Filmtipp #93: Vanja – 42. Straße

Vanja — 42. Straße

Originaltitel: Vanya on 42nd Street; Regie: Louis Malle; Drehbuch: Anton Tschechow, David Mamet, André Gregory; Kamera: Declan Quinn; Musik: Joshua Redman; Darsteller: Wallace Shawn, Brooke Smith, George Gaynes, Julianne Moore, André Gregory. USA 1994.

Vanya on 42nd Street

Ein interessantes Experiment: Über einen Zeitraum von fünf Jahren traf sich der legendäre Regisseur André Gregory mit einer Gruppe exzellenter New Yorker Schauspieler, um Tschechows »Onkel Wanja« zu proben. Eine Aufführung war nie geplant; Gregory wollte ohne kommerziellen Druck arbeiten. Die Proben dienten hauptsächlich dazu, Tschechows Werk besser verstehen zu lernen. Ab und zu durften geladene Gäste den Proben beiwohnen. Geprobt wurde meist im verlassenen Victory Theatre in der 42. Straße. Als André Gregory, sein Kollaborateur Wallace Shawn und Louis Malle sich 1994 erstmalig seit ihrem großen Erfolg »My Dinner with André« (1981) zusammentaten, um das Geschehen zu dokumentieren, verlegte man sich auf das New Amsterdam Theatre. 1903 erbaut, war es ab 1907 das Zuhause der Ziegfield Follies, bevor es in den späten Dreißigern zu einem Kino umgebaut wurde. 1982 wurde das New Amsterdam Theatre »temporär« geschlossen; als Malle, Gregory und Shawn ihren »Vanya«-Film drehen wollten, stand es bereits über zehn Jahre leer und befand sich in einem erbärmlichen Zustand: Ratten hatten die Seile des Bühnenbodens zerfressen, diverse Überflutungen und Mäuse hatten die Bühne unbrauchbar gemacht, so dass das Team nur einen Teil des Orchesterbodens nutzen konnte. 1995 wurde das Haus an die Walt Disney Company vermietet, die es originalgetreu restaurierte und zwei Jahre später neu eröffnete.
     So ungewöhnlich-originell wie der Workshop an sich wurde auch der Film. Es beginnt wie eine Dokumentation: Vor dem New Amsterdam Theatre treffen sich die Darsteller des Bühnenstückes »Onkel Wanja« mit ihrem Regisseur zu einem Probedurchlauf. Man geht ins Theater, langsam starten die Proben. Der Zuschauer befindet sich in einem Theater, aber nicht in einem Theaterstück. Die Schauspieler tragen ihre Straßenkleidung, der Regisseur ist präsent — und dann gleitet das Treffen tiefer und tiefer in die Probenarbeit über, plötzlich ist der Zuschauer mitten im Stück, und Tschechow hat die Szenerie übernommen.

Im Zentrum von »Vanya on 42nd Street« steht das ausgezeichnete Ensemble: die damals fast 90jährige Phoebe Brand, die in den 1950ern auf der McCarthys Schwarzen Liste stand, George Gaynes, Jerry Mayer, Lynn Cohen, Larry Pine, Brooke Smith, Wallace Shawn und Julianne Moore sind einfach zum Niederknien. Julianne Moores Filmkarriere erfuhr damals aufgrund ihres Auftritts in Altmans »Short Cuts« (1993) gerade einen ersten Aufschwung, so dass »Vanya« mit ihrem Konterfei beworben wurde — was viele Amerikaner natürlich verwirrte: sie waren in der Annahme, der Film würde von einer Frau namens Vanya handeln, ins Kino gegangen und fühlten sich betrogen. Immerhin spielte dieses einmalige Filmexperiment auf diese Weise 1.750.000 Dollar ein. Darüber hinaus holte der Film bei verschiedenen Festivals sieben Preise und sechs weitere Nominierungen ein; bedacht wurden hauptsächlich Louis Malle, Wallace Shawn, Julianne Moore und Brooke Smith.
     »Vanya on 42nd Street« prägte mich sehr. Ich sah ihn erstmals mit 16 oder 17 und war zeitweise schwer verliebt in diesen Film. Natürlich — niemand, der das Theater liebt, kann Tschechow widerstehen. Heute, fast 20 Jahre später, beeindrucken mich die Souveränität und der Mut, mit dem Malle und seine Mitarbeiter diesen Film angegangen sind. Wie Tschechows Stücke ist auch dieses Werk zeitlos aktuell. Die Schlichtheit des Wortes findet ihre Entsprechung in Malles fabelhaft eingesetzten filmischen Mitteln. Der Streifen, Malles 33. Regiearbeit, ist eine Liebeserklärung an das Theater, an das Filmemachen, an die Dichter und an die Schauspieler. Leider wurde »Vanya on 42nd Street« der letzte Film des großen Meisters, der im November 1995 im Alter von 63 Jahren in Los Angeles starb.

André Schneider