Filmtipp #680: Mein Onkel, der Gangster

Mein Onkel, der Gangster

Originaltitel: Les tontons flingueurs; Regie: Georges Lautner; Drehbuch: Albert Simonin, Michel Audiard; Kamera: Maurice Fellous; Musik: Michel Magne; Darsteller: Lino Ventura, Bernard Blier, Francis Blanche, Claude Rich, Sabine Sinjen. Frankreich/Italien/BRD 1963.

Eigentlich war Lino Ventura nur die dritte Wahl. Georges Lautner hatte eigentlich Jean Gabin für die Hauptrolle gewinnen wollen, der stellte jedoch zu hohe Forderungen (u. a. in Hinblick auf die Drehbedingungen). Die zweite Wahl fiel auf Paul Meurisse, der jedoch krankheitshalber ausfiel und so die Manege für Ventura freigab, der hier eine seiner besten Leistungen vollbringen sollte. Die Rolle des ehemaligen Gangsters Fernand Naudin war wie für ihn maßgeschneidert — obschon es für ihn die erste komische Rolle seiner Laufbahn war. Besagter Fernand Naudin führt ein beschauliches Leben in Montauban und handelt mit Traktoren. Der Anruf seines alten Freundes Louis (Jacques Dumesnil), besser bekannt als »Der Mexikaner«, veranlasst ihn, sich ins Auto nach Paris zu setzen. Er und Louis waren früher partners in crime gewesen, und während Naudin ein bürgerliches Leben wählte, wurde Louis zu einer Art Unterweltboss, der diverse Casinos und eine illegale Schnapsbrennerei unterhält. In Paris angekommen, erfährt Naudin, dass sein Freund sterbenskrank ist. Er liegt bereits auf dem Sterbebett und überträgt ausgerechnet Naudin, den er seit 15 Jahren nicht mehr gesehen hat, die Vormundschaft für seine Tochter Patricia (Sinjen) und die Vollmachten über all seine kriminellen Geschäfte. Diese sollen möglichst bald abgewickelt werden. Fernand ist alles andere als versessen auf diese »Erbschaft«, hat jedoch keine Wahl. Dummerweise war am Totenbett des »Mexikaners« eine ganze Schar von Killern versammelt, deren Neid nun den (zum Glück gut vorbereiteten) Fernand trifft. Da wären die Brüder Raoul (Blier) und Paul Volfoni (Jean Lefebvre), der Deutsche Théo (Horst Frank) sowie die Handlanger Bastien (Mac Ronay) und Pascal (Venantino Venantini), die sich allesamt um ihren Status als Superboss betrogen sehen und nun mit aller Gewalt ihr Recht einfordern wollen…

Ein amoralischer und zuweilen sehr gewalttätiger Streifen, der an die besten film noirs von Sam Fuller erinnert, und gleichzeitig eine wilde Komödie ist dieser Klassiker, der mühelos zwischen den Genres pendelt, virtuos die Gangarten wechselt und bestens von seinen hervorragenden Schauspielern profitiert. Dabei hatte Lautner den Streifen, der auf dem Roman »Grisbi or not Grisbi« von Albert Simonin basiert, überhaupt nicht als Komödie anlegen wollen. Doch hier kam die Mitarbeit des Autoren-Stars Michel Audiard ins Spiel, der damals schon berühmt war für seinen subtilen Sprachwitz, der gemeinhin als nicht übersetzbar gilt. Für diesen Film kreierte Audiard einige gänzlich neue Slang-Begriffe, die heute, fast 60 Jahre nach der Uraufführung des Werkes, längst Teil der französischen Umgangssprache geworden sind. Da wäre die legendäre Küchenszene zu nennen, in welcher die Gangster den selbst gebrannten Schnaps des Verstorbenen verköstigen, während die Konversation völlig aus dem Ruder gerät. (Ausgerechnet diese Szene fand der Autor überflüssig, der Regisseur beharrte jedoch darauf, sie im Film zu lassen.) Charles Regnier, Pierre Bertin und Robert Dalban sollten noch Erwähnung finden; sie sind in ihren Nebenrollen wirklich großartig!

Das gehobene Feuilleton war 1963 nicht besonders erregt über die actionreiche Komödie. Das Publikum allerdings goutierte die Zusammenarbeit von Lautner und Audiard: Allein in Frankreich strömten 3,5 Millionen Zuschauer in die Kinos und machten »Les tontons flingueurs« zur erfolgreichsten französischen Kinoproduktion der Saison 1963/64. Im Laufe der Jahre bescherten ihm zahllose TV-Wiederholungen eine riesige Fangemeinde, die ihn zu einem Kultfilm werden ließen. Im November 2009 startete eine restaurierte Fassung von »Les tontons flingueurs« in den französischen Kinos — ebenfalls sehr erfolgreich. Als internationale Co-Produktion entstanden, mit Geldern aus München (Corona Filmproduktion), Rom (Ultra Film) und Paris (Gaumont), erfuhr »Les tontons flingueurs« außerhalb Frankreichs jedoch nur wenig Resonanz.
Regisseur Georges Lautner befand sich nach »Les tontons flingueurs« im Zenit seiner Produktivität. Allein 1964 kamen drei Filme von ihm in die Lichtspielhäuser, unter anderem auch die Komödie »Les Barbouzes«, ebenfalls mit Ventura, Blier und Blanche in den Hauptrollen und Dialogen von Audiard, worin die Problematik des Kalten Krieges aufs Korn genommen wurde. Zu Lautners berühmtesten Werken zählen heute außerdem »Des pissenlits par la racine« (1964, mit Louis de Funès) und »Ne nous fâchons pas« (1966, mit Ventura und Mireille Darc).
In ihrer lesenswerten Autobiographie »Schauspielerin« erinnerte sich die jung verstorbene Sabine Sinjen wie folgt an diese Arbeit: »Das war ein sehr schöner Film, in dem es richtig Spaß machte zu spielen. Ich mochte die französische Sprache, die Kollegen und überhaupt die ganze Atmosphäre furchtbar gern. Der Ventura war einfach ein toller Kerl. Ich erinnere mich an die Mittagessen mit dem gesamten Team an den langen Tischen, wenn wir schon geschminkt waren. Jeder brachte etwas Feines mit, aber das Beste hatte immer Lino Ventura dabei. Und dann der Wein. Ich dachte immer, mein Gott, vor dem Dreh! Aber es ging wunderbar. In Paris wollten sie mich nach meiner Arbeit dort […] zum Star machen. Ich habe dankend abgelehnt, da ich kein Star mehr sein wollte. Als Star kann man nichts mehr lernen, sondern muss sich immer als etwas geben, was man nicht wirklich ist. Keine gute Voraussetzung, um sein Handwerk wirklich von Grund auf zu beherrschen. Als Star arbeitet man nicht mehr richtig, man macht keine echten Erfahrungen, sondern spielt mit der Zeit nur noch dem Wunschdenken […] des Publikums entsprechend. Ich kannte das schon zur Genüge von meiner deutschen Filmkarriere, und es kam für mich […] nicht in Frage.«

André Schneider