Filmtipp #763: Der Mörder kam um Mitternacht

Der Mörder kam um Mitternacht

Originaltitel: Un témoin dans la ville; Regie: Édouard Molinaro; Drehbuch: Édouard Molinaro, Gérard Oury, Alain Poiré, André Tabet, Georges Tabet; Kamera: Henri Decaë; Musik: Barney Wilen; Darsteller: Lino Ventura, Sandra Milo, Franco Fabrizi [Franco Fabrizzi], Jacques Berthier, Robert Dalban. Frankreich/Italien 1959.

un témoin dans la ville

Es ist mir unbegreiflich, wie dieser exquisite und auch nach über sechs Dekaden noch sehr spannende Thriller in Vergessenheit geraten konnte. Noch dazu, da es sich um die Adaption eines Romans von Boileau und Narcejac handelt, die bereits die Vorlagen für Les diaboliques, Les yeux sans visage und Vertigo geliefert hatten.

Lino Ventura spielt hier einen skrupellosen Mörder, allerdings keinen Gangster wie in anderen, thematisch und/oder atmosphärisch ähnlich gelagerten Filmen, sondern einen Mann, der aus Trauer und Verzweiflung zum Rächer wird. Seine Frau Jeanne (Françoise Brion) war die Geliebte eines gewissen Verdier (Berthier), einem gelackten Industriellen, der sie gleich in der ersten Szene des Films aus einem fahrenden Zug wirft. Aus Mangel an Beweisen (und Zeugen) wird die Anklage gegen Verdier fallengelassen — sehr zum Missfallen des zuständigen Richters (Michel Etcheverry). Als Verdier nachts nach Hause kommt, lauert in den Schatten des Salons bereits Ventura auf ihn, um seine Frau zu rächen. Der Mord geht reibungslos über die Bühne. Dummerweise wird Ventura alias Ancelin beim Verlassen der Villa von einem Taxifahrer namens Lambert (Fabrizi) gesehen. Diesen hatte Verdier noch bestellt, bevor er getötet wurde. Bevor Ancelin den lästigen Zeugen aus dem Weg räumen kann, fährt dieser mit seinem Taxi davon. Nun muss Ancelin einige Recherchen auf sich nehmen, um Lambert zu finden.
Parallel zu dieser in bester film noir-Manier gestalteten Haupthandlung serviert uns »Un témoin dans la ville« eine zweite, die sich mit dem Milieu der Protagonisten beschäftigt. Ancelin arbeitet in einer Spedition und ist ein schweigsamer Einzelgänger, während Lambert ein lebensfroher, frisch verliebter Mann ist, der sich gut mit seinen Taxifahrer-Kollegen versteht und gegenüber einer kessen Mitarbeiterin in der Zentrale (Milo) ernstere Absichten hegt. Hierzu schrieb Matthias Merkelbach: »Die Einblicke in die Innung der Pariser Taxifahrer bei Nacht ist mit viel Liebe zum Detail und Charme ein weiteres Indiz dafür, dass mancher Blick durchs Auge der Kamera einzig und allein in Frankreich möglich scheint.« Molinaro räumt der Liebesgeschichte zwischen Fabrizi und Milo gebührenden Raum ein.

In »Un témoin dans la ville« demonstriert Édouard Molinaro Szene für Szene fulminant seine Fähigkeiten als Filmemacher. Der Streifen hat eigentlich nur Pluspunkte: Die Nachtaufnahmen, von Kamera-Ass Henri Decaë in einer atemberaubenden Brillanz eingefangen, sind stimmungsvoll und glasklar, die Montage (Monique und Robert Isnardon) sorgt für ein rasantes Tempo und der jazzige Soundtrack evoziert Erinnerungen an Miles Davis’ Score für Ascenseur pour l’échafaud. Der Showdown vor den Greifvogelgehegen im Zoo ist in einer Art und Weise inszeniert und geschnitten, dass diese Sequenz allein an Filmhochschulen studiert werden sollte. Dies gilt ebenso für die längere Szene in der Métro, in welcher die Sicht zwischen Ancelin und Lambert immer wieder wechselt. Ein fabelhaftes Stück Film!
Erstklassig sind auch die Schauspieler, allen voran Ventura und Fabrizi, die von Molinaro souverän geführt werden. Mit von der Partie sind (zum Teil in winzigen Rollen) Ginette Pigeon als unerfahrene Prostituierte, Jacques Jouanneau, Dora Doll, Billy Kearns, Gérard Darrieu sowie Daniel Ceccaldi, der als italienischer Fahrgast in einem der Taxis für ein kurzes comic relief sorgt. Molinaro verlagerte seinen Schwerpunkt in den Sechzigern auf leichte Komödien und drehte 1973 mit Ventura und Jacques Brel den Klassiker »L’emmerdeur«.

André Schneider

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