Filmtipp #575 bis #577: Frühe Filme von Guy Gilles

Guy Gilles

Ein Dasein im Schatten größerer Namen. Guy Gilles, am 25. August 1938 als Guy Chiche in Algerien geboren, war ein Zeitgenosse von Truffaut und Godard. Marguerite Duras lobte ihn in den höchsten Tönen als einen ihrer liebsten Filmemacher. Er war gut befreundet mit Jacques Demy und lebte zeitweise mit Jeanne Moreau zusammen. Zwischen 1956 und 1994 drehte er gut und gerne 35 Filme (wenn man die Kurzfilme mitzählt), von denen es nur wenige über die Landesgrenzen Frankreichs hinaus schafften. Er arbeitete als Fotograf und war Regieassistent von François Reichenbach, trat ab und an als Schauspieler auf die Bühne und begriff sich wohl vor allem als Poet. Er starb im Februar 1996 im Alter von 57 Jahren an den Folgen von Aids. 1999 veröffentlichte sein Bruder Luc Bernard mit »Lettre à mon frère Guy Gilles, cinéaste trop tôt disparu« einen umfangreichen Dokumentarfilm, in welchem sich viele Freunde und Weggefährten zu Wort meldeten und dem Verstorbenen Tribut zollten. 2003 veranstaltete man in La Rochelle eine Gilles-Retrospektive, und im Mai 2014 gab es in der Cinémathèque française eine Hommage. — Drei seiner früheren Werke wurden 2008 von Éditions Montparnasse in einer hübschen DVD-Box veröffentlicht. Als Bonus gibt es neben der bereits erwähnten Dokumentation noch einen 20minütigen Film von Gaël Lépingle, der sich mit den fotografischen Arbeiten Gilles’ befasst.

#575: Die Liebe zum Meer

Originaltitel: L’amour à la mer; Kamera: Jean-Marc Ripert; Musik: Jean-Pierre Stora [Jean-Pierre Sarot]; Darsteller: Daniel Moosmann, Geneviève Thénier, Josette Krieff, Guy Gilles, Simone Paris. Frankreich 1964.

Einer der Gründe, warum Guy Gilles nie so polulär wurde wie etwa Louis Malle oder Claude Chabrol, dürfte der Tatsache geschuldet sein, dass er sich einen Dreck um kommerzielle Verwertbarkeit seiner Filme scherte und dementsprechend kompromisslos und eigensinnig zu Werke ging. Viele seiner Spielfilme sind ebenso faszinierend wie sperrig, pfeifen auf erzählerische Konventionen und frönen passagenweise einfach nur der Schönheit. So bestehen viele Sequenzen in »L’amour à la mer«, seinem ersten Langfilm, aus bewegten Straßenbildern. Paris, Brest — und immer wieder das Meer. Die Sehnsucht nach dem Ort der Kindheit, Algerien, hatte Gilles nie ganz losgelassen. In praktisch jedem seiner Filme hallt dieses Fernweh nach, die Suche nach dem Gestern, dem Gewesenen, den Wurzeln. Das oft monotone Deklamieren der Dialoge erinnert an die besten Fassbinder-Szenen der 1970er.
1962/63 entstanden, erzählt der Autor und Regisseur in »L’amour à la mer« die Geschichte einer Fernbeziehung. Farbe und Schwarzweiß mischen sich warmen Braun- und Sepiatönen. Die Namen der Rollen decken sich mit denen der Schauspieler. Geneviève Thénier spielt die junge Pariser Sekretärin Geneviève, die sich während eines Urlaubs am Meer in den schmucken Matrosen Daniel (Moosmann) verliebt. Die Affäre ist stürmisch und beschwingt, obwohl die beiden unter der Fernbeziehung auch zu leiden haben. Im Sommer vereint, trennt sie der Herbst. Sie schreiben einander, doch jeder lebt letztlich sein Leben: Daniel in Brest mit seinen Kollegen, Geneviève in Paris in Erwartung an ihr Wiedersehen…

»L’amour à la mer« lief 1964 in Locarno, kurz darauf auch in Frankreich, konnte aber trotz guter Besprechungen nicht so recht zünden. 1966 und in den Achtzigern gab es einige Wiederaufführungen, aber letztlich blieb Gilles’ Erstling bis heute ein Geheimtipp. Und das, obwohl er sich einige große Namen gesichert hatte: Jean-Pierre Léaud, Jean-Claude Brialy, Sophie Daumier, Alain Delon und Juliette Gréco sind in kurzen Auftritten mit von der Partie. Auch Romy Schneider war in einer Szene zu sehen und wird auch im Titelvorspann dankend erwähnt, doch in der heute kursierenden 73-Minuten-Fassung ist sie nicht mehr mit dabei. In einer Nebenrolle gibt der blutjunge Patrick Jouané seinen Einstand beim Film. Er wurde in den kommenden Jahrzehnten zu Guy Gilles’ Favoriten und vollbrachte in Filmen wie »Absences répétées« (1972), »Le jardin qui bascule« (1975, mit Delphine Seyrig) und »Nuit docile« (1987) denkwürdige Leistungen.

#576: Au pan coupé

Originaltitel: Au pan coupé; Kamera: Willy Kurant, Jean-Marc Ripert; Musik: Jean-Pierre Stora [Jean-Pierre Sarrot]; Darsteller: Macha Méril, Patrick Jouané, Bernard Verley, Frédéric Ditis, Lili Bontemps. Frankreich 1968.

»Au pan coupé« ist mir persönlich von den frühen Gilles-Filmen am nächsten. Der nur 68 Minuten kurze Streifen besitzt eine Zartheit und Dichte, wie es sie nur selten gibt. Gilles macht sich nicht einmal die Mühe, einen Handlungsbogen zu skizzieren. Stattdessen fädelt er die Emotionen wie an einer Perlenschnur auf. »Au pan coupé« ist ein Liebesgedicht in Bildern. Wieder werden Schwarzweiß- und Farbfotografie gemischt. Gleich die erste Großaufnahme von Macha Mérils fragil-ausdrucksstarken, makellos-wunderschönen Gesicht ist ein Kunstwerk an und für sich. Man fühlt sich unweigerlich an Les hautes solitudes erinnert, ein paar Jahre später entstanden, in welchem die Kamera die Gesichter von Jean Seberg und Nico geradezu ausweidete.
Méril, zeitlebens mit Guy Gilles befreundet, fungierte bei »Au pan coupé« auch als Produzentin. Sie heißt hier Jeanne und erinnert sich an eine Liaison mit einem gewissen Tunichtgut namens Jean (Jouané). Durch die Erinnerung wird das Vergangene wieder lebendig und neu erfühlt. Dialoge, die so kapriziös-verschlungen sind, dass sie nur literarisch sein können, durchweben die Bilder wie einen dichten Teppich. Die Art und Weise, wie Patrick Jouané ihren Namen schmettert — »Jeanne!« —, erinnert an den Refrain eines Liedes. Kein Wunder, dass die Duras gerade dieses Werk von Guy Gilles so liebte. Doch auch ihr öffentliches Lob konnte nicht verhindern, dass der Film anno 1968 praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit lief.

#577: Le clair de terre

Originaltitel: Le clair de terre; Kamera: Guy Gilles, Philippe Rousselot; Musik: Jean-Pierre Stora; Darsteller: Edwige Feuillère, Annie Girardot, Patrick Jouané, Elina Labourdette, Jacques Zanetti. Frankreich 1970.

Pierre Brumeu (Jouané), ein junger Mann von 20 Jahren, lebt in Paris mit seinem Vater (Roger Hanin), mit dem er sich nicht besonders gut versteht. Vater und Sohn leben in den Erinnerungen an Pierres Mutter, die jung gestorben ist. Einzig sein Freund Michel (Zanetti) vermag es, Pierre aus seiner Melancholie ein wenig herauszuholen. Eines Tages beschließt Pierre, nach Tunesien zu gehen, das sonnige Land, in dem er geboren wurde. Er hofft, sich dort endlich zu finden. In Tunesien lernt er die ehemalige Lehrerin Madame Larivière (Feuillère) kennen, die seine Mutter gut kannte…

Mit seinem dritten abendfüllenden Spielfilm wurde Guy Gilles sehr privat, beinahe autobiographisch. »Le clair de terre« handelt von der ewigen Zerrissenheit zwischen Nordafrika und Paris. Gestalterisch wieder einmal ungewöhnlich und verschnörkelt, versuchte Gilles trotzdem, mit diesem Streifen ein größeres Publikum zu generieren. Mit Annie Girardot hatte er eine der damals beliebtesten Schauspielerinnen Frankreichs mit an Bord, weitere Rollen wurden von Roger Hanin, Micheline Presle, Jacques François und Marthe Villalonga gespielt.
Guy Gilles arbeitete regelmäßig mit denselben Leuten. Sein Cousin Jean-Pierre Stora komponierte stets die Musik. In Gilles’ bekanntestem Film, »Absences répétées« (1972), sang Jeanne Moreau ein eigens von Stora für sie komponiertes Chanson. (Moreau hatte Gilles übrigens zu »Absences répétées« inspiriert.) In späteren Jahren arbeitete Gilles nur noch selten fürs Kino. »Le crime d’amour« (1982, mit Macha Méril und Richard Berry) und »Nuit docile« (1987) waren von den Kritikern gleichgültig oder bösartig besprochen worden und hatten ihm die Energie für neue Projekte geraubt. 1994 brachte er noch einen Nofretete-Film mit Ben Gazzara in die Kinos — eine italienische Produktion —, ansonsten arbeitete er bevorzugt fürs Fernsehen.

Leider gibt es auf der DVD keine Untertitel, so dass man des Französischen schon mächtig sein sollte, um die frühen Werke dieses unglaublich begabten Autorenfilmers ungetrübt genießen zu können.

André Schneider