutungslosen Geschichten verlangt«. Nun, nach einer Gärzeit von fast 20 Jahren und einigen Änderungen am Skript erfüllt »Occhiali neri« beide Kriterien.
Der Film beginnt in einem fast menschenleeren Rom. Nüchtern, nicht darauf erpicht, touristische Schauwerte aufzufahren. In einem Park beobachten einige Menschen eine Sonnenfinsternis, ein Naturschauspiel voller Symbolkraft und Faszination. Diana, unsere Heldin, schaut direkt nach oben und schädigt damit bereits ihre Augen. Wenige Szenen später wird sie bei einem Verkehrsunfall auf der Flucht vor einem Serienkiller ihr Augenlicht ganz verlieren. Schon früh etablieren Argento und sein Kameramann Cocco expressive Primärfarben: Dianas Lippen sind eine Spur zu grell, zu rot, und ihr Mantel ist es auch. Rot als Farbe der Lust, der Sinnlichkeit, aber auch des Blutes und des Todes.
Ein Frauenmörder, der es auf Callgirls abgesehen hat, streift durchs nächtliche Rom und tötet mit einer Cellosaite. Diana, die ihren Lebensunterhalt als Edelhure bestreitet, kann ihm zwar entkommen, doch der Preis ist hoch: Sie kollidiert mit dem Wagen einer chinesischen Einwandererfamilie. Beide Eltern sterben, nur der Sohn Chin (Zhang) auf dem Rücksitz überlebt.
Auftritt Asia Argento in einer ungewöhnlich unglamourösen Nebenrolle als Rita, einer Mobilitätslehrerin vom Blindenverein. Rita soll Diana helfen, sich in ihrer neuen Situation zurechtzufinden und stellt ihr einen Blindenhund zur Seite, welcher später — ähnlich wie in Il gatto a nove code — noch eine wichtige Rolle spielen wird. Asia Argento fungierte bei diesem Film auch als Co-Produzentin und war vermutlich preiswert zu haben. In den vergangenen Jahren machte sie eher als weiblicher Harvey Weinstein und ähnliche Skandale von sich reden, sodass es ein kluger Schachzug ihres Vaters war, sie in einer für sie untypischen, da praktisch asexuellen Rolle zu besetzen, in welcher sie trotz ihrer Talentlimitierungen nichts falsch machen konnte.
Im weiteren Handlungsverlauf bilden Diana und der kleine Chin ein ungleiches Team im Kampf gegen den Killer (Gherpelli), der sie nach wie vor verfolgt. Die an sich interessanten kulturellen Unterschiede und die emotionalen Verflechtungen werden angesprochen, jedoch nicht entwickelt oder gar ausgespielt. »Sie ist eine Erwachsene und blind, er ist zu jung, um alleine zurecht zu kommen«, erklärte Argento sein ungleiches Kinopaar, doch leider schöpft er die Möglichkeiten dieser Konstellation nicht annähernd aus. Der Faden wird aufgenommen und wieder fallengelassen, als hätte der Autor schlagartig das Interesse daran verloren. Aber: »Drehbücher waren nie eine Stärke von Argento, […] auch sein Stilwille ist […] etwas heruntergedimmt. Noch immer strahlt seine Nacht in tiefem Blau-rot, aber die hochgejazzte Psychedelik seiner Farbtableaus fällt etwas flacher aus als früher.« (Andreas Busche im »Tagesspiegel«)
In Rom wird es für die blinde Sexarbeiterin und den Waisenjungen bald zu unsicher, und so fliehen sie mit Ritas Hilfe aufs Land, wo der erwartete Showdown im Dunkel der Nacht stattfinden wird.

»Occhiali neri« jongliert mit einigen Giallo-Versatzstücken, ist unterm Strich jedoch ein ordinärer Thriller, der jeglichen Einfallsreichtum schmerzlich vermissen lässt und ebenso gut eine B-Produktion aus den USA hätte sein können. Arabella Wintermayr zog folgendes Fazit, dem ich mich zumindest teilweise anschließen möchte: »Am Ende hat Dario Argento […] bewiesen, dass er den Giallo […] weiterhin meisterlich beherrscht. Allerdings auch, dass das Genre […] nicht mehr wirklich zeitgemäß ist. Extreme Gewaltexzesse und vermeintlich abseitige Figuren aus dem Sexarbeit-Milieu umgibt schon lange nicht mehr die Aura des Verruchten, weshalb jede Provokation, jedes Spektakel ausbleibt. Dass eine Erneuerung des Giallo gelingen kann, ist nichts, was ›Occhiali neri‹ verspricht. Viel mehr unterstreicht der Film, dass […] emotionale oder psychologische Komplexität dem Konzept des Einfachen, das den Giallo seit jeher ausmacht, entgegensteht.«
Positiv hervorzuheben ist die Arbeit von Argentos jungem Team: Arnaud Rebotini (Musik), Matteo Cocco (Kamera) und vor allem Flora Volpelière (Schnitt) haben hervorragende Arbeit geleistet. Ein großer Minuspunkt ist die hochnotpeinliche deutsche Synchronisation, bei der sich wirklich niemand auch nur die geringste Mühe gegeben hat.

André Schneider

Filmtipp #817: Hunting Ground

Hunting Ground

Originaltitel: Coto de caza; Regie: Jorge Grau; Drehbuch: Jorge Grau, Manuel S. Rivero; Kamera: Antonio Cuevas [Antonio Cuevas Jr.]; Musik: Richard Wagner; Darsteller: Assumpta Serna, Víctor Valverde, Luis Hostalot, Montserrat Salvador, Paloma Lorena. Spanien 1983.

coto de caza

»Für Menschen gibt es keine Schonzeit.«

Assumpta Serna gibt unter Jorge Graus versierter Regie einmal mehr eine Glanzvorstellung: Als Strafverteidigerin Adela Rodés kämpft sie mit leidenschaftlichem Engagement für ihre Mandanten, die meist aus prekären sozialen Verhältnissen kommen. Sie sieht die oft noch jugendlichen Straftäter als Opfer der Gesellschaft. Adela ist eine Idealistin durch und durch. Sie glaubt an konstruktive Lösungen und ist Pazifistin. Nun ist es leider gerade ihr Einsatz für den straffällig gewordenen Juanito (Manuel Rodríguez), der eine Gruppe von Kriminellen (u. a. Luis Hostalot und José Antonio García Romeu) auf sie aufmerksam macht: Nachdem sie Juanito vor Gericht erfolgreich verteidigt hat, folgen ihr die Männer und stehlen ihr Auto, während sie in einem Supermarkt einkauft. In ihrem Wagen befinden sich ihre Notizbücher sowie die Adresse ihres Landhauses außerhalb Madrids. Adela nimmt ein Taxi nach Hause und verbringt den Abend mit ihrem Mann Jorge (Valverde) und ihren beiden Kindern (Alejandro und Alicia Hernández). Während des Abendessens klingelt das Telefon, aber als Jorge abhebt, meldet sich niemand; so leise fängt der Terror an.
Ein paar Tage später, die Vorweihnachtszeit ist in vollem Gange, bricht die Bande in das Landhaus der Rodés ein, vergiftet den Hund der Familie und ist gerade dabei, es leerzuräumen, als Adela mit ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter (Salvador) auftaucht. In einem Handgemenge löst sich ein Schuss, der Jorge tötet. Die Einbrecher fliehen — nur der Bruder des Anführers hat einen epileptischen Anfall und bleibt zurück. Es handelt sich um Juanito, den Adela gerade noch verteidigt hat. Er wird festgenommen, gibt im Gefängnis die Identität seiner Komplizen jedoch nicht preis. Diese lassen von Adela und ihrer Familie nicht ab. Es beginnt ein zermürbender Alptraum, in dessen Verlauf Adela gezwungen wird, ihre moralischen und juristischen Prinzipien zu überdenken…

In »Coto de caza«, im Ausland auch unter dem Titel »Code of Hunting« bekannt, gelingt Jorge Grau eine delikate Gratwanderung. Ganz leicht hätte der Streifen zu einem plakativen Selbstjustiz-Schocker à la »Death Wish« (Regie: Michael Winner) werden können oder, noch schlimmer, zu einem rape and revenge movie wie »I Spit on Your Grave« (Regie: Meir Zarchi). Statt auf Blut und Titten setzte der Autorenfilmer glücklicherweise auf eine gut erzählte Geschichte. Der Thrill kommt auf leisen Sohlen. Eine gute Dreiviertelstunde lang etabliert Grau seine Protagonisten, er zeigt das harmonische Familienleben der Rodés und führt die Schauplätze des Horrors ein. Die Spannungsschraube wird in ruhigen Intervallen angezogen, wenn uns in Zwischenbildern die Missetaten des von Hostalot gespielten Mauri und seiner Gang gezeigt werden. Irgendwann laufen die Handlungsstränge zusammen in einem Finale, dessen eruptive Gewalt wahrlich nichts für zarte Gemüter ist. (Die FSK-Freigabe ab 18 halte ich ausnahmsweise mal für gerechtfertigt.) Hostalot spielt grenzwertig überzeichnet, geht aber mit grausamer Lust in seiner Rolle auf. »Coto de caza« steht und fällt allerdings mit Assumpta Serna, die nicht nur hilflos zusehen muss, wie ihre kleinbürgerliche Welt von Gewalt und Hass zertrampelt wird, sondern auch erlebt, wie ihre eigenen linksliberalen Wertvorstellungen zu Staub zerfallen. Ein Familien- und Wertesystem, das einer Kette von Zufällen und zweifelhaften Entscheidungen zum Opfer fällt. Serna lässt uns all dies in ihrem Gesicht miterleben, der Dialog ist für sie in diesem Film bloß sekundär. Es ist eine Leistung, die große Wertschätzung verdient. Die damals 26jährige Schauspielerin, die ursprünglich Jura studiert hatte, ist allein von ihrer Ausstrahlung her als Ehefrau, Mutter und Anwältin perfekt besetzt. Die Normalität, die Serna in diesen Film trägt, macht das Geschehen umso grausamer.
Natürlich hat der Film auch Schwächen. Die Dialoge sind, vor allem in der deutschen Synchronisation, entsetzlich plump, die Nebencharaktere oft bloß Schablonen. (Besonders unangenehm fällt es bei der Rolle von Mauris Mutter (Lorena) auf, die kaum mehr als eine groteske Karikatur ist.) Es ist, trotz aller unleugbaren Qualitäten, eben doch eine B-Produktion, und wirklicher Tiefsinn war nie Jorge Graus Stärke gewesen. Er konnte packende Geschichten erzählen, verstand sich auf Struktur und Spannungsbögen, nicht so sehr auf Dialoge und Charakterzeichnung. In diesem Spätwerk — Grau drehte in den kommenden zehn Jahren nur noch vier weitere Filme — kommt eine etwas reaktionäre Denkweise zum Vorschein, die man ihm anhand seiner früheren Werke nicht zugetraut hätte. (Auf einer Website las ich, dass Jess Franco ihn für einen Faschisten hielt. Gut, Franco erzählte wirklich viel Mist, und vermutlich mochte er Grau aus persönlichen Gründen nicht, aber die in »Coto de caza« gezeigte Selbstjustiz schlägt einen ganz anderen Ton an als beispielsweise Pena de muerte.) Interessant ist die Musikauswahl: Es werden immer wieder Motive aus Wagners »Tristan und Isolde« eingespielt. Schon das hebt »Coto de caza« positiv von anderen Quinqui-Filmen jener Jahre ab. Sehenswert!

André Schneider