Filmtipp #82: Fahrstuhl zum Schafott

Fahrstuhl zum Schafott

Originaltitel: Ascenseur pour l’échafaud; Regie: Louis Malle; Drehbuch: Roger Nimier, Louis Malle; Kamera: Henri Decaë; Musik: Miles Davis; Darsteller: Maurice Ronet, Jeanne Moreau, Lino Ventura, Georges Poujouli, Elga Andersen. Frankreich 1957.

Ascenseur pour l'échafaud

Louis Malles Aufsehen erregendes Regiedebüt markiert die Geburtsstunde der nouvelle vague und machte Jeanne Moreau zum Superstar. In der Buchvorlage von Noël Calef war ihre Rolle nicht mehr als die Witwe des Ermordeten, doch Malle und sein Co-Autor Roger Nimier machten sie zur zweiten Hauptfigur und den Krimi zur Liebesgeschichte, die zwischen Jacques Becker und Alfred Hitchcock oszillierte, und versetzten den Stil des amerikanischen film noir, von dem die jungen Pariser Filmemacher alle so schwärmten, mit französisch-existentialistischem Flair. Die Stadt Paris, deren Vibrationen dank des neuen empfindlichen Kodak-Filmmaterials Tri-X ganz unmittelbar und direkt aufgenommen werden konnten, diese schöne, traumverloren unglückliche Frau, die über die Champs-Élysées wandelt, Henri Decaës Kamera, die ihren schwerelosen Gang in ihre gleitenden Bewegungen aufnimmt, das sinnliche Timbre von Moreaus innerer Stimme und dazu die herzzerreißend sehnsüchtigen Töne aus der Trompete von Miles Davis: All diese Komponenten verschmelzen in »Ascenseur pour l’échafaud« zu einer Sinfonie von Liebe und Tod, in deren atmosphärischem Sog die kleinen Anfängerfehler aufgehen. Der legendäre Soundtrack und die unruhigen Bilder unterstreichen wirkungsvoll die zunehmende Verwirrung und Verzweiflung der Figuren, die sich mit einem Verbrechen aus ihrem Unglück befreien wollen, dadurch jedoch nur noch tiefer hineinschliddern.

Es geht um den perfekten Mord: Julien (Ronet) erschießt den Ehemann seiner Geliebten Florence (Moreau) und lässt das Verbrechen wie einen Selbstmord aussehen. Der raffiniert eingefädelte Plan funktioniert — doch leider hat Julien eine Kleinigkeit am Tatort vergessen, die ihn verraten und ans Messer der Justiz liefern könnte. Er muss noch einmal zurück, betritt den Fahrstuhl — und bleibt stecken, als der Hausmeister das Haus verlässt und den Strom abstellt. Während er über Nacht im Lift gefangen ist, irrt Florence verzweifelt wartend durch das nächtliche Paris.
     Neben dieser Haupthandlung, zu der Malle durch kurze Schnitte immer wieder zurückkehrt, gibt es in einer Nebenhandlung ein weiteres Pärchen, das Juliens Auto stiehlt und später mit seiner Pistole einen Mord begeht. Florence sieht das Auto an sich vorbeifahren und denkt, Julien säße mit einer fremden Frau darin. Auf ihrer Suche nach ihm wird sie als vermeintliche Prostituierte festgenommen.

Mit seinem Meisterwerk war Malle seinen Regiekollegen Godard und Chabrol gut zwei Jahre voraus — und im Gegensatz zu ihnen hatte er seine Lehrzeit nicht im Kinoraum der Cinematheque Française absolviert, sondern als Assistent und Kameramann des Dokumentarfilmers Jacques Cousteau. Einzig den Umgang mit Schauspielern konnte er dort nicht lernen, doch mit Maurice Ronet, Lino Ventura und der damals in Theaterkreisen schon anerkannte Jeanne Moreau erledigen ihre Aufgaben bravourös.
     Der eigentliche Star des Films aber ist der legendäre Jazz-Soundtrack von Miles Davis. Den ganzen Film lang sind die Liebenden, die so sehr zusammen sein wollen, dass sie ein Kapitalverbrechen in Kauf nehmen, voneinander getrennt, und treten doch über die unüberbrückbare Distanz hinweg in einen imaginären Dialog, begleitet von den klagenden Sirenenklängen aus Davis’ Trompete. So, wie Louis Malle selbst nach immer neuen Herausforderungen suchte, konnte er auch andere dazu verführen: Der berühmte amerikanische Jazzmusiker war nur ein paar Tage in der Stadt und improvisierte die Musik, die seine einzige Filmmusik bleiben sollte, in einer einzigen elektrisierenden Nacht im Tonstudio.
     Wer sich für Louis Malles unvergesslichen Film interessiert, dem empfehle ich das Buch »Malle on Malle« von Philip French, das 1993 bei Faber & Faber in London erschienen ist.

André Schneider