Der November war eine emotionale und existenzielle Achterbahnfahrt, die mir a) tief in den Knochen sitzt und die b) noch nicht vorbei ist. Ende Oktober hatte Ian mir die Karten gelegt und ich muss gestehen, dass die Prognosen bis jetzt ausnahmslos richtig waren. Da waren die Ortswechsel: Berlin — Paris — Strasbourg — Kehl und wieder zurück. Heute fahre ich erneut ins Elsass, um mir von einer freundlichen Maklerin ein paar Wohnungen zeigen zu lassen. Da ich morgen (endlich) meine Booster-Impfung bekomme, fahre ich am frühen Abend schon wieder zurück: 14 Stunden im ICE. Macht man auch nicht jeden Tag. Ich hoffe sehr, Ende der Woche einen unterschriebenen Mietvertrag zu haben, denn die Zeit rast jetzt doch ganz schön. Das Berliner Loch habe ich zum 31. Januar gekündigt, Strom, Gas und Telekom bereits zum Jahresende. Ich habe eine Liste erstellt, die ich Punkt für Punkt abarbeite, und hoffe, dass ich nichts übersehen habe. Ich möchte vor meinem Umzug noch einige Freundinnen und Freunde treffen, aber die steigenden Inzidenzzahlen bremsen mich etwas aus. Ich habe Angst, dass Weihnachten 2021 coronabedingt ins Wasser fallen könnte. Meine Schwester und ich haben uns verständigt, dass dieses Weihnachtsfest ein besonders gemütliches und harmonisches werden soll; ich habe Thea und Helena dieses Jahr kaum gesehen.
Die kurze Woche in Paris brachte ein längst überfälliges Wiedersehen mit Vanessa und Alexandre, schöne Abende mit Stéphane, ein Treffen mit Antony und Gespräche mit Tommy Weber mit sich. Begegnungen, die vieles klärten und mich mit einer bestärkten Haltung nach Strasbourg fahren ließen, in diese Stadt, die so schön ist, dass mir jedes Mal wieder der Atem stockt.
Nein, der Abschied fällt mir nicht leicht. Aber ja, ich freue mich auf die neue Aufgabe und die neue Stadt. Zwischen diesen beiden Polen klafft ein Abgrund, der mich nachts nicht schlafen lässt und meinen Magen in eine mulmig gurgelnde Bowlingkugel verwandelt. Der Magen-Darm-Trakt spielt verrückt. Selbst meine Bemühungen, mich abzulenken, greifen nicht. Ich kann mich nicht auf das neue Buch von Jobst konzentrieren, breche meine Leseversuche stets nach zwei, drei Seiten ab. Ich gucke mir Lisa Eckhart oder Miriam Margolyes an oder höre die neue CD von Alex Beaupain. Ian stellte ich Jacques Tati vor. Alles nur kleine Stürme im Wasserglas, die das große Tohuwabohu nicht ausmerzen können. Allerdings schützt mich das Chaos davor, mich intensiver mit den Nachrichten aus Gesundheit und Politik zu befassen. Die Bilder von Baerbock, Lindner, Scholz verursachten zwar einen gruseligen Schauer, aber keinen Brechreiz. Dafür heulte ich wie ein Schlosshund über den Tod Stephen Sondheims. Ging einige seiner Songs durch, die mich in meiner Jugend so stark geprägt hatten: »Being Alive«, »Send in the Clowns«, »Another Hundred People«, »Every Day a Little Death«, »Losing My Mind«, »Not a Day Goes By«, »The Ladies Who Lunch«, »What More Do I Need?« und so weiter.
Dies war meine letzte Meldung aus Berlin. Wir lesen uns hoffentlich 2022 wieder. Kommt entspannt und vor allem gesund durch die Zeit und seid von Herzen umarmt,
André