In den Neunzigern, ich muss gerade 17 gewesen sein, besuchte ich das ehemalige Konzentrationslager in Dachau nordwestlich von München. Mittig des großen Eingangstores prangte der Spruch »Arbeit macht frei«, dessen sadistische Ironie sich mir erst im Laufe der folgenden Jahre offenbarte. Schließlich war ich mir sicher, dass die grausame Doppeldeutigkeit dieser Worte von den Nazis beabsichtigt worden war, denn in der Tat: Arbeit, die es uns ermöglicht, unsere Fähigkeiten zu entwickeln und unsere Interessen zu entfalten, macht frei, während Sklavenarbeit, die ja der Zweck der Konzentrationslager war, ihre Opfer vernichtet, indem sie ihre menschliche Identität zerstört.
Arbeit hatte in unserer Familie, die protestantisch, niedersächsisch und nachkriegsgeprägt war, eine sehr zentrale Bedeutung. Die materiellen Werte, vom Zweitauto bis zum Schrebergartenhäuschen, wurden nachbarschaftlich-repräsentativ vorgezeigt. Neidische Blicke waren erwünscht. Mein Vater arbeitete auf Montage, verließ montags um fünf Uhr früh das Haus und war erst am Freitagabend wieder da. Meine Mutter war im öffentlichen Dienst und meist schon um halb sieben im Büro; wenn sie nachmittags um 16:30 Uhr nach Hause kam, ging sie ihrem Zweitjob als Steuerberaterin nach. Dafür konnten wir zweimal jährlich in den Urlaub fliegen und waren stets tadellos gekleidet. Der schöne Schein wurde gepflegt; »Was sollen denn die Nachbarn denken?« war eine bedeutende, den Alltag begleitende Frage. Kleinbürgeralptraum. (Selbst in der Insolvenz, als es meinen Eltern richtig dreckig ging, hätten sie sich niemals die Blöße gegeben, auf ihre Haushälterin zu verzichten.)
Wie für die typischen westdeutschen Kriegsenkel üblich, wurden meine Schwester und ich selten gelobt, dafür aber oft kritisiert. Leistung war wichtig, um zu zählen, sie war das Maß aller Dinge: Wir wurden unserer Leistung entsprechend definiert und bewertet. Meine Mutter hatte schon vor unserer Geburt konkrete Pläne für unseren beruflichen Werdegang: Ich sollte Lehrer oder Anwalt, meine Schwester Bankerin oder Ärztin werden. Dass wir beide für den vorgezeichneten Weg nicht bestimmt waren, muss für meine Mutter eine entsetzliche narzisstische Kränkung gewesen sein. Wir beide, meine Schwester und ich, taten unser Bestmögliches, um sie zu kompensieren.
Mit sieben Jahren wusste ich, dass sich mein Arbeitsleben auf einer Bühne und im geschriebenen Wort gestalten würde. Es war keine Ahnung, kein Gedanke, keine Träumerei, es war ein glasklares, unumstößliches Wissen. Was ich nicht wissen konnte, war a), wie zwiespältig das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu »künstlerischen Berufen«, wie sie oft in abwertendem Ton genannt werden, ist, und b) wie beschwerlich es ist, in diesen Metiers zu reüssieren. (Über 30 Jahre später sagte eine berühmte und maßlos lebenskluge Kollegin zu mir: »Es ist in unserem Beruf fast unmöglich, jemanden zu finden, der uns weder bewundert noch verachtet«, und traf damit den Nagel auf den sprichwörtlichen Kopf.)
Der Weg, den ich schließlich beschritt, war mühsam und verflochten, leidvoll und befreiend. In meiner schauspielerischen Laufbahn wurde ich so gut wie nie tariflich bezahlt, was eine Selbstausbeutung in unterschiedlichsten Nebenjobs unausweichlich machte. Klartext: 7-Tage-Wochen, 800 Euro netto pro Monat, kein Urlaub. Später, nachdem ich in der Hoffnung auf ein besseres Auskommen meine eigene Mini-Produktionsfirma gegründet und einige Filme auf den Markt gebracht hatte, ärgerte ich mich mit meinen Verleihfirmen herum, die nie pünktlich oder ohne mehrmaliges Nachfragen die Abrechnungen machten. Das Geld, und ich spreche hier von wenigen hundert Euro pro Jahr, kam selten bei mir an. Als Schreibender erging (und ergeht) es mir kaum anders. Daran, so denke ich immer wieder, erkennt man die allgemeine Wertschätzung dieser Berufe.
Was mir meine Nebenjobs möglich machten, war eine gewisse künstlerische Unabhängigkeit. Ich konnte Nein sagen, mir meine Projekte aussuchen und war in Gestaltungsfragen völlig frei. Einige meiner Filme gewannen Preise, und im Ausland — vor allem in meiner heutigen Wahlheimat Frankreich — erfuhr ich Akzeptanz und Wohlwollen; ein starker Kontrast zur Missgunst und Geringschätzung in meinem Geburtsland.
Mein zweites — oder, wenn ich genau sein möchte, drittes — Studium sollte etwas Stabilität in mein Bohème-Leben bringen. Mit 39 Jahren wurde ich Erzieher, zuerst in einer Kita, später in einer therapeutischen Wohngruppe für psychisch und seelisch behinderte Jugendliche. Vom kreativen in den sozialen Bereich mit (weitgehend) festen Arbeitszeiten und einem ebensolchen Gehalt. Der Übergang von der Isolation in die Einsamkeit gelang mir recht gut. Die Ächtung, die einem als Künstler von der Allgemeinheit entgegengebracht wird, wich einem Cocktail aus Mitleid, welches meistens ein Nebenprodukt der Verachtung ist, und einem jovialen »Ich könnte das nicht!« bei Wochenendzusammenkünften bei Freunden.
Die Arbeitsbedingungen im Bildungsbereich sind, ganz ähnlich wie die im Gesundheitswesen, von einer permanenten Überbelastung geprägt. Dazu kommt, dass im sozialen Bereich überproportional viele asoziale Menschen arbeiten. In der Kita, in der ich während meines Studiums tätig war, waren Mobbing und Schikane an der Tagesordnung. Die hundsmiserable Führung seitens des Trägers und der Kitaleitung sorgte für Dienstausfälle aufgrund von Stresserkrankungen und zu einer hohen Personalfluktuation. Egal, wo ich hinhorche: Überall höre ich ähnliche Horrorgeschichten. Da wird die pädagogische Fachkraft mit 24 Kindern im Alter zwischen einem und sechs Jahren einen ganzen Vormittag allein gelassen, während die Kitaleitung mit ihrer Stellvertreterin bei Kaffee und Zigarette zusammensitzt. Wie in der Pflege, steigt auch im Erzieherberuf gut die Hälfte der Berufsanfängerinnen und -anfänger in den ersten fünf Jahren nach Beendigung der Ausbildung wieder aus.
Eine Anekdote aus dem Schulwesen: Während eines Praktikums in einer Grundschule sollte ich den Unterricht in einer JüL-Klasse begleiten. Auf dem Weg zum Klassenraum teilte mir die Schulleitung im Treppenhaus mit, dass die Klassenlehrerin krankheitshalber ausgefallen sei und es kleine Vertretung gäbe. Somit durfte ich als hausfremder Azubi in einer altersübergreifenden Klasse mit circa 30 Schülerinnen und Schülern die ersten zwei Unterrichtsstunden alleine gestalten — allein schon aus Versicherungsgründen grob fahrlässig!
Später, Ende 2021, wurde ich bei einem Vorstellungsgespräch knallhart belogen, was die Arbeitsumstände anging. Ich sollte in einer bilingualen Krippe die Gruppe mit den »größeren Kindern« übernehmen. Es war von 27 Kindern zwischen zwei und vier Jahren die Rede, die wir mit insgesamt sechs pädagogischen Fachkräften zu betreuen hätten. In Wirklichkeit waren es 33 Kinder unter drei Jahren und lediglich vier Fachkräfte. Das verstieß nicht nur gegen meinen Arbeitsethos, ich war dieser Strapaze weder körperlich noch psychisch gewachsen und ging nach drei Wochen.
Wir haben den höchsten Niedriglohnsektor Europas. Kürzlich sagte ein Freund zu mir: »Leider wird der Wert der Arbeit bei uns nur übers Geld ausgedrückt.« Das gab mir zu denken. Es stimmt, es hatten noch nie so viele Menschen in diesem Land Arbeit wie jetzt. Und, wie Volker Pispers anno 2016 schon treffsicher ergänzte, es konnten auch noch nie so wenige Menschen von ihrer Arbeit leben. Was sagen diese beiden Aussagen kombiniert über das Menschenbild unserer Politik aus? Wenn man die jüngsten Forderungen, die 42-Stunden-Woche wieder einzuführen und das Rentenalter auf 70 anzuheben, und den Fakt, dass ab 2030 etwa die Hälfte der Rentner von Altersarmut betroffen sein werden, hinzuaddiert, ist man schnell bei Begriffen wie Fron oder Sklaverei.
Wir spüren seit geraumer Zeit die Auswirkungen des gesellschaftspolitischen Kurses, den Deutschland Anfang des neuen Jahrtausends eingeschlagen hat. Wir sind auf dem Weg in eine entsolidarisierte Gesellschaft. Deutschlands Infrastruktur ist mit »marode« noch sehr wohlwollend umschrieben, das fängt beim Verwaltungsapparat an, geht weiter über zerbröselnde Straßen- und Schienennetze und endet bei einem zugrunde gerichteten Gesundheitssystem. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sich die betroffenen Strukturen wieder erholen. Es brennen die Bildungs- und Kultursektoren, und in praktisch allen Handwerksberufen fehlt es an Personal. Die, die es sich leisten können, wandern aus. Wertschätzung und Freiheit wären die Schlüssel zu einer lebenswerten Zukunft, doch ist beides zurzeit schwer zu finden.
André Schneider
(Dieser Essay erschien im »Konkursbuch 58: Arbeit«, herausgegeben von Claudia Gehrke. Das Buch ist überall im Handel erhältlich.)