29. Januar 2024

Sandra Hüller ist eine blendende Schauspielerin; die Oscarnominierung gönne ich ihr von ganzem Herzen. Ich wünschte nur, sie hätte sie für einen besseren Film bekommen. »Anatomie d’une chute« (Regie: Justine Triet) ist, obwohl hochgelobt und vielfach ausgezeichnet, kein Meisterwerk. Sicher waren meine Erwartungen angesichts der hymnischen Stimmen zu hoch gewesen. Ich hatte einen umstürzlerischen Thriller erwartet, der Sehgewohnheiten aufbricht. Hüllers Performance ist gut, doch die Charakterzeichnung ist nicht annähernd so fundiert, wie man sie bei einem zweieinhalbstündigen Film erwarten würde; letzten Endes bleibt selbst die Hauptfigur zweidimensional, was nicht an Sandra Hüller, sondern am Drehbuch liegt. Es ist ein banaler Film, der sich hochtrabend gibt, ein streckenweise interessanter, aber mitnichten packender Gesichtsfilm, der weder visuell noch erzählerisch Neues bietet. Gegen ihre Mitstreiterinnen Carey Mulligan, Emma Stone, Annette Bening und Lily Gladstone scheint Sandra Hüller mit diesem Film chancenlos. »American Fiction« (Regie: Cord Jefferson) und »Poor Things« (Regie: Yorgos Lanthimos) sehen vielversprechend aus. Bei den Männern würde es mich freuen, wenn Mark Ruffalo (vierte Nominierung) oder Robert Downey Jr. (dritte Nominierung) gewinnen würden.

André als Hippie

Gerade habe ich einen Übersetzervertrag mit einem kleinen Verlag in Deutschland abgeschlossen. Der zahlt kaum ein Sechstel von dem, was Magic Dome zahlt, aber das Buch gefällt mir so gut. Hoffe nur, ich habe mich damit nicht übernommen, denn die Zhgulyov-Reihe geht schließlich auch noch weiter. Dazu kommen noch die anderen Dinge, die ich mir aufgehalst habe. Freiwillig. Ich wollte und will das alles. Nur gerade heute wünschte ich, ich könnte mich ausklinken und einen Urlaub buchen. Der allerdings würde Geld kosten, und ich bemühe mich gerade, wirklich jeden Cent zu sparen, um »A Perfect Stranger« finanzieren zu können. Wie in den alten Zeiten, nur etwas abgesicherter. Mit 26 machten mir die Siebentagewochen nichts aus, heute, mit fast 46 Jahren, sieht es anders aus. Nur spüre ich die Angst vor der Endlichkeit. Ich möchte noch so viel kreieren, erschaffen, tun. Ich möchte so gerne noch eine Handvoll Filme drehen, bis endlich ein richtig guter dabei ist. Es sind Bücher in mir, die geschrieben werden wollen. So viele Geschichten, die ich schreibend oder schauspielerisch erzählen möchte muss. Das notwendige Strukturieren, das Takten meiner Tage trübt mir zuweilen die Laune.
Gestern noch die herzige Aktion im Louvre. (Wo war der Sicherheitsdienst?) Wie kurzsichtig, wie töricht, wie schändlich! (Und dem Klima herzlich wenig nützend.) Neben dem ganzen Übel, das der Mensch tagtäglich verursacht, sind es doch die Künste, die eine Menschlichkeit (im schönsten Wortsinne) spürbar machen. So gesehen ist ein Verbrechen gegen die Kunst ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Es wird jetzt ein Weilchen dauern, bis ich wieder von mir hören lasse — aber auch nicht zu lang. Bleibt mir gewogen und fühlt Euch umarmt,

André

Filmtipp #855: Sanfte Augen lügen nicht

Sanfte Augen lügen nicht

Originaltitel: A Stranger Among Us; Regie: Sidney Lumet; Drehbuch: Robert A. Avrech; Kamera: Andrzej Bartkowiak; Musik: Jerry Bock; Darsteller: Melanie Griffith, Eric Thal, John Pankow, Tracy Pollan, Mia Sara. USA 1992.

A Stranger Among Us

Ein unterbewerteter Film. »A Stranger Among Us«, der zwischen September und Weihnachten 1991 vor Ort in New York City gedreht wurde, wurde bei seinem Erscheinen geschmäht. Die Kritiker verglichen Sidney Lumets Mischung aus Milieustudie und Krimi unfairerweise mit »Witness« (Regie: Peter Weir) und fielen in unappetitlicher Manier über die Hauptdarstellerin Melanie Griffith her, die sie für eine eklatante Fehlbesetzung hielten. Ein Kassenerfolg war der Streifen nicht. Wenn man sich »A Stranger Among Us« heute, 32 Jahre nach seiner Premiere, unvoreingenommen anschaut, kann man ein mit Liebe zu Detail inszeniertes Werk entdecken, deren Hauptfigur im Laufe der Geschichte eine gut nachvollziehbare Veränderung durchläuft. Melanie Griffith ist, wie ich finde, zu Unrecht oft verrissen worden. (Ähnlich wie zwei andere weibliche Stars jener Zeit, Sharon Stone und Jamie Lee Curtis.) Sie besaß die naiv-sinnliche Qualität einer Monroe, gepaart mit einer großen emotionalen Intelligenz. Zu ihrer Glanzzeit drehte sie mit Regisseuren wie Jonathan Demme, Brian De Palma, John Schlesinger, Woody Allen, Abel Ferrara, John Waters, Robert Redford, Mike Nichols, Mike Figgis, Robert Benton und Adrian Lyne, musste für ihre Rollenauswahl und ihr oft zu gefühlvolles Spiel viel Häme einstecken. Nach einer Oscarnominierung 1989 geriet ihre Karriere zunehmend ins Straucheln. In »A Stranger Among Us« gibt sie eine wunderbar subtile und denkwürdige Vorstellung als toughe Polizistin, die undercover gehen muss, um einen Mord aufzuklären. Gewiss kein sonderlich kreativer Aufhänger für einen Thriller, aber die Kriminalhandlung dient in diesem Film nur als Background.
Emily Eden (Griffith) wird, nachdem sie beim Hochnehmen zweier Drogendealer wieder einmal vorschnell zur Waffe gegriffen hat, mit der Untersuchung eines Mordfalls in Brooklyn betraut. Ein junges Mitglied der jüdischen Gemeinschaft der Chassidim ist in seinem Büro ermordet worden: keine Hinweise auf den oder die Täter, keiner Fingerabdrücke, keine Anzeichen für einen Kampf oder gewaltsames Eindringen. Der Mörder hat drei Beutel mit Diamanten im Wert von über 700.000 Dollar entwendet. Emily ist überzeugt, dass das Opfer seinen Mörder gekannt haben muss, und beschließt, für die Dauer der Ermittlungen mit dem Chassidim zu leben, um einen Einblick in deren Glauben und Kultur zu erhalten. Der Rebbe (Lee Richardson) willigt ein, und seine Adoptivkinder Ariel (Thal) und Leah (Sara) unterstützen Emily, sich in der orthodoxen Gemeinde einzufinden. Bei den Chassidim erfährt Emily, die ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Vater (Burtt Harris) hat, Lebensfreude, Zusammenhalt und Menschlichkeit. Der Rebbe, ein Überlebender des Holocaust, lehrt sie, in einer Welt der Grausamkeit das Gute zu sehen. Emily verändert ihren Blick aufs Leben und kommt dem samtäugigen Ariel freundschaftlich näher. Die Gefahr ist jedoch nicht gebannt, denn der Mörder ist tatsächlich mitten unter ihnen…

Sidney Lumets erste Arbeit fürs Kino, »12 Angry Men« (1957, mit Henry Fonda), gilt zurecht als einer der besten Filme, die jemals gedreht wurden. Der ehemalige Schauspieler und TV-Regisseur drehte bis zu seinem letzten Film 50 Jahre später, »Before the Devil Knows You’re Dead« (2007, mit Ethan Hawke), über 40 weitere Kinofilme und galt als ausgesprochener Schauspielerregisseur. »A Stranger Among Us« war für den Filmemacher jüdischer Abstammung ein Herzensprojekt, dessen Entstehung er in seinem Buch »Making Movies« akribisch dokumentierte. (Das Buch erschien 1995 und wurde zu einem Meilenstein der Fachliteratur zum Thema Film.) Hervorzuheben ist die schauspielerische Leistung Eric Thals, der hier im Alter von 26 Jahren seinen Einstand beim Film gab. Er hatte ursprünglich für eine kleinere Rolle vorgesprochen und bekam dank Lumets Einsatz den Zuschlag für die Rolle des Ariel. Die ganz große Karriere blieb dem New Yorker Schauspieler leider verwehrt. Während die US-Kritiker nicht viel von »A Stranger Among Us« hielten, schwärmte man hierzulande: »Lumet […] widmet sich ausführlich und mit imposanten Bildern dem Aufeinanderprallen der gegensätzlichen Kulturen. Aussichtsreiche Krimikost mit […] Tiefgang«, urteilte »kino.de«. Das oft zitierte Das »Lexikon des internationalen Films« schrieb: »Ein hervorragend inszenierter und besetzter Thriller, der seinen Reiz aus der Begegnung mit der fremden Welt der religiösen Gemeinde […] bezieht. Weniger an äußerer Spannung als an der Entfaltung der verschiedenen Aspekte der chassidischen Kultur interessiert.«
Kino Lorber brachte »A Stranger Among Us« gemeinsam mit einigen anderen Griffith-Filmen in einer gut aufgemachten Edition heraus, die dem Film durchaus würdig ist.

André Schneider

24. Januar 2024

AfDler töten

Das Absurde ist ja, dass Parteien zu Demos gegen die AfD aufrufen, wegen derer Politik überhaupt erst zu Demos gegen die AfD aufgerufen werden muss!
Die Regierungsparteien scheinen endgültig jede Bodenhaftung verloren zu haben. Mit einer Arroganz und Planlosigkeit werden (wie leider inzwischen üblich) viel zu große Worte bemüht und viel zu starke Bilder erzeugt. Die grassierende Geschichtsvergessenheit, gepaart mit einer unreflektierten Sprache, ist beunruhigend. Es ist die ekelhafte Verharmlosung des Holocaust — die Forderung, kriminell gewordene Migranten abzuschieben, wird mit den Deportationen der Juden im Dritten Reich gleichgesetzt —, die die Menschen in die Arme der AfD treibt. Außerdem ist es wenig hilfreich, jede und jeden, der nicht die Grünen wählt, schwachsinnig zu nennen oder als Nazi zu brandmarken. Demonstrierende Bauern per se als Rechtsradikale abzustempeln: dumm! Der Aufruf, die politischen Gegner zu töten, ist weder links noch human, sondern einfach nur widerlich. Es ist eben dieses Verhalten, weswegen das Gros der konservativen, ehemals mittig-rechts zu verordnenden Wählerinnen und Wähler trotz (nicht wegen!!) solcher Schreckensgestalten wie Höcke oder der Störchin zur AfD wechseln. Hinzu kommt die Weigerung der Altparteien, ihre Politik wirklich kritisch zu hinterfragen und die Tatsache, dass wir in vielerlei Hinsicht faktisch einen Einparteienstaat ohne Opposition haben. Und dann sitzt eine Ricarda Lang tumb und bräsig in irgendeiner Talkshow und offenbart in gruseliger Hybris ihre haltlose Ahnungslosigkeit. Deutschland ist ein Schmelztiegel geworden. Ich habe große Angst, dass wir am Anfang eines Unheils stehen, dessen Ausmaße vielen gar nicht bewusst ist. Wenn es so weiter geht, wird die AfD in den neuen Bundesländern bald bei 40% liegen, und zwar nicht, weil die Wählenden alle dumme, braune Nazis sind, sondern weil ein fehlgeleiteter ideologischer Mob zu lange über die Stränge geschlagen ist.
Oh Gott, manchmal bin ich so entsetzlich müde!
Liebe Grüße,

André

Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft