Filmtipp #606: Zeugin der Anklage

Zeugin der Anklage

Originaltitel: Witness for the Prosecution; Regie: Alan Gibson; Drehbuch: John Gay; Kamera: Arthur Ibbetson; Musik: John Cameron; Darsteller: Ralph Richardson, Deborah Kerr, Beau Bridges, Donald Pleasence, Diana Rigg. USA/GB 1982.

Ich habe mich riesig gefreut, als Alan Gibsons »Witness for the Prosecution« diesen Monat endlich auf DVD erschien. Ich muss gestehen, dass ich diese TV-Adaption von Agatha Christies 1953 uraufgeführtem Bühnenstück viele Jahre vor dem Wilder-Klassiker (1957) mit Charles Laughton und Marlene Dietrich sah. Anfang der 1990er war ich großer Fan von »The Avengers« und damit auch von Emma Peel alias Diana Rigg, und so zeichnete ich alles, was im Fernsehen lief, auf VHS auf. »Witness for the Prosecution« lief seinerzeit im Nachtprogramm der ARD; ich erinnere mich noch gut, wie ich unseren alten Videorekorder programmierte, weil ich nicht so lange aufbleiben durfte. Morgens sah ich den Film dann noch im Schlafanzug und war wie gebannt. Was für eine Story! Beau Bridges, der im Vergleich etwas langweilig-biedere Bruder von Jeff, spielt Leonard Vole, ein Tunichtgut, der des Mordes an einer reichen Witwe beschuldigt wird. Ihm droht die Todesstrafe. Sein Anwalt ist mit der Verteidigung haltlos überfordert, und so wird Sir Wilfred Robarts (Richardson) konsultiert, der sich gerade von einem Herzinfarkt erholt und sich eigentlich schonen sollte — worauf eine aufdringliche Krankenschwester namens Miss Plimsoll (Kerr) argusäugig achtet. Doch der knifflige Fall reizt den alten Staranwalt zu sehr, als dass er ihn ablehnen könnte. Die Beweislage gegen Vole ist erdrückend, nur seine Frau könnte sein Alibi bestätigen. Und hier liegt die Krux: Vole ist verheiratet mit der deutschstämmigen Christine (Rigg), einer Frau, die kalt und unnahbar wirkt und niemanden hinter ihre Fassade blicken lässt. Leonard rechnet fest mit der Rettung durch seine liebende Frau: »Wie ein Ertrinkender, der sich an eine Rasierklinge klammert«, wie Sir Wilfred ganz treffend bemerkt, denn vor Gericht erscheint Christine nicht als Zeugin der Verteidigung, sondern für die Anklage…

Für den Fall, dass irgendwer das Stück oder Billy Wilders fulminante Kinofassung nicht kennen sollte, beende ich die Inhaltsangabe an dieser Stelle. Es sei nur verraten, dass es einige pfiffige Tricks und Wendungen gibt — Agatha Christie war hier in Höchstform. Die Wilder-Verfilmung protzte mit exzellenten Schwarzweißbildern (Kamera: Russell Harlan), die das Gerichtsdrama so packend einfingen, dass der Streifen noch heute ein hochspannendes Stück Kino ist. Ironischerweise ließ Wilder sich in technischer Hinsicht von »The Paradine Case« (Regie: Alfred Hitchcock) inspirieren, einem weniger gelungenen Gerichtsfilm, der mit Untersichten, Schwenks und Zwischenschnitten das dialoglastige Stück aufbrechen wollte. (Hitchcock wurde in späteren Jahren regelmäßig für »Witness for the Prosecution« gratuliert, während Wilder Komplimente für »The Paradine Case« erhielt.) Die hervorragende Besetzung — neben Laughton und Dietrich waren Tyrone Power, Elsa Lanchester und John Williams mit von der Partie — und die exzellenten Verdienste in Sachen Schnitt (Daniel Mandell) und Bauten (Alexandre Trauner) machten aus »Witness for the Prosecution« einen zeitlosen Klassiker, der anno 1958 mit sechs Oscarnominierungen bedacht wurde und heute noch zu den besten Filmen aller Zeiten gezählt wird. Das Remake von Alan Gibson ist etwa 20 Minuten kürzer und irgendwie straffer, obwohl man sich beinahe wortwörtlich an das Original-Skript von Harry Kurnitz und Billy Wilder hielt. Ich kann nicht genau sagen, warum, aber ich mag den Fernsehfilm etwas lieber als den Klassiker. Vielleicht liegt es an der »frischeren« Besetzung? Diana Rigg berührte mich mehr als die Dietrich. Der Vergleich zwischen den beiden erübrigt sich, Rigg ist ein ganz anderer Typ Frau. Classy, gewiss, aber nicht so glamourös wie Marlene. Beide Schauspielerinnen lieferten als Christine Vole eindrucksvolle Darbietungen — die Rolle an und für sich ist in ihrer Vielschichtigkeit geradezu ein Geschenk für jede Schauspielerin —, aber Diana Rigg, die unlängst übrigens ihren 80. Geburtstag feierte, hat für mich die Nase vorn. Das Zusammenspiel von Laughton und Lanchester war dafür amüsanter als der Schlagabtausch zwischen Richardson und Kerr, und auch Tyrone Power war ein besserer Leonard Vole als Beau Bridges. Dafür spielen in der 1982er Version noch Donald Pleasence, Wendy Hiller, Michael Gough, Peter Sallis, Richard Vernon und Peter Copley mit. Gedreht wurde in den altehrwürdigen Twickenham-Studios. Arthur Ibbetsons Kameraarbeit wurde für einen Emmy nominiert. 2016 entstand für die BBC noch eine weitere Adaption (u. a. mit Kim Cattrall), und gerade ist ein US-Remake von und mit Ben Affleck in der Mache, die 2019 ins Kino kommen soll.

André Schneider

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