Filmtipp #816: Das Netz der tausend Augen

Das Netz der tausend Augen

Originaltitel: Le secret; Regie: Robert Enrico; Drehbuch: Robert Enrico, Pascal Jardin; Kamera: Étienne Becker; Musik: Ennio Morricone; Darsteller: Jean-Louis Trintignant, Marlène Jobert, Philippe Noiret, Jean-François Adam, Solange Pradel. Frankreich/Italien 1974.

Le secret

Der Film beginnt in einem Verlies. Gelbliches Licht, ein auf einer Folterpritsche festgezurrter Körper. Ennio Morricones unverwechselbarer Score erklingt. Kurz darauf entkommt Trintignant diesem Kerker, von dem nicht ganz klar ist: Ist es eine Irrenanstalt oder ein Gefängnis? Per Anhalter gelangt er nach Paris, wo er sich mit einer flüchtigen Bettbekanntschaft (Pradel) trifft, von der er sich Geld borgt. Dann flieht er weiter aufs Land. Per Zufall trifft er auf den naiv-freundlichen Philippe Noiret und dessen Freundin, die betörend schöne, aber skeptische Marlène Jobert. Das Paar nimmt Trintignant bei sich auf. Er erzählt ihnen, dass er von den staatlichen Organen verfolgt wird und um sein Leben fürchten muss, weil er Kenntnis von einem staatstragenden Geheimnis (worauf der Originaltitel Bezug nimmt) hat…

Besagtes Geheimnis wird, so viel darf gesagt werden, dem Zuschauer nicht verraten. Robert Enrico stößt den Zuschauer in einen fragmentarisch erzählten Strudel aus Informationen und Informationslücken und spielt praktisch den ganzen Film über mit der Frage, ob das, was Trintignant erzählt, wahr ist oder ob es sich bei ihm einfach nur um einen gefährlichen Irren auf der Flucht handelt. Die Antwort auf die Frage wird in den letzten 20 Minuten des Films gegeben und sorgt für ein mulmig-beklemmendes Gefühl in der Magengegend. Überhaupt ist »Le secret« eher ein intellektueller Nervenkitzel als ein Spannungsthriller, ein Konzept, das wir aus vielen Polit-Thrillern jener Zeit kennen. Die 1970er waren das Jahrzehnt des Paranoia- oder auch Verschwörungsthrillers. Filme wie »Soylent Green« (Regie: Richard Fleischer), »All the President’s Men« (Regie: Alan J. Pakula), »The Parallax View« (Regie: Alan J. Pakula), »Three Days of the Condor« (Regie: Sydney Pollack) oder Marathon Man hatten Hochkonjunktur. In all diesen Filmen ging es um die Ohnmachtsgefühle des Individuums, um politische Krisen und Bedrohungsszenarien in Form umfassender Verschwörungen und globaler Gut-gegen-Böse-Konfrontationen: »Oft geprägt von einer klaustrophobisch-expressionistischen Verfremdungsästhetik, entwerfen diese Werke geschlossene Welten, häufig mit subjektivierter […] Innenperspektive. Zu den bevorzugten Motiven und Figuren gehören investigative Protagonisten, die ein bösartiges System aufdecken, dessen Fäden in einem Machtzentrum zusammenlaufen.« (Henry M. Taylor)

Die Dreharbeiten zu »Le secret« begannen am 13. Februar 1974 und dauerten bis in den April. Gedreht wurde unter anderem in Paris, Mimizan und im Département Ardèche. Ein Großteil des Streifens gestaltet sich als Kammerspiel zwischen Trintignant, Noiret und Jobert, die im Zusammenspiel zu schauspielerischer Höchstform auflaufen. Der Thriller startete im Oktober 1974 in den französischen Lichtspielhäusern und wurde ein solider Publikumserfolg. Auch heute, fast 50 Jahre nach seiner Entstehung, ist »Le secret« ein zutiefst beunruhigender Film über die Allmacht von Presse und Staat — und die Hilflosigkeit des einzelnen Bürgers. Anno 2022 aktueller denn je!

André Schneider

2 thoughts on “Filmtipp #816: Das Netz der tausend Augen

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