Filmtipp #538: Nachtblende

Nachtblende

Originaltitel: L’important c’est d’aimer; Regie: Andrzej Zulawski; Drehbuch: Andrzej Zulawski, Christopher Frank; Kamera: Ricardo Aronovich; Musik: Georges Delerue; Darsteller: Romy Schneider, Fabio Testi, Jacques Dutronc, Claude Dauphin, Klaus Kinski. Frankreich/Italien/BRD 1975.

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»Es gibt Filme, die sich einer Genreklassifizierung entziehen. ›Nachtblende‹ nach dem Roman von Christopher Frank ist so ein Film. Melodram, Starvehikel, Softporno, Komödie, Antifilm, Gesellschaftskritik, Lebensphilosophie, all das geht in der deutsch-französisch-italienischen Koproduktion eine so misslungene Melange ein, dass man letztlich doch nur von einem Horrorfilm sprechen kann. Tatsächlich verbreitet der Film mehr Schrecken als manch billiger italienischer Zombieschocker.« (Christoph Dompke, »Weil doch was blieb. Alte Frauen in schlechten Filmen«)

Man kann Herrn Dompke nicht einmal widersprechen, an »L’important c’est d’aimer« hat der Zuschauer wirklich hart zu schlucken. Das düster-leidenschaftliche Drama ist so schrill und übersteigert, dass die Grenzen zur unfreiwilligen Komik zeitweise verwischen. »L’important c’est d’aimer« war der erst dritte Kinofilm des polnischen Regie-Berserkers Zulawski gewesen, und die Reaktionen nach seiner Uraufführung im Februar 1975 waren extrem, schwankten zwischen Euphorie und Ablehnung. Einig war man sich allein in Bezug auf Romy Schneiders aufwühlendes, erschütterndes Spiel. Nie zuvor hatte sich die Schauspielerin so sehr verausgabt; sie selbst hielt ihre Vorstellung in diesem Film für ihre beste. Sie wurde beim Filmfestival in Taormina als Beste Schauspielerin geehrt und erhielt darüber hinaus ihren ersten César, den sie Luchino Visconti widmete: »Romys Art und Weise, von einer Rolle Besitz zu ergreifen, fasziniert, beunruhigt, macht Angst. Sie ist die Seele dieses schwarzen Meisterwerkes, aus dem man nicht unversehrt herauskommt.« (»Pariscope«)

Nadine Chevalier (Schneider) ist eine abgewrackte Schauspielerin, die mangels seriöser Engagements in Pornostreifen mitwirken muss, um sich und ihren arbeitslosen, impotenten Gatten (Dutronc) über Wasser zu halten. Gleich die grelle Anfangssequenz führt uns an ein zwielichtiges Filmset. Nadine, stark geschminkt, beugt sich über einen blutüberströmten Mann und flüstert mit brechender Stimme: »Je t’aime.« Die Regisseurin (Nadia Vasil) fordert mehr Einsatz, brüllt und zetert, erniedrigt die völlig zerstörte Frau vor dem Team. Währenddessen klickt immer und immer wieder ein Fotoapparat. Dieser gehört Servais Mont (Testi), einem Fotografen, der verbotenerweise Bilder vom Dreh schießen soll. Servais verliebt sich in Nadine, die jedoch aus Mitleid bei ihrem Mann bleibt. Servais’ eigenes Leben ist ebenso ein Trümmerhaufen wie Nadines. Sein bester Freund Raymond (Michel Robin) lebt mit einer Terrierhündin zusammen, ernährt sich von Katzenfutter und stirbt daran. Mit seinem Vater (Roger Blin), dessen Freundinnen jünger und jünger werden, fremdelt er. Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, von der Mafia organisierte Sexorgien der Reichen zu fotografieren. Der Obermafioso (Dauphin) erpresst mit den Bildern seine eigene Klientel. Um Nadine die Chance zu geben, sich als seriöse Schauspielerin zu beweisen, leiht Servais sich Geld von eben diesem Mafioso, um es dann in eine Theaterproduktion von »Richard III.« zu stecken, in welcher sie die Hauptrolle übernehmen soll. Die Extravaganz des schwulen Regisseurs (Guy Mairesse) lässt die Inszenierung zu einem Debakel werden, das für Nadine und Servais katastrophale Konsequenzen hat…
Klaus Kinski spielt den deutschen Geliebten des Regisseurs, der die Titelrolle in »Richard III.« übernimmt. Sein Spiel übertreibt alles, was uns bislang schon aus der Bahn geworfen hat. Er brüllt, lacht, weint, mäandert zwischen Hysterie und Größenwahn. Als Nadine während der harten Proben zusammengebrochen ist, tröstet er sie mit den Worten: »Wir sind alle Marionetten in einem Scheißspiel.« Ihre Antwort: »Ich bin kaputt, verstehst du? Und niemand wollte mehr geben als ich. Niemand!« Daraufhin er: »Ich suche mich nicht, ich gehe in keine Richtung. Ich akzeptiere mich.« (Die deutschen Dialoge hatte Géza von Radványi zu verantworten.) Er küsst sie, sie starrt ihn schockstarr an. Kinski: »Das ist alles, was ich für dich tun kann.« — Servais Vater ist drogen- und alkoholsüchtig. Nadines Mann nimmt sich das Leben, vergiftet sich mit Tabletten in der öffentlichen Toilette eines Cafés. Dem Zuschauer werden die Krämpfe und Zuckungen, der Schaum vorm Mund nicht erspart. Dutronc spielt gut. Seine letzten Worte zu seiner Frau: »Weißt du, was das Schlimmste ist, das Abscheulichste, Widerlichste? Mitleid. Weil man ihm ausgeliefert ist.«
Nach dem Fiasko mit »Richard III.« zieht Kinski mit zwei Huren von dannen: »Vom philosophischen Standpunkt aus war, abgesehen von Thomas von Aquin, das Mittelalter eine Katastrophe«, gibt er Servais zum Abschied mit. Diesem wird kurz darauf vom Mafioso die Zusammenarbeit aufgekündigt. Von dessen Handlangern zusammengeschlagen krümmt sich Servais in der letzten Szene blutend auf dem Boden seiner Wohnung. Nadine beugt sich über ihn, streicht ihm übers Gesicht und sagt: »Je t’aime.« — wie in der Pornoszene am Anfang.

Zulawski, der voriges Jahr im Alter von 75 Jahren in seiner polnischen Heimat verstarb, drehte bis 2015 noch ein gutes Dutzend weiterer Filme, unter anderem das Meisterwerk »Possession« (1981, mit Isabelle Adjani), »La femme publique« (1984, mit Valérie Kaprisky) sowie »Mes nuits sont plus belles que vos jours« (1989), »La note bleue« (1991) und »La fidélité« (2001) mit seiner Lebensgefährtin Sophie Marceau, mit der er von 1984 bis 2001 zusammenlebte.

André Schneider

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