30. November 2021

November 2022

Der November war eine emotionale und existenzielle Achterbahnfahrt, die mir a) tief in den Knochen sitzt und die b) noch nicht vorbei ist. Ende Oktober hatte Ian mir die Karten gelegt und ich muss gestehen, dass die Prognosen bis jetzt ausnahmslos richtig waren. Da waren die Ortswechsel: BerlinParisStrasbourg — Kehl und wieder zurück. Heute fahre ich erneut ins Elsass, um mir von einer freundlichen Maklerin ein paar Wohnungen zeigen zu lassen. Da ich morgen (endlich) meine Booster-Impfung bekomme, fahre ich am frühen Abend schon wieder zurück: 14 Stunden im ICE. Macht man auch nicht jeden Tag. Ich hoffe sehr, Ende der Woche einen unterschriebenen Mietvertrag zu haben, denn die Zeit rast jetzt doch ganz schön. Das Berliner Loch habe ich zum 31. Januar gekündigt, Strom, Gas und Telekom bereits zum Jahresende. Ich habe eine Liste erstellt, die ich Punkt für Punkt abarbeite, und hoffe, dass ich nichts übersehen habe. Ich möchte vor meinem Umzug noch einige Freundinnen und Freunde treffen, aber die steigenden Inzidenzzahlen bremsen mich etwas aus. Ich habe Angst, dass Weihnachten 2021 coronabedingt ins Wasser fallen könnte. Meine Schwester und ich haben uns verständigt, dass dieses Weihnachtsfest ein besonders gemütliches und harmonisches werden soll; ich habe Thea und Helena dieses Jahr kaum gesehen.

Die kurze Woche in Paris brachte ein längst überfälliges Wiedersehen mit Vanessa und Alexandre, schöne Abende mit Stéphane, ein Treffen mit Antony und Gespräche mit Tommy Weber mit sich. Begegnungen, die vieles klärten und mich mit einer bestärkten Haltung nach Strasbourg fahren ließen, in diese Stadt, die so schön ist, dass mir jedes Mal wieder der Atem stockt.

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Nein, der Abschied fällt mir nicht leicht. Aber ja, ich freue mich auf die neue Aufgabe und die neue Stadt. Zwischen diesen beiden Polen klafft ein Abgrund, der mich nachts nicht schlafen lässt und meinen Magen in eine mulmig gurgelnde Bowlingkugel verwandelt. Der Magen-Darm-Trakt spielt verrückt. Selbst meine Bemühungen, mich abzulenken, greifen nicht. Ich kann mich nicht auf das neue Buch von Jobst konzentrieren, breche meine Leseversuche stets nach zwei, drei Seiten ab. Ich gucke mir Lisa Eckhart oder Miriam Margolyes an oder höre die neue CD von Alex Beaupain. Ian stellte ich Jacques Tati vor. Alles nur kleine Stürme im Wasserglas, die das große Tohuwabohu nicht ausmerzen können. Allerdings schützt mich das Chaos davor, mich intensiver mit den Nachrichten aus Gesundheit und Politik zu befassen. Die Bilder von Baerbock, Lindner, Scholz verursachten zwar einen gruseligen Schauer, aber keinen Brechreiz. Dafür heulte ich wie ein Schlosshund über den Tod Stephen Sondheims. Ging einige seiner Songs durch, die mich in meiner Jugend so stark geprägt hatten: »Being Alive«, »Send in the Clowns«, »Another Hundred People«, »Every Day a Little Death«, »Losing My Mind«, »Not a Day Goes By«, »The Ladies Who Lunch«, »What More Do I Need?« und so weiter.
Dies war meine letzte Meldung aus Berlin. Wir lesen uns hoffentlich 2022 wieder. Kommt entspannt und vor allem gesund durch die Zeit und seid von Herzen umarmt,

André

Filmtipp #796: The Human Voice

The Human Voice

Originaltitel: The Human Voice; Regie: Pedro Almodóvar; Drehbuch: Pedro Almodóvar; Kamera: José Luis Alcaine; Musik: Alberto Iglesias; Darsteller: Tilda Swinton, Dash, Agustín Almodóvar, Miguel Almodóvar, Pablo Almodóvar. Spanien 2020.

The Human Voice

»Der Lockdown hat bewiesen, wie sehr die Menschen von Geschichten und Kultur abhängen. Unser Zuhause ist ein Gefängnis, obwohl wir es nicht mehr verlassen müssen, zieht es uns nach draußen, drängt es uns, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das Kino ist das Gegenteil von einem Gefängnis, es ist immer der Beginn eines neuen Abenteuers. Es ist eine Katharsis, die man mit anderen Menschen teilt. Für mich als Filmemacher bedeuten die Streaming-Plattformen den Verlust des Kontaktes zum Publikum. Auch wenn es nicht die beste Zeit des Kinos ist, es muss weiter bestehen!« (Pedro Almodovar)

Cocteaus »La voix humaine« wird immer zu meinen Lieblingsstücken gehören. Almodóvar gehört zu meinen liebsten Filmemachern der Gegenwart. Tilda Swinton ist eine Schauspielerin, die ich gerne sehe. Als ich 2020 erfuhr, dass der spanische Meisterregisseur Cocteaus Monolog mit La Swinton in englischer Sprache inszenierte, um es als Kurzfilm in Venedig vorzustellen, war ich over the moon, wie man nur im Englischen sagen kann.

Swinton spielt also nach Ingrid Bergman, Anna Magnani und Hildegard Knef die Frau am Telefon. Liebeskummermodus hoch zehn. Ihr zur Seite stellte Almodóvar den Hund des Geliebten, der im Stück zwar Erwähnung findet, aber bislang in keiner Adaption wirklich auftauchte. Dabei leidet der Vierbeiner (gespielt von Dash) mindestens ebenso wie die Verlassene. Anders als ihre Vorgängerinnen spielt Tilda Swinton eine moderne, autarke Frau, die an der Krise nicht zerbricht, sondern gestärkt und stolz aus ihr hervorgeht. Almodóvar betonte bei den Filmfestspielen, er habe einen Aspekt aus Cocteaus Werk destillieren wollen, der seinen Glauben an die Freiheit wiedergibt: »Seine Version ist einerseits theatralisch, andererseits kinematographisch, womit er schon die Rollenverteilung beschreibt. Für ihn habe sich der englische Text komisch angehört, als Tilda Swinton in sprach, sie veränderte ihn leicht, interpretierte ihn theaterhaft, beinahe wie bei Shakespeare, während Almodóvar dem Essay eine filmische Form gab. Textpassagen wurden gestrichen, Kulissen verschwanden, er fügte einen Racheakt hinzu. Farben und Monolog sind sehr barock, darüber hinaus ist es immer ein Experiment, die Vorlage in eine andere Sprache zu transponieren. Der Text ändert sich, sein Klang, aber auch die Perspektive.« (Kalle Somnitz)

Die Bilder von José Luis Alcaine sind exquisit wie immer und finden ihre Entsprechung in den eleganten Bauten und Kostümen, die mit der gewohnten Almodóvar’schen Sorgfalt und Präzision ausgesucht und arrangiert werden. Dabei straffte Almodóvar mit Swintons Hilfe Cocteaus Text auf weniger als 30 Minuten. Die Adaption wurde sehr frei.
Tilda Swinton reiht sich nahtlos in die lange Reihe der Almodóvar-Frauen von Carmen Maura über Victoria Abril und Marisa Paredes bis hin zu Penélope Cruz ein: hart und zerbrechlich zugleich, mit einer sinnlichen Voltkraft unter der beherrschten Fassade. »La voix humaine« beschäftigte Almodóvar seit den 1980ern: In La ley del deseo zollte er dem Stück Tribut und ließ Carmen Maura zu den Klängen von Brels immergrünen »Ne me quitte pas« mit einer Axt die Wohnungseinrichtung zertrümmern. In seiner Verfilmung, im Sommer 2020 unter strengsten Corona-Sicherheitsauflagen in Madrid entstanden, zerhackt Tilda Swinton den Anzug ihres Liebsten mit einem ähnlichen Axt-Modell. Am Ende, soviel darf verraten werden, steht die Bude in Flammen. Swinton und der Hund verlassen das Atelier: Sie müssen gemeinsam lernen, ohne den Geliebten zu leben.

André Schneider

Filmtipp #795: Die Nacht der reitenden Leichen

Die Nacht der reitenden Leichen

Originaltitel: La noche del terror ciego; Regie: Amando de Ossorio; Drehbuch: Amando de Ossorio, Jesús Navarro Carrión; Kamera: Pablo Ripoll; Musik: Antón García Abril; Darsteller: Lone Fleming, César Burner, María Elena Arpón [Helen Harp], Simón Arriaga, María Silva. Spanien/Portugal 1972.

La noche del terror ciego

Vor gut und gern 30 Jahren zeigte das Privatfernsehen — ich glaube, es war RTL — die Horror-Quadrologie von Amando de Ossorio in verstümmelter Fassung. Der erste Film der Reihe, »La noche del terror ciego«, war 1972 in die spanischen Kinos gekommen und bescherte dem B-Regisseur den größten internationalen Erfolg seiner Karriere. Selbstverständlich war das Echo der Kritik nicht besonders rosig, was das Publikum jedoch nicht im geringsten abschreckte. Die bis 1975 entstandenen Fortsetzungen — unter anderem mit Tony Kendall, Luis Barboo, Maria Perschy, María Kosty und Jack Taylor — wurden qualitativ immer schlechter, sodass auch die kommerzielle Verwertbarkeit nachließ.
Nun sah ich »La noche del terror ciego« (wörtlich übersetzt: »Die Nacht des blinden Terrors«) zum ersten Mal in seiner ganzen Pracht und ungekürzt. Ich bin zwiegespalten. Einerseits kann ich die Kritiker, welche die »holprige Inszenierung« monierten, verstehen und ärgere mich über das Fehlen jeglicher Sorgfalt, andererseits muss ich zugeben, dass der Film nicht ohne Reize ist und trotz gelegentlicher Längen seine spannenden Sequenzen hat, die sich aus einem simplen, aber effektiven Spiel mit Zeit und Raum speisen. De Ossorio war kein besonders kreativer Kopf, aber sein Einsatz von Zeitlupe war sehr klug, denn hier symbolisiert sie eine Verlangsamung der Zeit, was den Opfern der untoten Templer ein Entkommen unmöglich macht. Die Kameraarbeit ist solide, die Schauspieler agieren adäquat, die wirklich unheimliche Musik Antón García Abrils findet geschickten Einsatz. Dass die Templer blind sind und menschlichen Geräuschen folgen, war ein pfiffiger Schachzug zur Aufwertung des Drehbuches: Die Szene, in welcher Lone Flemings Herz vor Angst laut schlägt und damit die Untoten auf ihre Spur lockt, gehört zu den spannendsten des Films!

»La noche del terror ciego« beginnt in einem modernen urbanen Freibad, einem denkbar harmlosen, sonnenlichtgefluteten Ort. Hier treffen sich zufällig zwei alte Schulfreundinnen, Betty (Fleming) und Virginia (Arpón), wieder, welche anno dazumal eine lesbische Beziehung unterhielten und nun etwas fremdeln. (Diese Exposition war 1971/72 für spanische Verhältnisse ausgesprochen gewagt, kommt 2021 allerdings altbacken-naiv daher.) Man verabredet sich zu einer gemeinsamen Zugreise mit Virginias Freund Roger (Burner) und tritt diese am nächsten Tag an. Ein kleiner Flirt zwischen Betty und Roger führt zu Eifersüchteleien, die lesbische Vergangenheit der Frauen zu Spannungen, und so bricht Virginia die Reise ab, indem sie mitsamt ihres Rucksacks aus dem fahrenden Zug springt. (Proviant oder Wasser hat sie nicht dabei, dafür aber ein Kofferradio.) Ein in der Ferne vermutetes Städtchen entpuppt sich beim Näherkommen als ein verlassenes Kloster. Es wird langsam dunkel, sodass Virginia beschließt, die Nacht in dem verwaisten Gebäude zu verbringen. Ein Entschluss, der sie das Leben kosten wird.
Betty und Roger suchen die Ausreißerin, treffen in dem Kloster jedoch nur zwei Polizisten vor, die sie zur Leichenhalle bringen, wo sie die ausgeblutete Leiche ihrer Freundin identifizieren. Nun wollen sie mehr über das alte Kloster erfahren und landen schließlich bei einem Geschichtsprofessor (Francisco Sanz), der an Loriots Opa Hoppenstedt erinnert. Dieser erzählt ihnen die schier unglaubliche Geschichte eines alten Templerordens, welcher im 13. Jahrhundert die Gegend terrorisierte und dessen Mitglieder der Legende nach heute noch als reitende Zombies nach Blut dürsten.

Im Rahmen der Co-Produktionsregeln wurde ein Großteil des Films auf portugiesischem Boden gedreht, vornehmlich in Lissabon und Porto. Für die Burg der Templer wurden zwei Drehorte kombiniert, und zwar aus dem Kloster Santa María La Real de Valdeiglesias und dem Kloster El Cercón. Beide Kloster befinden sich noch heute in der Nähe von Madrid. Nach Aussagen des Regisseurs dauerte der gesamte Dreh nicht länger als vier Wochen.
Amando de Ossorio kam ursprünglich vom Radio. Seinen Jahresurlaub nutzte er, um Filme zu drehen. Nach einigen Kurz- und Dokumentarfilmen war er 1956 im Kino angelangt und legte sich sogleich mit der spanischen Zensurbehörde an, welche sein Debüt für die Kinoauswertung sperrte. Der entmutigte Regisseur wartete hiernach satte acht Jahre, bevor er seinen zweiten Film, einen müden B-Western, aus der Taufe hob. Sein Herzensprojekt, ein gotischer Giallo-Hybrid mit dem Titel »Malenka« (1969, mit Anita Ekberg), wurde von den Produzenten für den internationalen Vertrieb gekürzt und zu einem reellen Vampirfilm umgeschnitten, was dem Regisseur nicht geschmeckt haben dürfte.

André Schneider