Les hautes solitudes
Originaltitel: Les hautes solitudes; Regie: Philippe Garrel; Drehbuch: Philippe Garrel; Kamera: Philippe Garrel; Darsteller: Jean Seberg, Tina Aumont, Nico, Laurent Terzieff. Frankreich 1974.
Die Gesichter dreier Frauen und eines Mannes, 82 Minuten lang, schwarzweiß, komplett ohne Ton — ein waghalsiges Experiment des damals gerade 26jährigen Autorenfilmers Philippe Garrel (Vater von Louis), der mit diesem sich an Andy Warhols frühen Werken orientierenden Streifen dem facettenreichen Gesicht der 35jährigen Jean Seberg ein Denkmal setzte: »Die Idee war, einen Film aus den Outtakes eines Films zu machen, den es nie gegeben hat. Ich entwickelte ›Les hautes solitudes‹ als Outtake aus der rauen Textur ihres Gesichts. Ihre Freunde, ihr Agent, einfach jeder dachte, ich sei nicht ernst zu nehmen in meinen Absichten. Jeden Tag besuchte ich Jean mit meiner Kamera in ihrer Wohnung und filmte sie auf dem Balkon und nahe am Fenster, oft für Stunden, ohne Rolle und ohne Skript. Niemand dachte, dass daraus ein echter Film werden würde, aber sie war so unabhängig und scherte sich nicht um die Meinungen anderer. In meinen Augen ist ›Les hautes solitudes‹ ebenso Jean Sebergs Film wie meiner.«
Nach den Misserfolgen von »Les oiseaux vont mourir au Pérou« (1968) und »Kill!« (1971), die Jean Seberg mit ihrem Ehemann Romain Gary gedreht hatte, sollte es nur noch ein interessantes Filmprojekt für die angeschlagene Aktrice geben: Philippe Garrel gelang es in »Les hautes solitudes«, die Seberg in eine äußerste Grenzerfahrung zu treiben. »Ihr Gesicht erscheint hier wie von Panik ergriffen angesichts einer fortwährenden Befragung, auf die es keine Antwort weiß. Vor dem leeren Auge der Kamera, die ihre Filmrolle abspult, zeigt die Schauspielerin zunehmend ihr Unbehagen, ja das Unerträgliche der Bloßstellung.« (Antoine de Baecque)
Interessanterweise beginnt »Les hautes solitudes« mit Warhols einstiger Muse Nico (1938-1988), die zur damaligen Zeit mit Garrel auch privat liiert war und der Kamera ihr herbes Gesicht wie ein Bilderbuch anbietet: »Lest ruhig in mir, wenn’s euch Freude macht«, scheint es zu raunen. Dann erscheinen nacheinander Tina Aumont (1947-2006) und Laurent Terzieff (1935-2010), bevor schließlich Jean Seberg (1938-1979) — gewissermaßen als »Star« — auftritt. Größtenteils in ihrer eigenen Wohnung gedreht, 15 Jahre nach ihrem Bombenerfolg mit Godard, blickt sie direkt in die Kamera, oft minutenlang, tieftraurig, anklagend, desolat. Wir sehen ein Gesicht, das von Angst und Einsamkeit, von Alkohol und zu vielen Abschieden förmlich zerschnitten scheint — und dabei eine fast Poe’sche Schönheit freilegt, die nur wenige Gesichter transportieren können. Eine Verleumdungskampagne des FBI hatte Seberg ihre Tochter, ihre Ehe, ihre Karriere und ihre Gesundheit gekostet. 1974 hatte sie bereits fünf Suizidversuche überlebt, fünf Jahre später wurde ihre Leiche schließlich gefunden. (Die genauen Umstände ihres Todes blieben ungeklärt, ein Selbstmord kann allerdings ausgeschlossen werden.) Mit diesem Wissen ist »Les hautes solitudes« szenenweise besonders schwer anzuschauen. Am berühmtesten ist mit Sicherheit die Sequenz, die nach etwa 22 Minuten — also recht früh im Film — beginnt: Seberg »spielt« ihren Selbstmord mit Schlaftabletten und wird von Tina Aumont »gerettet«. Als diese Szene gedreht wurde, war Garrel erschrocken und überzeugt, Seberg würde sich tatsächlich vor laufender Kamera das Leben nehmen und brach den Dreh ab.
Garrel war nicht nur Regisseur, Autor, Produzent und Kameramann, er fungierte bei »Les hautes solitudes« auch als Cutter. Ursprünglich hatte er geplant, das Bildmaterial mit Musik unterlegen zu lassen, doch als er den Rohschnitt seiner Hauptdarstellerin zeigte, bat sie ihn, den Film so zu lassen, wie er ist. Garrel respektierte Sebergs Wunsch, und so kam der Experimentalfilm 1974 ohne Vor- oder Abspann, ohne Musik oder sonstigen Schnickschnack in die Kinos: Ein Stück cinéma vérité, wahrhaftiges Kino, wie es vermutlich nur noch in den 1970ern möglich gewesen war. Das Filmmagazin »Les Inrockuptibles« erstellte 2014 eine Liste der 100 schönsten französischen Filme aller Zeiten, und »Les hautes solitudes« landete auf Platz 25.
André Schneider