Filmtipp #843: Seitenspiel

Seitenspiel

Originaltitel: In From the Side; Regie: Matt Carter; Drehbuch: Matt Carter, Adam Silver; Kamera: Matt Carter; Musik: Matt Carter; Darsteller: Alexander Lincoln, Alexander King, William Hearle [Will Hearle], Alex Hammond, Pearse Egan. GB 2022.

im from the side

Schwule Geschichten aus dem Sportmilieu scheinen das Publikum sehr zu erfreuen, was man an erfolgreichen Werken wie Les crevettes pailletées und diesem Herzensprojekt des jungen Engländers Matt Carter eindrucksvoll sehen konnte. Carter, der früher selbst Rugby gespielt hatte, führte bei seinem Erstlingswerk nicht nur Regie, sondern fungierte auch als Co-Produzent, Co-Autor, Kostümdesigner, Komponist, Kameramann, Casting Director und Cutter und zeichnete außerdem für die Animationen und Spezialeffekte verantwortlich. Bereits vor etlichen Jahren schaltete er auf verschiedenen Plattformen Spendenaufrufe für seinen Liebesfilm, der dann 2022 nach einer der Pandemie und finanziellen Engpässen geschuldeten Verspätung endlich das Licht der Kinos erblickte.

»In From the Side« erzählt die Geschichte von Mark (Lincoln), der im B-Team eines schwulen Rugby-Vereins in Südlondon spielt und sich ausgesprochen gut schlägt. Seine Teamkollegen, vor allem der schüchterne Henry (Hearle), sind auch seine engsten Freunde. Im konkurrierenden A-Team des Vereins spielt Warren (King), der aufgrund einer Beinverletzung kurzfristig ins B-Team wechseln muss. Zwischen Mark und Warren knistert es auf Anhieb. Nach einem verlorenen Spiel wird in einem Nachtclub gefeiert. Dort kommen die beiden zum ersten Mal richtig ins Gespräch. Dann kommt ein Tequila-Shot, dann ein erster Kuss, dann passierte auf der Herrentoilette noch ein bisschen mehr. Am nächsten Morgen wacht Warren in Marks Wohnung auf und eröffnet ihm, dass er in einer festen Beziehung mit seinem Team-Kollegen John (Peter McPherson) ist und dass sie sich nicht mehr wiedersehen werden. Doch das Leben hat andere Pläne, die beiden können nicht voneinander lassen, obwohl auch Mark liiert ist: Er führt mit dem Geschäftsmann Richard (Hammond) eine offene Beziehung mit festen Regeln, die er nach und nach bricht…

Das Schöne an »In From the Side« ist seine Unaufgeregtheit: Es gibt kein Coming Out-Drama, keine tödliche Krankheit, keine Unfälle. Matt Carter erzählt eine ausgesprochen erwachsene Liebesgeschichte, das persönliche und für das Gros der Zuschauer gut nachvollziehbare Dilemma der beiden Frischverliebten steht im Fokus. Beide haben viel zu verlieren — und beide sind in einem Alter, in dem der Selbstfindungsprozess abgeschlossen ist und man für sich und seine Entscheidungen geradestehen muss. Sowohl Mark als auch Warren sind unentschlossen, wie sie sich entscheiden sollen. Diesem Umstand begegnet Carter wertfrei, er lässt uns als Zuschauer lediglich daran teilhaben und erlaubt es uns, eine eigene Haltung zu finden. Das Hauptdarsteller-Duo King und Lincoln spielt glaubhaft und mit einer erfrischenden Leichtigkeit, die in Anbetracht des Sujets und des Genres bemerkenswert ist. Es ist eine Freude, den beiden zuzusehen.

Gestalterisch stechen vor allem die Szenen auf dem Rugby-Feld hervor. Carters Kameraarbeit in diesen Sequenzen ist exquisit! Man spürt die Kälte, den Regen, den Schlamm. Die Schnitte sind dynamisch, die Zeitlupen klug gesetzt, sodass diese Szenen besonders intensiv und kurzweilig geraten sind. Darüber hinaus gibt es drei weitere Sequenzen, die durch ihre sorgfältige Gestaltung bestechen: Die Szene auf dem Rummelplatz, wo die Achterbahnfahrt mit den vielen bunten Lichtern geradezu hypnotisch-verwirrend eingefangen wird — metaphorisch für den Gefühlszustand der Protagonisten. Dann ist da die Sexszene im Hotelzimmer in Cardiff, deren Lichtsetzung so schmeichelhaft-warm ist, dass man große Lust bekommt, dabei zu sein. (Marlene Dietrich: »Sex is a question of light.«) Die dritte Szene ist die Weihnachtscollage mit Marks Eltern, in welcher der Zuschauer ein Stückchen heile Welt vermittelt bekommt.
Das Skript hat leider auch einige Schwächen. So sind etwa einige der Nebenfiguren etwas zu klischeehaft skizziert worden, es gibt keine richtige Figurenentwicklung. Zudem wirkt der Humor stellenweise aufgesetzt und unorganisch. Der Film braucht etwa eine Dreiviertelstunde, um seinen Rhythmus zu finden und ist mit seinen 135 Minuten insgesamt vielleicht ein Quäntchen zu lang geraten. Der Rugby-Hintergrund wird zwar lange etabliert, bleibt jedoch dennoch nicht mehr als eine diffuse Kulisse. Für mich die schönste Szene ist das nächtliche Gespräch zwischen Mark und seiner Mutter (Mary Lincoln), das mit einem Dialog punktet, der aus Call Me by Your Name hätte stammen können.

André Schneider

Filmtipp #842: Der Kommissar und sein Lockvogel

Der Kommissar und sein Lockvogel

Originaltitel: Dernier domicile connu; Regie: José Giovanni; Drehbuch: José Giovanni; Kamera: Étienne Becker; Musik: François de Roubaix; Darsteller: Lino Ventura, Marlène Jobert, Michel Constantin, Paul Crauchet, Alain Mottet. Frankreich/Italien 1970.

dernier domicile connu

Der Film beginnt im 12. Arrondissement von Paris. In der Rue Hector Malot hetzt ein Mann (François Jaubert) mit einer Schusswaffe die Straße entlang. Er ist offensichtlich auf der Flucht. Auf einem Wochenmarkt versuchen Passanten, ihn zu überwältigen. In seiner Panik erschießt er sie und flieht weiter. Kurz wähnt er sich in Sicherheit, als er über einen Bauzaun klettert, doch schon rauscht die Polizei mit lauten Sirenen an und der Mann wird von Inspektor Leonetti (Ventura) ohne großes Gefackel abgeknallt. Der skrupellose Bulle ist bei der Pariser Polizei ebenso erfolgreich wie gefürchtet. Er verprügelt schon einmal einen Inhaftierten, sein Vorgesetzter (Albert Dagnant) hat regelmäßig Beschwerden über ihn zu bearbeiten. Nachdem Leonetti den Sohn eines einflussreichen Anwalts bei einer Trunkenheitsfahrt im Bois de Boulogne verhaftet hat, sorgen einige Intrigen dafür, dass er versetzt wird. In seinem neuen Revier wird ihm die junge, idealistische Polizistin Jeanne Dumas (Jobert) als Partnerin zugeteilt, die ihren legendären Kollegen bewundert, jedoch ein ganz anderes Temperament hat.
Ein Staatsanwalt (Mottet) bittet Leonetti um seine Hilfe: Die Polizei sucht vergeblich einen für einen Strafprozess wichtigen Zeugen (Philippe March), ohne dessen Aussage der Schwerverbrecher Soramon (Guy Héron) nicht verurteilt werden kann. Bis zum entscheidenden Prozess bleiben Leonetti und Dumas nur sieben Tage, um den untergetauchten Zeugen aufzutreiben…
Am Ende wird der Zeuge zwar gefunden, nach der Verurteilung Soramons jedoch von dessen Handlangern getötet. Jeanne wendet sich desillusioniert von ihrem Mentor ab, dem sie vorwirft, den Zeugen aus Karrieregründen geopfert zu haben.

Das rasant inszenierte Werk gehört zu Venturas stärksten und gilt in Frankreich als Klassiker, während man ihn jenseits der Grenzen kaum wahrnahm. Es gab ein paar gute Kritiken, ja, aber das Publikum blieb dem modernen film noir fern. In der BRD startete der Film erst 1974, später brachte ihn die ARD unter dem Titel »Die letzte Adresse« im Fernsehen. In der DDR bekam er den Titel »Gesucht wird: Roger Martin« verpasst. Gedreht wurde zwischen dem 29. September und dem 19. November 1969 vor Ort in Paris, vor allem 14., 16. und 18. Arrondissement.
»Dernier domicile connu« ist ein an realistischer Schilderung des Pariser Polizeialltags interessierter Krimi mit gesellschaftskritischem Einschlag, einem fulminant-aufpeitschenden Score von François de Roubaix und einem ausgezeichnet agierenden Hauptdarsteller-Duo. Ich habe jede Minute dieses ungewöhnlichen Streifens genossen. Ansehen!

André Schneider

Filmtipp #841: Drei Farben – Blau

Drei Farben — Blau

Originaltitel: Trois couleurs : Bleu; Regie: Krzysztof Kieslowski; Drehbuch: Krzysztof Kieslowski, Krzysztof Piesiewicz, Agnieszka Holland; Kamera: Slawomir Idziak; Musik: Zbigniew Preisner; Darsteller: Juliette Binoche, Benoît Régent, Florence Pernel, Charlotte Véry, Hélène Vincent. Frankreich/Polen/Schweiz 1993.

bleu

Quand je parlerai la langue des anges,
si je n’ai pas l’amour . . .

Je ne suis que airain qui résonne.

Quand j’aurai le don de prophétie . . .
la science de tous les mystères . . .
et toute la connaissance . . .
quand j’aurai même toute la foi . . .
jusqu’a déplacer le montagnes,
si je n’ai pas l’amour . . .
je ne suis rien.

L’amour est patient, il est plein de bonté;
il supporte tout,
il espère tout,
l’amour ne périt jamais,
car les prophéties predont fin,
les langues se tairont,
la connaissance disparaîtra,
car les prophéties predont fin,
les langues se tairont,
la connaissance disparaîtra . . .
maintenant donc demeurent . . .
la foi, l’espérance et l’amour . . .
mais le plus grand de ces trois . . .
c’est l’amour

Nachdem Kieslowski mit seinem Dekalog zu »einem der wenigen unbestrittenen europäischen Regiestars« (»Blickpunkt: Film«) avanciert war, verließ er das heimatliche Polen und fing in Frankreich neu an. Dort nahm er sich mit seiner »Drei Farben«-Trilogie den Ideen der französischen Revolution, der Trikolore an: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

»Trois couleurs : Bleu«, der schönste der drei Filme, behandelt die Freiheit. Julie (Binoche) verliert bei einem Autounfall ihren Mann Patrice (Hugues Quester) und ihre Tochter. Anstatt sich in ihr inneres Gefängnis zurückzuziehen und sich dem Schmerz und der Trauer hinzugeben, wählt sie den radikalen Weg, mit allem abzuschließen: Sie verkauft alle Gegenstände, die sie an ihre verlorene Familie erinnern, zieht in eine neue Wohnung, nimmt ihren Mädchennamen wieder an und verbrennt die unvollendete Komposition ihres Mannes, der ein erfolgreicher Komponist gewesen war. Doch die neue Freiheit will nicht gelingen: Eine Journalistin (Vincent) unterstellt ihr, sie habe heimlich für ihren talentlosen Gatten komponiert, und dann taucht auch noch eine Geliebte (Pernel) von Patrice auf, die zu allem Überfluss auch noch ein Kind von ihm erwartet. Olivier (Régent), ein Mitarbeiter ihres Mannes, legt ihr nahe, Patrices Werk zu vollenden. Die wirkliche Freiheit tritt erst ein, als Julie sich ihrer Vergangenheit stellt, der Geliebten ihres Mannes verzeiht und ihr ein großzügiges Geschenk macht…

Krzysztof Kieslowski macht den Schmerz auf perfektionistische Weise filmisch sicht- und spürbar und hatte mit der großartigen Juliette Binoche das beste Medium für diese Darstellung gefunden. Der Film wurde 1993 in Venedig mit dem Goldenen Löwen geehrt und ist ein echtes Muss für jeden Cineasten. An den Kinokassen war der Streifen leider nur mittelmäßig erfolgreich. Neben Binoche und Régent glänzen Charlotte Véry und Emmanuelle Riva in ihren Nebenrollen. Kurz taucht auch Julie Delpy auf — eine Referenz an den Folgefilm, »Trois couleurs : Blanc«, der 1994 herauskam. Die Musik von Zbigniew Preisner dürfte übrigens zu den schönsten der Filmgeschichte gehören.

André Schneider