Filmtipp #224: Paris gehört uns

Paris gehört uns

Originaltitel: Paris nous appartient; Regie: Jacques Rivette; Drehbuch: Jacques Rivette, Jean Gruault; Kamera: Charles Bitsch; Musik: Philippe Arthuys; Darsteller: Betty Schneider, Jean-Claude Brialy, Giani Esposito, Françoise Prévost, François Maistre. Frankreich 1961.

paris nous appartient

Jacques Rivette, 1928 geboren, ging mit kontroversen Werken wie »Suzanne Simon, la Religieuse de Denis Diderot« (1966) oder »Le Pont du Nord« (1981) in die Annalen der Filmgeschichte ein. Bereits in seinem faszinierenden Erstlingswerk, das leider nie in die deutschen Lichtspielhäuser gelangte, stellte der junge Filmemacher seine Fingerfertigkeit unter Beweis. Zwar wurde der Streifen ein kommerzieller Reinfall, war jedoch durch den publizistischen Einsatz von Chabrol und Truffaut zum Tagesgespräch geworden, bevor er überhaupt abgedreht worden war. In einem ausführlichen Artikel von 1961 berichtete Truffaut vom schwierigen Produktionsprozess, der seinen Freund und glühenden Cineasten Rivette nicht einschüchtern konnte: »…von uns allen war er am wildesten entschlossen, zur Tat zu schreiten.«
Im Juli 1958 hatte Jacques Rivette begonnen, sein schon lange fertiges Drehbuch zu verfilmen. Zwar hatte er schon einige Kurzfilme vorzuweisen, Geldgeber fanden sich jedoch trotzdem keine, so dass ihm seine Kollegen von den »Cahiers du cinéma« mit den Einnahmen aus ihrer Zeitschrift unter die Arme greifen mussten. Damit konnte er wenigstens das Filmmaterial bezahlen, während der die technische Ausrüstung auf Pump organisierte und sämtliche Mitarbeiter ohne Gage schufteten. Einige sprangen während des Drehs ab, immer wieder ging das Geld aus, und schwierigste Szenen im Pariser Nachtleben mussten ohne Aufnahmeleitung gedreht werden, denn dafür reichte der Etat nicht: »Wo die Mittel fehlen, kann nur der Enthusiasmus beflügeln.« — Vier Tage vor Weihnachten 1961 kam »Paris nous appartient« schließlich und endlich in die französischen Kinos. Bereits im Vorjahr hatte das New Yorker French Film Office den Film für den US-amerikanischen Markt erworben, und beim London Film Festival hatte er blendende Kritiken erhalten — um in seinem Heimatland dann eine herbe Bruchlandung hinzulegen. Waren die Kritiker sich noch uneins, so stieß »Paris nous appartient« beim Publikum auf einhellige Ablehnung, was nicht zuletzt an dem unschmeichelhaften Bild lag, das Rivette von der französischen Hauptstadt gezeichnet hatte: Gezeigt wird ein trostloses, bedrückendes Paris, eine Metropole der Einsamkeit, die »niemandem gehört«, wie es beim Dichter Charles Péguy heißt, den Rivette ausdrücklich zitiert. Alle, denen es gehört, sind niemand in einem dunklen Niemandsland.
»Paris nous appartient« ist ein Kriminalstück über Verdächtigungen und Verrat, über die menschliche Absurdität und eine Geheimorganisation, die es gar nicht gibt: Die Studentin Anne (Schneider) reist nach Paris. Ein spanischer Musiker und Anarchist ist auf rätselhafte Weise ums Leben gekommen. Klassenfeinde haben ihn auf dem Gewissen, heißt es. Nihilismus und Verbitterung haben ihn in den Suizid getrieben, vermutet ein Maler, und ein Pulitzer-Preisträger beschuldigt eine elegante Cabrio-Fahrerin, in deren Netz sich auch ein junger Theaterregisseur verstrickt hat. Anne glaubt bald, einer Geheimorganisation auf die Schliche gekommen zu sein, die den Tod des Spaniers zu verantworten hat. Bei ihren Recherchen taucht die junge Frau immer tiefer in die Schattenseiten der Seine-Metropole ein…

Eine deutsche Stimme zur längst überfälligen DVD-Veröffentlichung vor drei Jahren: »Die Räuberpistole über ein Diktatorensyndikat, das nach Weltherrschaft strebt, hatte sich Rivette als eigentlich bedeutungslose Handlungskrücke ausgedacht und war später selbst nicht glücklich darüber — traf damit aber den Zeitgeist der beginnenden sechziger Jahre aus Faschismus-Trauma, Endzeit-Paranoia und Bohème-Larmoyanz entwurzelter und schwacher Männer. Am Ende verbirgt sich hinter dem Wahn bloß die alltägliche Konspiration aus Kapital, Staatsschutz und Politik, denn, so das Fazit einer verhängnisvollen Frau, ›das Böse hat viele Gesichter. Sonst wäre es zu einfach‹.« (Andreas Banaski, »Der Spiegel«)

André Schneider