Filmtipp #631: Die Freunde

Die Freunde

Originaltitel: Les amis; Regie: Gérard Blain; Drehbuch: Gérard Blain, André Debaecque; Kamera: Jacques Robin; Musik: François de Roubaix; Darsteller: Philippe March, Yann Favre, Jean-Claude Dauphin, Nathalie Fontaine, Dany Roussel. Frankreich 1971.

Gérard Blain, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum 20. Mal jährt, hatte ein bewegtes Leben. Der Vater war Architekt beim Bauamt der Stadt Paris und verließ die Familie, als Gérard noch klein war. Mit seiner älteren Schwester und seiner Mutter kam der Junge nicht klar, und so verließ er als 13jähriger die Schule ohne Abschluss und schlug sich fortan als Straßenjunge durch. Das war noch während des Zweiten Weltkriegs. Eher zufällig landete Blain beim Film, zunächst als Statist, dann wurden die Rollen allmählich größer. Julien Duvivier gab ihm seine erste nennenswerte Chance in dem Thriller-Melodram »Voici le temps des assassins…« (1956, mit Jean Gabin). Da war der junge Mann bereits 26 und stand vor seiner ersten Scheidung. Kurz darauf wurde er mit Filmen von Chabrol und Truffaut zu einem der ersten Gesichter der nouvelle vague, konnte (oder wollte) sich jedoch nicht dauerhaft als Star etablieren. Er drehte einige Filme in Italien und einen US-Film mit John Wayne, weigerte sich dann aber, einen Studiovertrag in Hollywood zu unterzeichnen, da er das dortige Star-System verabscheute. Überhaupt galt Gérard Blain als nonkonformistisch, geradezu rebellisch. Diese Haltung legte er auch in späteren Jahren nicht ab und avancierte wohl auch deshalb zu einer persona non grata. Seine Freundschaft mit dem rechtsextremen Filmkritiker Michel Marmin und seine polemischen Beiträge in »Le Monde« brachten ihm in den 1980ern den Ruf ein, ein »rechter Anarchist« zu sein. Als Schauspieler fühlte Blain sich unterfordert, und so begann er mit 39 Jahren, sich als Autorenfilmer selbst zu verwirklichen. Bis zu seinem Tod konnte er neun Filme realisieren, von denen allerdings keiner ein Publikumserfolg wurde. In dem stark autobiografisch gefärbten »Un enfant dans la foule« (1976) schilderte er seine unglückliche Kindheit, in »Le pélican« (1974) geht es um seine Unzulänglichkeit als Vater. Viele seiner Werke haben offen schwule Subtexte, erheben aber gottlob nicht die emanzipatorischen Ansprüche, ohne die das zeitgenössische LGBTQ-Kino offenbar nicht auskommt. In Blains Werken als Regisseur vermischten sich Privates und Künstlerisches; so traten seine Söhne Paul, Régis und Pierre regelmäßig in den Filmen ihres Vaters auf. Mit »Le pélican« (1974) und »Pierre et Djemila« (1987) war er in Cannes für die Goldene Palme nominiert, sein Erstlingswerk, das ich heute hier in aller Kürze besprechen möchte, gewann 1971 bei den Filmfestspielen in Locarno einen Preis.
Als Filmemacher hatte Gérard Blain eine ausgeprägte Handschrift. Zeitlebens bewunderte er Robert Bresson, dessen Einfluss man in jedem seiner Filme spürte. Blain war ein Purist, der Spezialeffekte ablehnte, klaren Plansequenzen den Vorzug gegenüber schnellen Schnitten gab und bevorzugt Laien-Schauspieler einsetzte und auf professionelle Akteure verzichtete. Der Ton bei Blain war stets tadellos. Die natürlichen Geräusche — das Klirren von Geschirr, der Wind in den Baumkronen, die Schritte auf Asphalt — waren immer perfekt abgemischt. Schon bei »Les amis« überschlug sich das Feuilleton mit Lob — sogar im sonst so kunstmäkeligen Deutschland. Da hieß es: »Das Regiedebüt von Schauspieler Gérard Blain offenbart […] ein einzigartiges filmisches Talent: ein Entwicklungsroman in klaren, hellen Bildern, völlig unvoreingenom­men in der Haltung und von einer erzählerischen Reinheit, die ungeahnte kathartische Kraft entwickelt. Humanismus ohne falsches Sentiment. Selbst ein (atemberaubend unaufdringlich gezeigter) Schicksalsschlag kann nicht zerstören, was ein Mensch dem anderen (mit-)gegeben hat.«

»Les amis« ist ein sehr persönlicher, fast privater Film, dessen Reiz vermutlich darin besteht, dass er haarscharf daran vorbeigeschrammt ist, ein Meisterwerk zu sein. Es sind die kleinen Risse in der formalen Perfektion, die »Les amis« so faszinierend machen. Ein Film in sotto voce, der in Ellipsen und Andeutungen lebt, angenehm streng in seiner bildnerischen Konzeption, welche eine Intimität außerhalb der cineastischen Beweisbarkeit suggeriert. Ein Teil der Rezensenten meinte damals, eine »Verherrlichung von Pädophilie« gesehen zu haben. Tatsächlich aber ist die Thematik von »Les amis« weit weniger heikel und überlässt das Gros des Subtextes der Interpretation. Der Grundton ist die Melancholie, die unweigerlich zutage tritt, wenn man den Kontext betrachtet, in welchem Paul (Yann Favre), der Protagonist der Geschichte, lebt. Er ist 16 Jahre alt, vaterlos und lebt mit seiner Mutter in einer Sozialwohnung in der Peripherie von Paris. Er ist dem jungen Gérard Blain nicht nur optisch ähnlich, denn auch er hat die Schule verlassen, treibt sich viel auf den Straßen herum und träumt davon, Schauspieler zu werden. Der abwesende Vater schwebt über allem. Paul treibt eine Sehnsucht um nach Bindung, Verständnis, Nähe und väterliche Führung. All dies findet er bei Philippe (Philippe March), einem wohlhabenden Druckereibesitzer, der etwa 30 Jahre älter und in einer unglücklichen Ehe gefangen ist. Ihre Freundschaft gibt den beiden Geborgenheit, und Philippe wird Pauls Mentor auf der Reise ins Leben, indem er ihn emotional und finanziell unterstützt. Während eines gemeinsamen Urlaubs am Strand von Deauville verliebt sich Paul in ein Mädchen seines Alters. Die Wege der beiden Freunde werden sich trennen. Eine normale Entwicklung, die Philippe offenbar erwartet hat und dem jüngeren Freund nicht verargt. Beide gehen bereichert und gestärkt aus dieser Beziehung heraus in ihr weiteres Leben.

Bedauerlicherweise ist »Les amis« augenblicklich die einzige Regiearbeit Blains, die überhaupt auf DVD erhältlich ist; »Un enfant dans la foule« ist nur gebraucht zu Preisen von rund 400 Euro zu finden.

André Schneider

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