Filmtipp #855: Sanfte Augen lügen nicht

Sanfte Augen lügen nicht

Originaltitel: A Stranger Among Us; Regie: Sidney Lumet; Drehbuch: Robert A. Avrech; Kamera: Andrzej Bartkowiak; Musik: Jerry Bock; Darsteller: Melanie Griffith, Eric Thal, John Pankow, Tracy Pollan, Mia Sara. USA 1992.

A Stranger Among Us

Ein unterbewerteter Film. »A Stranger Among Us«, der zwischen September und Weihnachten 1991 vor Ort in New York City gedreht wurde, wurde bei seinem Erscheinen geschmäht. Die Kritiker verglichen Sidney Lumets Mischung aus Milieustudie und Krimi unfairerweise mit »Witness« (Regie: Peter Weir) und fielen in unappetitlicher Manier über die Hauptdarstellerin Melanie Griffith her, die sie für eine eklatante Fehlbesetzung hielten. Ein Kassenerfolg war der Streifen nicht. Wenn man sich »A Stranger Among Us« heute, 32 Jahre nach seiner Premiere, unvoreingenommen anschaut, kann man ein mit Liebe zu Detail inszeniertes Werk entdecken, deren Hauptfigur im Laufe der Geschichte eine gut nachvollziehbare Veränderung durchläuft. Melanie Griffith ist, wie ich finde, zu Unrecht oft verrissen worden. (Ähnlich wie zwei andere weibliche Stars jener Zeit, Sharon Stone und Jamie Lee Curtis.) Sie besaß die naiv-sinnliche Qualität einer Monroe, gepaart mit einer großen emotionalen Intelligenz. Zu ihrer Glanzzeit drehte sie mit Regisseuren wie Jonathan Demme, Brian De Palma, John Schlesinger, Woody Allen, Abel Ferrara, John Waters, Robert Redford, Mike Nichols, Mike Figgis, Robert Benton und Adrian Lyne, musste für ihre Rollenauswahl und ihr oft zu gefühlvolles Spiel viel Häme einstecken. Nach einer Oscarnominierung 1989 geriet ihre Karriere zunehmend ins Straucheln. In »A Stranger Among Us« gibt sie eine wunderbar subtile und denkwürdige Vorstellung als toughe Polizistin, die undercover gehen muss, um einen Mord aufzuklären. Gewiss kein sonderlich kreativer Aufhänger für einen Thriller, aber die Kriminalhandlung dient in diesem Film nur als Background.
Emily Eden (Griffith) wird, nachdem sie beim Hochnehmen zweier Drogendealer wieder einmal vorschnell zur Waffe gegriffen hat, mit der Untersuchung eines Mordfalls in Brooklyn betraut. Ein junges Mitglied der jüdischen Gemeinschaft der Chassidim ist in seinem Büro ermordet worden: keine Hinweise auf den oder die Täter, keiner Fingerabdrücke, keine Anzeichen für einen Kampf oder gewaltsames Eindringen. Der Mörder hat drei Beutel mit Diamanten im Wert von über 700.000 Dollar entwendet. Emily ist überzeugt, dass das Opfer seinen Mörder gekannt haben muss, und beschließt, für die Dauer der Ermittlungen mit dem Chassidim zu leben, um einen Einblick in deren Glauben und Kultur zu erhalten. Der Rebbe (Lee Richardson) willigt ein, und seine Adoptivkinder Ariel (Thal) und Leah (Sara) unterstützen Emily, sich in der orthodoxen Gemeinde einzufinden. Bei den Chassidim erfährt Emily, die ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Vater (Burtt Harris) hat, Lebensfreude, Zusammenhalt und Menschlichkeit. Der Rebbe, ein Überlebender des Holocaust, lehrt sie, in einer Welt der Grausamkeit das Gute zu sehen. Emily verändert ihren Blick aufs Leben und kommt dem samtäugigen Ariel freundschaftlich näher. Die Gefahr ist jedoch nicht gebannt, denn der Mörder ist tatsächlich mitten unter ihnen…

Sidney Lumets erste Arbeit fürs Kino, »12 Angry Men« (1957, mit Henry Fonda), gilt zurecht als einer der besten Filme, die jemals gedreht wurden. Der ehemalige Schauspieler und TV-Regisseur drehte bis zu seinem letzten Film 50 Jahre später, »Before the Devil Knows You’re Dead« (2007, mit Ethan Hawke), über 40 weitere Kinofilme und galt als ausgesprochener Schauspielerregisseur. »A Stranger Among Us« war für den Filmemacher jüdischer Abstammung ein Herzensprojekt, dessen Entstehung er in seinem Buch »Making Movies« akribisch dokumentierte. (Das Buch erschien 1995 und wurde zu einem Meilenstein der Fachliteratur zum Thema Film.) Hervorzuheben ist die schauspielerische Leistung Eric Thals, der hier im Alter von 26 Jahren seinen Einstand beim Film gab. Er hatte ursprünglich für eine kleinere Rolle vorgesprochen und bekam dank Lumets Einsatz den Zuschlag für die Rolle des Ariel. Die ganz große Karriere blieb dem New Yorker Schauspieler leider verwehrt. Während die US-Kritiker nicht viel von »A Stranger Among Us« hielten, schwärmte man hierzulande: »Lumet […] widmet sich ausführlich und mit imposanten Bildern dem Aufeinanderprallen der gegensätzlichen Kulturen. Aussichtsreiche Krimikost mit […] Tiefgang«, urteilte »kino.de«. Das oft zitierte Das »Lexikon des internationalen Films« schrieb: »Ein hervorragend inszenierter und besetzter Thriller, der seinen Reiz aus der Begegnung mit der fremden Welt der religiösen Gemeinde […] bezieht. Weniger an äußerer Spannung als an der Entfaltung der verschiedenen Aspekte der chassidischen Kultur interessiert.«
Kino Lorber brachte »A Stranger Among Us« gemeinsam mit einigen anderen Griffith-Filmen in einer gut aufgemachten Edition heraus, die dem Film durchaus würdig ist.

André Schneider

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