Filmtipp #573: Die Enttäuschten

Die Enttäuschten

Originaltitel: Le beau Serge; Regie: Claude Chabrol; Drehbuch: Claude Chabrol; Kamera: Jean Rabier, Henri Decaë; Musik: Émile Delpierre; Darsteller: Gérard Blain, Jean-Claude Brialy, Bernadette Lafont, Michèle Méritz, Claude Cerval. Frankreich 1958.

Wie bereits früher schon erwähnt, habe ich von Claude Chabrols Filmen nie sonderlich viel gehalten. Merci pour le chocolat und »L’enfer« (1994, nach einem Drehbuch von Henri-Georges Clouzot) sind in meinen Augen einsame Höhepunkte in einer Filmographie voller selbstverliebt-tumber, handwerklich schlampiger und vor allem sterbenslangweiliger Gesellschafts-Satiren. Meiner Auffassung nach wird Chabrol überschätzt. Womit ich nicht sagen möchte, dass er kein guter Mensch war oder gar unwichtig für den europäischen Film. Er war ein brillanter Autor, ein Gourmet, war politisch in der »richtigen« Spur — also auf einer Wellenlänge mit mir — und hatte einen tollen Sinn für Humor. Dennoch: Seine Filme enttäuschten mich so oft, dass ich mich inzwischen sträube, mir weitere Chabrol-»Meisterwerke« anzuschauen. Vermutlich ein Fehler, denn nun sah ich seinen Erstling »Le beau Serge« und war über alle Maßen begeistert. »Le beau Serge« gilt gemeinhin als erster Spielfilm der nouvelle vague und wurde von Chabrol völlig unabhängig produziert: Seine erste Frau Agnès hatte kurz zuvor eine kleine Erbschaft gemacht und ermöglichte ihrem Mann damit jene uneingeschränkte künstlerische Freiheit, auf die er in den Folgejahren verzichten musste, als er für große Produzenten wie etwa Carlo Ponti tätig war. (Chabrol scherzte später, er habe seine Agnès nur aus diesem Grunde geheiratet.) Gedreht wurde acht Wochen lang in Sardent, wo Chabrol die Kriegsjahre bei seinen Großeltern verlebt hatte. Wohl auch deshalb haftet »Le beau Serge« ein autobiographischer Touch an.

Jean-Claude Brialy verkörpert François Baillou, der nach über zehn Jahren aus Paris in sein Heimatdorf zurückkehrt, um sich dort von einer Krankheit zu erholen. Das abgelegene Dorf wurde wirtschaftlich abgehängt und verfällt langsam, hat sich aber in François’ Augen nicht so sehr verändert. Es kommt zu einer Wiederbegegnung mit seinem alten Freund Serge. Dieser wird von Gérard Blain verkörpert, dem eigentlichen Star des Films. Er wurde zeitweise als französischer James Dean gehandelt und spielte in den folgenden Jahren oft in italienischen und US-amerikanischen Produktionen. Serge ist ein gebrochener Mensch: zornig, verbittert, ständig mit sich selbst hadernd. Er schildert François sein Leid: Er ist Lastwagenfahrer geworden und hatte aufgrund einer Schwangerschaft ein Mädchen heiraten müssen, das er nicht liebt. Als das Kind mongoloid zur Welt kam, ertränkte er seinen Kummer in Alkohol. Das Kind ist inzwischen verstorben, und Serge hat eine Liaison mit der 17jährigen Marie (Lafont), der Schwester seiner Frau. All seine kläglichen Versuche, seine Augen vor den Schwierigkeiten des Lebens zu verschließen, sind nur ein Spiel auf Zeit. Der weltgewandte François versucht, seinem Freund zu helfen, verschlimmert zunächst jedoch nur die Situation…

Chabrol war zuvor als Filmjournalist tätig und schrieb unter anderem zusammen mit Rohmer ein Buch über die Filme Alfred Hitchcocks. Genau wie seine Kollegen Truffaut, Godard, Rivette oder Malle wollte er mit der nouvelle vague gegen den vorhersehbaren und oftmals (zu) einfachen Aufbau des kommerziellen Films protestieren. Zwischen 1958 und 1963 waren die Werke der nouvelle vague eine erfrischende Neuerung, dann jedoch entwickelte sich das Ganze zu einer Art Selbstläufer. Mit der Etablierung der nouvelle vague als kommerziellem Produkt war das revolutionäre Moment dann auch gestorben.
Es ist sicher nicht übertrieben, wenn man »Le beau Serge« 60 Jahre nach seiner Premiere zu Chabrols stärksten Filmen zählt. Kaum eines seiner späteren Werke besaß die hier sichtbare Kraft und Leidenschaft. Bei aller Kritik und Tristesse porträtiert der Regisseur hier Land und Leute mit größtmöglicher Empathie. Er schreitet liebevoll und genüsslich zu Werke, jedes Detail sitzt. Unterstützt wird er von einem hervorragenden Darsteller-Ensemble, das schauspielerisch von der ersten bis zur letzten Sekunde überzeugt. — Mit Preisen (u. a. in Locarno) ausgezeichnet, wurde »Le beau Serge« zu einem unerwarteten Erfolg für Chabrol und sein Team. In dem großen Zuspruch des Publikums sah Chabrol dann die Verpflichtung, mit dem Filmemachen fortzufahren. In den kommenden fünf Jahrzehnten drehte er nicht weniger als 58 Kinofilme. Auf »Le beau Serge« folgte 1959 »Les cousins«, in dem ebenfalls Gérard Blain, Jean-Claude Brialy und Michèle Méritz die Hauptrollen spielten.

André Schneider

12 thoughts on “Filmtipp #573: Die Enttäuschten

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  2. Vielen Dank für die detaillierte Kritik zu Chabrols Erstlingswerk. Auch ich finde einige, vor allem Spätwerke aus den 1990ern sehr bitterböse und streckenweise in der Figurenzeichnung zu sensationslüstern. Allerdings kann man Chabrol nicht absprechen, dass die dunklen Abgründe so mancher Menschenseele nicht eingehend studiert hätte…

  3. Oh, vielen lieben Dank für das Feedback. Macht ja heute kaum noch jemand. 🙂
    Letzten Endes ist es ja immer der persönliche Geschmack. Ich verstehe die Faszination für Chabrols Filme durchaus, kann sie aber leider nur selten teilen. “Merci pour le chocolat” mag ich sehr, “L’enfer” auch, aber das Gros der anderen Chabrol-Filme langweilt mich (leider).
    Herzliche Grüße!

  4. Oh, das liest sich ja wirklich unheimlich spannend. Anfang Mai werde ich (hoffentlich) mal wieder etwas liquider sein und mir dann das Buch bestellen. Habe es jetzt jedenfalls auf meiner Wunschliste. 🙂 Vielen Dank für den Tipp — und FÉLICITATIONS!, dass Du Dich des Themas so umfassend angenommen hast!

  5. Vielen Dank, das freut mich! Es steckt viel Zeit und Leidenschaft in diesem Buch für das ich ein Jahr auch in der Pariser Cinematheque francaise mit Originalquellen gearbeitet habe. Ich freue mich über deine Meinung zu meinem Buch. Liebe Grüße nach Berlin, Sabrina

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