31. Dezember 2012

Die Zeit zwischen den Jahren, die Zwischensaison, fluglahm, ermattet, wie im Jet Lag. Man bilanziert: War es ein gutes oder ein schlechtes Jahr? Zensurenverteilung an das Leben, Fazit ziehen, Zeugnis schreiben, Entschlüsse, Vorsätze fassen, Rejustierungen einleiten — und letztlich doch beim Althergebrachten bleiben, schnurzpiepegal alles. Bin kein Freund dieser Mechanismen — und mag auch die gezwungene, dogmatische, Druck ausübende Weihnachtsfröhlichkeit nicht.
Am liebsten hätte ich dieses Weihnachtsfest ganz allein mit Chelito verbracht; ein paar Spaziergänge, ein heißes Bad, leckeres Abendessen, etwas Musik und ein gutes Buch — das wäre 2012 meine Idealvorstellung gewesen. Ich wollte niemanden sehen. In den letzten Sitzungen schilderte ich Dr. F. mein Dilemma. Meine stetig wachsende Aversion gegen die »Heile Welt«-Fassade, die blutig klaffende Diskrepanz zwischen dieser Fassade und der hässlichen Realität, meine Sehnsucht nach dem Alleinsein — und das Wut fütternde Schuldgefühl, das über mich hinwegwalzen würde, wenn ich der Familie zu Weihnachten fern bliebe. Letzten Endes entschied ich mich gegen meinen Willen und verbrachte den 24. Dezember mit meiner Familie. Die Selbstvorwürfe wären schlimmer gewesen, und das Fest war — vor allem aufgrund der phänomenalen Kochkünste meiner Schwester — ein letzten Endes doch recht schönes. Trotz allem.
Sicher, die Therapie gibt mir Kraft, das darf mich jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein gewaltiger Arbeitsberg vor mir liegt. Es wird schwer. Das familiäre Spinnennetz aus Abhängigkeiten, Co-Abhängigkeiten, Schuldgefühlen, Hassliebe, berechtigter Wut, Ansprüchen, Gegenansprüchen, Erwartungen und Erwartungserwartungen ist fein geknüpft, die Strukturen über Jahrzehnte gewachsen, die unzählbaren Verzahnungen und Verästelungen erstrecken sich wie Schlingpflanzen in mannigfaltige Lebensbereiche. Ich weiß schon lange, dass meine Eltern und ich niemals ein Verhältnis auf Augenhöhe, niemals die aufrichtig liebende Verbindung, die ich mir so sehr wünsche, haben werden. So sehr ich mich auch bemühe, anstrenge, verausgabe: ich werde für sie immer der undankbare, faule, missratene Sohn bleiben. Ich kann ihr Spiel nicht gewinnen, deswegen muss ich aussteigen und die Seile kappen, solange ich noch kann. Das tut weh und ist ungeheuer schwer, denn: »Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt«, wie Dr. F. vor drei Wochen sagte.
Ich muss lernen, mein Wissen um die Aussichtslosigkeit meiner Bemühungen um den Respekt (die Anerkennung? die Liebe?) meiner Eltern zu akzeptieren und der Realität ins Auge zu schauen. Nur: »Ich habe Angst, dass ich dann ganz allein sein werde.«
Dr. F.: »Das sind Sie doch schon.«

»Wie gut, dass wir in Berlin wohnen, sonst säßen wir alle längst in der Klapse!« — So oder so ähnlich heißt es in »Nischt jeht über jute Nachbarschaft«, dem neuen Stück des Spandauer Volkstheaters Varianta, das ich mir am 16. Dezember ansah. Alexander Haugg, Alexander Rohde und Volker Waldschmidt waren einfach prima! Oh, und dann sah ich auch noch die O-Tonpiraten in »Auf großer Fahrt« und Tillys glänzenden Auftritt als Lotti Huber in »Lotti! — Die Zitrone kehrt zurück«. Wie respekt- und liebevoll Alexander Katt und Tilly dem Leben der Huber Tribut zollten, war so rührend, dass ich tränenüberströmt das Theater verließ.
Im Kino sah ich mir, aller schlechten Kritiken trotzend, das Remake von »Maniac« (Regie: Franck Khalfoun) an. Das Original von William Lustig ist ja leider, leider indiziert und (wenn überhaupt) nur in verstümmelter Fassung zu kriegen. Und da ich Alexandre Aja, der die Neuverfilmung nicht nur produzierte, sondern auch schrieb, schätze, dachte ich, es würde ein unterhaltsamer Abend werden. Wurde es aber nicht. Wenn ein Horrorfilm etwas nicht sein darf, dann ist es langweilig. Und »Maniac« ist sterbenslangweilig. Der Einfall mit der subjektiven Kamera — man sieht Elijah Wood nur, wenn er in einen Spiegel schaut — war originell, die Musik war gut und zollte dem Original Tribut, Baxters Schnitte waren wie immer brillant, aber als Gesamtpaket überzeugte mich der Brei nicht. Bleibt nur zu erwähnen, dass die Hauptdarstellerin zuckersüß war und man ihr wünscht, dass ihre junge Karriere diesen Flop überlebt. Die Schaufensterpuppen in »Spasmo« (Regie: Umberto Lenzi, siehe hier) waren furchteinflößender. Hätte ich mir doch lieber »Life of Pi« (Regie: Ang Lee) angeschaut…
Ansonsten war ich schon länger nicht mehr im Kino gewesen, heulte zu Weihnachten aber Rotz und Wasser bei »The Apartment« (Regie: Billy Wilder) und schmolz bei Hitchcocks »Vertigo« (1958) formvollendet dahin. Beide Filme hatte ich mehrere Jahre nicht mehr gesehen und war halb perplex, wie zeitlos schön und betörend sie sind. Solche Filme machen sie heute gar nicht mehr!
Habe nach langer Zeit mal wieder »The American Theatre Songs«-CD von Lotte Lenya ausgegraben — ach, schöner geht’s kaum! Wie Lavendel-Duftöl fürs Ohr. Man kann schon verstehen, wieso Kurt Weill ihre Stimme so geliebt hat (»Egal, was ich komponiere, ich höre immer nur ihre Stimme!«); die Songs aus »Knickerbocker Holiday«, »Lost in the Stars«, »Lady in the Dark«, vor allem aber aus »One Touch of Venus« gehören zweifelsohne zu seinen wunderbarsten Schöpfungen. Auch sehr zu empfehlen: Ludovico Einaudi (»Nightbook«) und Joshua Radin (»We Were Here«).
Die Höhepunkte des Jahres waren für mich (spontan aufgelistet) die Schweiz, Edinburgh, Brüssel und Paris, meine Heimkehr nach Berlin, die Arbeit an und der Erfolg mit Le deuxième commencement sowie die Begegnungen mit Eric Brulin, Pascale Ourbih, Thorsten Strohbeck und Dirk Morgenstern. Mit diesem Foto möchte ich Euch ins neue Jahr schicken; es zeigt Marisa Mell und Tutte Lemkow bei den Dreharbeiten zu Basil Deardens »Masquerade« (1965) in Alicante und gehört zu meinen liebsten Bildern von ihr. Ihr kehlig-warmes Lachen ist hier so ungetrübt und offen — so wünsche ich mir 2013.

Marisa Mell

Auf vielfachen Wunsch habe ich einen mir zugesandten Fragebogen ausgefüllt. Von den 50 mir gestellten Fragen habe ich immerhin 46 beantwortet. Hier sind sie:

1.) Wann hast du Geburtstag?
Am 10. März.

2.) Was ist dein Lieblingstier?
Ich mag eigentlich alle Tiere ohne besondere Präferenzen.

3.) Was nervt dich im Moment am meisten?
Der Papierkram, der zum Jahreswechsel noch erledigt werden muss.

4.) Hast du Haustiere? Wie heißen sie?
Einen ungehorsamen, dabei aber äußerst charmanten Terrier aus Spanien, der Chelito heißt und seit nunmehr fünf Jahren bei mir wohnt.

5.) Was würdest du mit auf eine einsame Insel nehmen?
Hildegard Knef hat auf genau diese Frage geantwortet: »Einen Hubschrauber und jemanden, der das Ding auch fliegen kann.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

6.) Was ist dein Lieblingsessen?
Bin immer wieder entzückt, wie phantasievoll man Salate gestalten kann. 2012 stand für mich Gazpacho ganz weit oben auf der Favoritenliste.

7.) Was ist grade direkt neben dir?
Meine Schreibtischlampe, ein paar Bücher, ein Etui, Tesafilm, Schere… Sitze halt am Schreibtisch.

8.) Was ist dein Lieblingsfernsehsender?
Ich habe aus gutem Grund keinen Fernsehanschluss, schon seit über zwölf Jahren nicht mehr. DVDs reichen völlig.

9.) Wie würdest du gerne heißen?
Bin mit meinem Namen soweit ganz zufrieden.

10.) Welchen Film hast du zuletzt gesehen?
Das war ein kanadischer Film: »Starbuck«, die Geschichte eines Mannes, der durch seine Samenspenden 533 Kinder gezeugt hat, und über 100 von denen möchten ihn kennen lernen. Das Ganze war so schräg und abgehoben — und absolut glaubwürdig, witzig, bewegend, schön.

11.) Wo willst du deine Flitterwochen verbringen?
Namibia, Kanada, Kapstadt oder Pomene Bay.

12.) Welches Buch hast du zuletzt gelesen?
Bastian Bielendorfer, »Lehrerkind: Lebenslänglich Pausenhof«. Jack Kerouac, »Maggie Cassidy«.

13.) Wen bewunderst du am meisten?
Es gibt so, so viele Menschen, die ich aus den unterschiedlichsten Gründen bewundere. Spontan nenne ich jetzt einfach mal meine Freundin Barbara Kowa, weil sie unbeirrt ihren künstlerischen Weg geht, ganz konsequent und rein, und dabei so beeindruckende Dinge zutage fördert wie zum Beispiel ihren Film »Dreaming Mali«.

14.) Was war die letzte CD, die du gekauft hast?
Joshua Radin, »Simple Times«.

15.) Welches ist dein Lieblingsfilm?
Alfred Hitchcock, »The Birds«. Julio Medem, »Caótica Ana«.

16.) Wann hast du das letzte Mal geweint?
Gestern. Aber es waren Tränen der Rührung.

17.) An was denkst du gerade?
Ich bin mit meinen Gedanken ganz bei diesem Fragebogen.

18.) Magst du Blumen?
Ja.

19.) Bist du abergläubisch?
Manchmal sicher.

20.) Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?
Ich glaube, dass alles möglich ist.

21.) Wer ist die intelligenteste Person, die du kennst?
Oh, da gibt es einige! Mein verstorbener Großvater gehört ganz sicher nach wie vor zu den Top 5.

22.) Glaubst du an Wunder?
Oh ja! Letztlich sind es ja die kleinen Wunder, die diese Veranstaltung namens Leben so vergnüglich und aufregend machen.

23.) Mit wie vielen Kissen schläfst du?
Zwei bis vier. Ich schlafe praktisch sitzend.

24.) Was ist dein Lieblingsparfüm?
Miró, »Cabal pour homme«. Früher war es »Jaguar for Men«, das finde ich mittlerweile aber zu aufdringlich. Ein Duft sollte, wie Kleidung übrigens auch, dezent die Persönlichkeit unterstreichen.

25.) Was ist das schönste Gefühl?
Nach einem 16-Stunden-Arbeitstag endlich nach Hause gehen zu können und dann den Tag mit einem warmen Kakao in der Badewanne ausklingen lassen zu können. Vielleicht mit guter Musik im Hintergrund. Und vielleicht sogar zu zweit.

26.) Findest du dich attraktiv?
Das ist tagesformabhängig.

27.) Auf welcher Seite schläfst du?
Das variiert. Meist werde ich von meinem Hund gegen die Wand gedrückt.

28.) In was für Klamotten schläfst du?
Vor dem Zubettgehen entledige ich mich (wenn möglich) meiner Klamotten.

29.) Bist du lustig oder seltsam?
Beides.

30.) Wer ist die hässlichste Person, die du kennst?
Die Frage finde ich auf mehreren Ebenen unangemessen, fies und falsch. Oft verstecken sich unter maßgeblich »hässlichen« Gesichtern menschliche Edelsteine — und umgekehrt. Manches Mal habe ich mich von einem hübschen Äußeren täuschen lassen; dahinter gähnte oft eine Wüstenlandschaft seelischer Hässlichkeit. Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass jede und jeder von uns schöne und hässliche Aspekte hat.

31.) Betest du?
Nicht im dogmatischen, religiösen Sinne, das nicht.

32.) Ist das Glas halbvoll oder halbleer?
Da bin ich ganz pragmatisch: Wenn das Glas leer ist, fülle ich es einfach wieder auf.

33.) Bist du ein Tag- oder Nachtmensch?
Beides.

34.) Hast du schon mal geglaubt, du müsstest sterben?
Ja.

35.) Bist du kitzelig?
Das verrate ich nicht.

36.) Als was möchtest du wiedergeboren werden?
Darüber mache ich mir Gedanken, wenn’s soweit ist.

37.) Hast du Narben?
Ja.

38.) Was war dein schlimmster Alptraum?
Ich versuchte nach einem schweren Autounfall, ein kleines Mädchen zu reanimieren und schaffte es nicht. Das war ein Traum, aus dem ich schweißüberströmt aufschreckte.

39.) Hast du schon mal eine berühmte Person getroffen?
Ja.

40.) Was ist dein größtes Talent?
Andere zum Lachen bringen, selbst wenn ich weinen möchte.

41.) Kannst du gut anderen Menschen zuhören?
Ja.

42.) Welches ist deine Lieblings-Eiscreme?
Gurke-Zitrone-Minze, Erdbeer-Basilikum, Schoko-Chili, Karotte-Orange, Ingwer-Zitrone. Gibt es bei Fräulein Frost in der Friedelstraße. Köstlich!

43.) Was machst du hiernach?
Ein kleines Mittagsschläfchen.

44.) Was für Eigenschaften schätzt du bei anderen Menschen?
Humor, Loyalität, Aufrichtigkeit. Ich verzeihe niemals Verrat.

45.) Was war der größte Fehler, den du je begangen hast?
Es war definitiv stets falsch, wider mein Bauchgefühl gehandelt zu haben. Alles in mir schrie »Nein!«, und ich habe trotzdem »Ja!« gesagt. So etwas rächt sich immer bitter und ist, gepaart mit einer gewissen Unbedarftheit und Vertrauensseligkeit, ausgesprochen ungesund.

46.) Was ist dein Lebensmotto?
»Lass die Mottos hinter dir!«

Und nun wünsche ich Euch allen ein rutschiges Hinübergleiten ins Jahr 2013 (das klingt immer noch ein bisschen nach Science Fiction, oder?), wir lesen uns dann hier wieder!

André

Filmtipp #94: Mordsache Dünner Mann

Mordsache Dünner Mann

Originaltitel: The Thin Man; Regie: W. S. Van Dyke; Drehbuch: Albert Hackett, Frances Goodrich; Kamera: James Wong Howe; Musik: Dr. William Axt; Darsteller: William Powell, Myrna Loy, Maureen O’Sullivan, Nat Pendleton, Minna Gombell. USA 1934.

The Thin Man

Die Begegnung mit der kessen Millionenerbin Nora (Loy) war für den erfolgreichen, der Arbeit jedoch überdrüssigen Privatdetektiv Nick Charles (Powell) das große Los: Seit der Hochzeit widmet sich der Sunnyboy primär dem Trinken, dem aufgeweckten Terrier Mr. Asta (gespielt von Skippy, einem Fox-Terrier) und frechen Wortgefechten mit seiner Gattin. Er genießt den luxuriösen Ruhestand in der Villa seiner Frau in San Francisco — weitab vom Sündenpfuhl New York. Er denkt nicht im Entferntesten daran, jemals wieder einen Fall zu übernehmen, hat jedoch die Rechnung ohne seine Frau gemacht, deren Neugier bei einem Besuch in Manhattan geweckt wird: Der Wissenschaftler Clyde Wynant (Edward Ellis) wollte sich auf eine geheimnisvolle Reise begeben, verriet niemandem sein Ziel, versprach aber, rechtzeitig zu Weihnachten wieder in der Stadt zu sein, um der Hochzeit seiner Tochter Dorothy (O’Sullivan) beizuwohnen. Kurz vor seiner Abreise kam es zum Streit mit seiner Geliebten, die Wertpapiere aus Clydes Safe entwendet und verhökert hat. Kurz darauf wird die Dame ermordet aufgefunden, und von Wynant fehlt jede Spur. Nora und die Familie Wynant drängen den armen Nick dazu, den Fall zu übernehmen…

Der konventionell konstruierte, aber elegant gemachte Streifen wurde zum Inbegriff von sophistication, die perfekte Verschmelzung aus romantischer screwball comedy und Kriminalfilm. Ursprünglich als B-Produktion geplant, wurde der Film einer der größten Kassenschlager der dreißiger Jahre und brachte es bis 1947 auf insgesamt fünf Fortsetzungen (von denen man die letzten drei getrost vergessen kann). Dabei war das Studio zunächst sehr skeptisch gewesen. Regisseur W. S. Van Dyke, von seinen Mitarbeitern liebevoll Woody genannt, bekam erst grünes Licht, als er versprach, den Film in drei Wochen abzudrehen. Geschafft hat er es dann in zwei. Anschließend bekam Van Dyke den Beinamen »One-Take Woody« — und eine der insgesamt vier Oscarnominierungen, mit denen der Film bedacht wurde.
     Hauptgrund für das gute Gelingen und den Erfolg der Filmreihe war neben der brillanten Vorlage Dashiell Hammetts das perfekte Zusammenspiel des Hauptdarstellerduos. Was für eine Chemie! William Powell und Myrna Loy standen zwischen 1934 und 1947 in insgesamt 14 Filmen gemeinsam vor der Kamera. Als cocktailkippendes Detekivpärchen Nick und Nora Charles schrieben sie Filmgeschichte.
     Die Figur der Nora Charles konfrontierte den damaligen Zuschauer mit einem ganz neuen, unkonventionellen Frauentyp, der den Idealen der Zeit auf charmante Weise zuwiderlief: Nora ist mit ihrem Mann intellektuell auf einer Ebene und zeigt dies auf eine unterkühlte Art, mit der sie über das exzentrische Verhalten ihres Mannes schlicht hinwegsieht. Myrna Loys Sarkasmus ist göttlich! Symptomatisch für die Ausnahmestellung ihrer Figur sind Aspekte wie der beträchtliche Alkoholkonsum der jungen Frau (im dritten Teil der Reihe erzählt sie einer Freundin am Telefon: »Ja, wir hatten einen schönen Urlaub. In Boston war ich sogar nüchtern.«), ihre scharfsinnigen Deduktionen sowie die Eleganz, die ihr Verhalten auszeichnet. Dies spiegelt sich im Verhältnis zu Nick wider: Die Beziehung ist immer ironisch und als absolut ebenbürtig zu charakterisieren, was den emotional-patriarchalischen Klischees des frühen Kinos eklatant widerspricht. Insgesamt ist das Verhältnis der Eheleute der Kern der Filme, die Handlung ist dagegen fast irrelevant.
     Grandios auch der Filmhund Mr. Asta alias Skippy, den in den späten Dreißigern eine bemerkenswerte Karriere erwartete: Neben seinen Auftritten als Asta spielte er unter anderem noch Schlüsselrollen in Klassikern wie »Bringing Up Baby« (Regie: Howard Hawks), »The Awful Truth« (Regie: Leo McCarey) oder »Topper Takes a Trip« (Regie: Norman Z. McLeod). Leider wurde Skippy dermaßen populär, dass die Nachfrage nach Fox-Terriern so enorm stieg, dass die Tiere hoffnungslos überzüchtet wurden.
     Die Filmreihe wurde 1969 vom ZDF ins Deutsche synchronisiert, Rosemarie Fendel und Friedrich Schoenfelder sprachen die Rollen von Loy und Powell.

André Schneider

Filmtipp #93: Vanja – 42. Straße

Vanja — 42. Straße

Originaltitel: Vanya on 42nd Street; Regie: Louis Malle; Drehbuch: Anton Tschechow, David Mamet, André Gregory; Kamera: Declan Quinn; Musik: Joshua Redman; Darsteller: Wallace Shawn, Brooke Smith, George Gaynes, Julianne Moore, André Gregory. USA 1994.

Vanya on 42nd Street

Ein interessantes Experiment: Über einen Zeitraum von fünf Jahren traf sich der legendäre Regisseur André Gregory mit einer Gruppe exzellenter New Yorker Schauspieler, um Tschechows »Onkel Wanja« zu proben. Eine Aufführung war nie geplant; Gregory wollte ohne kommerziellen Druck arbeiten. Die Proben dienten hauptsächlich dazu, Tschechows Werk besser verstehen zu lernen. Ab und zu durften geladene Gäste den Proben beiwohnen. Geprobt wurde meist im verlassenen Victory Theatre in der 42. Straße. Als André Gregory, sein Kollaborateur Wallace Shawn und Louis Malle sich 1994 erstmalig seit ihrem großen Erfolg »My Dinner with André« (1981) zusammentaten, um das Geschehen zu dokumentieren, verlegte man sich auf das New Amsterdam Theatre. 1903 erbaut, war es ab 1907 das Zuhause der Ziegfield Follies, bevor es in den späten Dreißigern zu einem Kino umgebaut wurde. 1982 wurde das New Amsterdam Theatre »temporär« geschlossen; als Malle, Gregory und Shawn ihren »Vanya«-Film drehen wollten, stand es bereits über zehn Jahre leer und befand sich in einem erbärmlichen Zustand: Ratten hatten die Seile des Bühnenbodens zerfressen, diverse Überflutungen und Mäuse hatten die Bühne unbrauchbar gemacht, so dass das Team nur einen Teil des Orchesterbodens nutzen konnte. 1995 wurde das Haus an die Walt Disney Company vermietet, die es originalgetreu restaurierte und zwei Jahre später neu eröffnete.
     So ungewöhnlich-originell wie der Workshop an sich wurde auch der Film. Es beginnt wie eine Dokumentation: Vor dem New Amsterdam Theatre treffen sich die Darsteller des Bühnenstückes »Onkel Wanja« mit ihrem Regisseur zu einem Probedurchlauf. Man geht ins Theater, langsam starten die Proben. Der Zuschauer befindet sich in einem Theater, aber nicht in einem Theaterstück. Die Schauspieler tragen ihre Straßenkleidung, der Regisseur ist präsent — und dann gleitet das Treffen tiefer und tiefer in die Probenarbeit über, plötzlich ist der Zuschauer mitten im Stück, und Tschechow hat die Szenerie übernommen.

Im Zentrum von »Vanya on 42nd Street« steht das ausgezeichnete Ensemble: die damals fast 90jährige Phoebe Brand, die in den 1950ern auf der McCarthys Schwarzen Liste stand, George Gaynes, Jerry Mayer, Lynn Cohen, Larry Pine, Brooke Smith, Wallace Shawn und Julianne Moore sind einfach zum Niederknien. Julianne Moores Filmkarriere erfuhr damals aufgrund ihres Auftritts in Altmans »Short Cuts« (1993) gerade einen ersten Aufschwung, so dass »Vanya« mit ihrem Konterfei beworben wurde — was viele Amerikaner natürlich verwirrte: sie waren in der Annahme, der Film würde von einer Frau namens Vanya handeln, ins Kino gegangen und fühlten sich betrogen. Immerhin spielte dieses einmalige Filmexperiment auf diese Weise 1.750.000 Dollar ein. Darüber hinaus holte der Film bei verschiedenen Festivals sieben Preise und sechs weitere Nominierungen ein; bedacht wurden hauptsächlich Louis Malle, Wallace Shawn, Julianne Moore und Brooke Smith.
     »Vanya on 42nd Street« prägte mich sehr. Ich sah ihn erstmals mit 16 oder 17 und war zeitweise schwer verliebt in diesen Film. Natürlich — niemand, der das Theater liebt, kann Tschechow widerstehen. Heute, fast 20 Jahre später, beeindrucken mich die Souveränität und der Mut, mit dem Malle und seine Mitarbeiter diesen Film angegangen sind. Wie Tschechows Stücke ist auch dieses Werk zeitlos aktuell. Die Schlichtheit des Wortes findet ihre Entsprechung in Malles fabelhaft eingesetzten filmischen Mitteln. Der Streifen, Malles 33. Regiearbeit, ist eine Liebeserklärung an das Theater, an das Filmemachen, an die Dichter und an die Schauspieler. Leider wurde »Vanya on 42nd Street« der letzte Film des großen Meisters, der im November 1995 im Alter von 63 Jahren in Los Angeles starb.

André Schneider