Sonntage mit Sybill
Originaltitel: Les dimanches de Ville d’Avray; Regie: Serge Bourguignon; Drehbuch: Serge Bourguignon, Antoine Tudal, Bernard Eschassériaux; Kamera: Henri Decaë; Musik: Maurice Jarre; Darsteller: Hardy Krüger, Nicole Courcel, Patricia Gozzi, Daniel Ivernel, André Oumansky. Frankreich/Österreich 1962.
In seinem 1998 erschienenen Buch »Wanderjahre« (Untertitel: »Begegnungen eines jungen Schauspielers«) widmete Hardy Krüger diesem zarten, poetischen und tieftraurigen Film ein Kapitel von über 50 Seiten. (Ein Buch übrigens, das ich von Herzen empfehlen kann!) »Les dimanches de Ville d’Avray« gilt als einer der schönsten Filme der Welt und ist dennoch gerade bei uns in Vergessenheit geraten: »Der Film lief in seinen Uraufführungstheatern lange. In Paris blieb er für neun Monate im gleichen Kino, in London sechs, in Johannesburg acht, in Tokio ein Jahr, in New York ein Jahr und in Los Angeles ebenso. Nur in Deutschland war es anders. In den deutschen Kinos war der Erfolg gering. In Berlin lief ›Sonntage mit Sybill‹ vierzehn Tage. In anderen deutschen Städten wurde er nach einer Woche abgesetzt. Es ist mir nie gelungen, den Misserfolg im eigenen Land meinen Freunden […] zu deuten.« (Krüger)
Der ehemalige Dokumentarfilmer Serge Bourguignon, wie Krüger Jahrgang 1928, erzählt in seinem ersten Spielfilm die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft: Pierre, ein 30jähriger Veteran aus dem Vietnamkrieg, hat ein einfältiges Gemüt und ist Halbinvalide. Das Trauma, als Bomber versehentlich ein Kind getötet zu haben, belastet ihn schwer. Eines Abend begegnet er am Bahnhof dem Mädchen Cybèle (zu Deutsch: Sybill), das von seinem Vater, der im Ausland ein neues Leben beginnen möchte, ins Waisenhaus abgeschoben wird. Zunächst aus Mitleid, später aus Zuneigung gibt Pierre sich fortan als Cybèles Vater aus, damit das Kind wenigstens sonntags das Heim verlassen kann. Gemeinsam verbringen sie glückliche Sonntage im Park. Pierre lebt mit der Krankenschwester Madeleine zusammen, doch die Verbindung bleibt seinerseits an der Oberfläche, während ihn mit Cybèle eine eche Seelenverwandtschaft verbindet. (»Was wir hier haben«, erklärte Regisseur Bourguignon, »ist die Geschichte einer Liebe. Einer großen Liebe, fern von Sexualität. Was wir hier haben, ist Liebe im Sinne von Wärme, im Sinne von Sich-Verschenken. So, wie nur Kinder sich verschenken. Und die beiden sind ja Kinder.«) Doch die Außenwelt versteht nicht, was Pierre und Cybèle verbindet und missinterpretiert die Beziehung als sexuelles Verhältnis. Ein eifersüchtiger Arzt, der in Madeleine verliebt ist, zeigt Pierre bei der Polizei an, die ihn gnadenlos jagt. Am Ende wird Pierre von den Polizisten vor den Augen Cybèles erschossen, als er ihr gerade ihr Weihnachtsgeschenk, den Wetterhahn vom Kirchturm in der Nähe, überreichen wollte.
Im Winter gedreht, unter grauem Himmel und mit kahlen Bäumen im Park, die, wie Bourguignon ausführte, »japanischen Tuschezeichnungen ähneln«, ist »Les dimanches de Ville d’Avray« ein dunkler Märchenfilm über die Kraft der Freundschaft und die Feindseligkeit der Erwachsenenwelt. Es ist alles stimmig, von der Chemie zwischen Hardy Krüger und der kleinen Patricia Gozzi bis hin zu den Schwarzweißbildern Henri Decaës. Der Wald ist für Cybèle und Pierre ein schützendes Dach, ein wärmendes Zuhause. Wenn sie ihn betreten, werfen sie einen Stein ins unbewegte Wasser eines Sees und sehen den Ringen zu, wie sie groß und größer werden. Der Streifen ist voll von diesen kleinen, stillen Momenten der Magie des Alltags. Es ist erst der böswillige Außenblick, der die Reinheit besudelt. Gewiss ist »Les dimanches de Ville d’Avray« anno 2020 kein einfacher Film, 1962 dachte man sich bei dieser histoire d’amour nichts Schmutziges.
Der Film, in den USA von der Columbia vertrieben, wurde 1963 als Bester fremdsprachiger Film mit dem Oscar ausgezeichnet und 1964 in den Kategorien Bestes adaptiertes Drehbuch und Beste Musik nominiert. Serge Bourguignon wurde anschließend von Hollywood mit einem dicken Vertrag geködert und inszenierte den eher lauen Western »The Reward« (1965, mit Max von Sydow und Yvette Mimieux). Ein paar Jahre später und nach einem gefloppten Drama mit Brigitte Bardot machte er den Film »The Picasso Summer« (1969, mit Albert Finney), der dem Studio Warner Bros. dermaßen missfiel, dass man ganze Passagen neu drehte und das vorhandene Material gegen Bourguignons Willen umschnitt. Nach diesen Erfahrungen wandte sich der Filmemacher wieder Dokumentationen zu, bevor er sich 1992 ins Privatleben zurückzog.
André Schneider