Filmtipp #238: Das Geheimnis der Agatha Christie

Das Geheimnis der Agatha Christie

Originaltitel: Agatha; Regie: Michael Apted; Drehbuch: Kathleen Tynan, Arthur Hopcraft; Kamera: Vittorio Storaro; Musik: Johnny Mandel; Darsteller: Dustin Hoffman, Vanessa Redgrave, Timothy Dalton, Helen Morse, Celia Gregory. GB 1979.

Agatha

In der Nacht zum 4. Dezember 1926 verschwand die zu Lebzeiten bereits weltberühmte Krimiautorin Agatha Christie, die Schöpferin von Hercule Poirot und Miss Marple, spurlos. Nur ihr verlassenes Auto wurde gefunden. Mehr als 15.000 Personen waren mit der Suche beschäftigt, bis sie schließlich nach elf Tagen in dem verträumten Kurort Harrogate wieder auftauchte und felsenfest behauptete, sich an nichts erinnern zu können. Ihr Mann Archibald sprach in einer Pressekonferenz von »Gedächtnisverlust in Folge von Überarbeitung«. — Soweit die Fakten. Was wirklich in den elf Tagen ihres Verschwundenseins geschah, blieb bis heute ungeklärt, Agatha Christie nahm das Geheimnis 1976 mit ins Grab.
»Agatha« gibt nicht vor, die Realität zu zeigen, sondern bekennt sich schon im Vorspann freimütig zur Spekulation. Die wahren Geschehnisse bilden das Fundament, auf dem Kathleen Tynan eine packende Story konstruierte, in der die von Vanessa Redgrave (The Sea Gull) gespielte Agatha Christie sich auf raffinierte Weise selbst töten will, um sich an ihrem Mann (Dalton) und seiner Geliebten (Gregory) zu rächen. Ein amerikanischer Journalist (Hoffman) kann sie in allerletzter Minute davon abbringen.

Der englische Regisseur Michael Apted hat eine Schwäche für außergewöhnliche und starke Frauenfiguren, wie sich an der Liste seiner bekanntesten Werke unschwer erkennen lässt: »Coal Miner’s Daughter« (1980, mit Sissy Spacek), »Gorillas in the Mist« (1988, mit Sigourney Weaver), »Blink« (1994, mit Madeleine Stowe), »Nell« (1994, mit Jodie Foster), »Enough« (2002, mit Jennifer Lopez) — Filme, in denen die genauen Charakterzeichnungen der weiblichen Figuren hervorragend zutage treten. Auch »Agatha« besitzt diese Qualität, war jedoch, als er 1979 in die Kinos kam, beileibe kein Publikumserfolg. Shirley Russell erhielt eine Oscarnominierung für ihre sorgfältig gestalteten Kostüme, und auch der italienische Kameravirtuose Vittorio Storaro wurde gelobt. Doch insgesamt konnten sich die Kritiker nur schwer mit »Agatha« anfreunden und urteilten dementsprechend zwiespältig: »Kein wirklicher Kriminalfilm, keine ganze Liebesgeschichte und erst recht keine Biographie, aber irgendwie angenehm erträglich und ziellos«, schrieb Vincent Canby in der »New York Times«, während Roger Ebert sich in der »Chicago Sun-Times« unbeeindruckt vom Spiel der beiden Hauptdarsteller zeigte: »The relationship between Christie and the American journalist isn’t real. It’s never for a moment deeply felt — it’s just deeply acted.«
35 Jahre später stellt man fest, dass »Agatha« auch und vor allem von der Unterschiedlichkeit seiner beiden Stars lebt: Redgrave ist nicht nur um ein beachtliches Stück größer als Hoffman — die Szene, in der sie sich zu ihm runterbeugt, um ihn zu küssen, ist einfach herrlich! —, sie hat auch einen ganz anderen Zugang zum Schauspielen.

Die Produktionsbedingungen waren katastrophal. Der Versuch der Christie-Erben, den Film zu stoppen, blieb zwar erfolglos, verzögerte die Produktion jedoch um einige Monate und trieb die Kosten in die Höhe. Dazu kam noch, dass Julie Christie, die für eine Nebenrolle verpflichtet worden war, nach einem Rollschuh-Unfall durch Helen Morse ersetzt werden musste. Einer gewitzten Vertragsklausel hatte sie es zu verdanken, dass die Produzenten sie dennoch bezahlen mussten.
Für die Redgrave war »Agatha« der erste Film nach ihrem Oscar-Triumph mit »Julia« (Regie: Fred Zinnemann) — und doch hatte sie monetär eine bittere Pille zu schlucken: »Tatsächlich sanken meine Einkünfte erheblich. Für die Rolle in ›Agatha‹ […] bekam ich 50.000 Dollar. Davon zahlte ich zehn Prozent Provision an meinen Agenten, 60 Prozent Körperschaftssteuer, Krankenversicherung und die Lohnsteuer für Silvana und meine Sekretärin, so dass mir aufs Jahr gesehen 7.000 Pfund für meine eigenen Ausgaben blieben.« (Vanessa Redgrave, »Autobiographie«)
Dustin Hoffman indes hatte ganz andere Probleme: Er litt während des Drehs unter schweren Depressionen, die ihn um ein Haar dazu brachten, der Filmschauspielerei gänzlich den Rücken zu kehren. Ein Treffen mit den Produzenten Stanley Jaffe und Robert Benton in seinem Londoner Hotel ließ ihn seine Entscheidung revidieren, als die beiden ihm die Hauptrolle in »Kramer vs. Kramer« (Regie: Robert Benton) anboten. Seine Rolle in »Agatha« war ursprünglich nur als Nebenfigur angelegt gewesen, doch hatten die Verleihfirma First Artists und er auf einer Erweiterung des Parts bestanden, was eine extensive Umarbeitung des Drehbuches unerlässlich machte. Hierfür wurde dann Arthur Hopcraft als Co-Autor engagiert, der zusammen mit Hoffman dessen Szenen so ausarbeitete, dass schließlich der Journalist (und nicht Agatha Christie) die zentrale Figur des Streifens wurde. David Puttnam, einer der ursprünglichen Produzenten, hatte nach etlichen Sonderwünschen und Skriptänderungen schließlich die Schnauze voll. Er warf das Handtuch und schwor, nie wieder mit Hoffman zu arbeiten.
Angesichts dieser chaotischen Entwicklungen hinter den Kulissen ist es erstaunlich, was für ein interessanter und spannender Streifen »Agatha« geworden ist.

André Schneider

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