Filmtipp #649 & #650: Sauvage & Jonas – Vergiss mich nicht

Sauvage

Originaltitel: Sauvage; Regie: Camille Vidal-Naquet; Drehbuch: Camille Vidal-Naquet; Kamera: Jacques Girault; Musik: Romain Trouillet; Darsteller: Félix Maritaud, Éric Bernard, Nicolas Dibla, Philippe Ohrel, Marie Seux. Frankreich 2018.

Dass Deutschland die Fähigkeit zur Wertschätzung abgeht, ist nicht zu leugnen. Man kann hier wenig mit Schönheit anfangen. Kunst wird genüsslich abgewertet, Künstler mit Häme bedacht. Film wird als Kunstform kaum anerkannt, und Schauspieler sind in der Hierarchie ganz unten. Daher überraschte es mich sehr, dass Félix Maritauds rückhaltlos-intensives Spiel auch vom deutschen Feuilleton wahrgenommen (und sogar gelobt) wurde: »[…] Maritaud hat sich mit seiner intensiven, rückhaltlosen Leistung ganz nach oben gespielt. Er ist […] zu Recht einer der Shooting Stars des französischen Kinos — anrührend in seiner Verletzlichkeit, aber niemals sentimental, mit einer natürlichen, ungehemmten Körperlichkeit, in die sich die Härte des Geschäftes schonungslos eingeschrieben hat«, schrieb Knut Elstermann vom MDR, und in der »Berliner Zeitung« war zu lesen: »Maritaud hat das Gesicht eines misshandelten Engels, geschunden und unverwundbar, arglos und abgebrüht, verloren und gesegnet. Er weiß nicht, warum er etwas anderes tun sollte, als er tut. […] Solche Figuren gibt es selbst im französischen Kino nur noch selten.« — Man kann sich des Lobes nur anschließen. Félix Maritaud gibt sich seinen Rollen so hemmungslos hin, dass man beinahe Angst um ihn bekommt. Solch eine Kraft gab es bei Kim Stanley, bei dem jungen Brando, bei Romy Schneider und vielleicht noch bei Antonio Banderas. Dass ein junger Schauspieler — Maritaud war während der Dreharbeiten zu »Sauvage« erst 25 Jahre alt — seine Technik, sein Handwerk so virtuos beherrscht und die totale Kontrolle darüber hat, dass er sich dergestalt fallen lassen kann, ist schier unglaublich! Das geht in Richtung Abramović und ist cinéma vérité von einer Qualität, die es in den vergangenen 25 Jahren eigentlich gar nicht mehr gab. Man möchte sich demütig vor dieser Leistung verneigen — und das Spiel in »Jonas« steht dem in nichts nach!

»Sauvage« wurde in Strasbourg und Umgebung gedreht. Der Regisseur Camille Vidal-Naquet hatte zuvor lediglich zwei Kurzfilme inszeniert und satte drei Jahre für sein Drehbuch recherchiert. Er interviewte und begleitete Sexarbeiter in Paris und konstruierte aus seinen Beobachtungen das Bild eines jungen Mannes, der sich verschwendet. Léo (Maritaud) ist 22 und geht seit Jahren anschaffen. Damit steht er in einer langen Reihe von männlichen Huren, wie sie von Marcel Gisler (Die blaue Stunde), André Téchiné (J’embrasse pas), Patrice Chéreau (»L’homme blessé«, 1983) oder Gus Van Sant (My Own Private Idaho) filmisch porträtiert wurden. Léo ist ein Streuner. Eine professionelle Distanz zu seinen Kunden hat er nicht. Er übernachtet manchmal sogar bei ihnen, schläft Arm in Arm mit ihnen ein. Er sehnt sich nach Nähe und schafft Distanz. Er raucht Crack, manchmal auch Crystal. Sucht setzt sich zusammen aus den Worten Suche und Flucht. Er hat einen guten Freund, Ahd (Bernard), der Léo zwar eine Stütze ist, ihm aber als Hetero nicht das geben kann, was er braucht. Ahd rät ihm, sich einen älteren Typen zu suchen, das sei das Beste, was ihnen passieren könnte…

»Sauvage« ist ein harter, roher Film. Die Gewalt, der Sex, die sexualisierte Gewalt treffen voll in die Magengrube. Und doch wohnt dem Film eine geradezu poetische Zärtlichkeit inne, die an Jean Genet erinnert. Mir fällt spontan die Szene ein, in der die von Marie Seux gespielte Ärztin den an Tuberkulose erkrankten Léo in ihre Arme schließt. Die Handkamera von Jacques Girault heftet sich geradezu an Léos Fersen, ist praktisch immer auf Augenhöhe und schafft dadurch eine große physische Nähe, die nur selten aufgebrochen wird. Maximale Projektions- und Identifikationsfläche. Nadine Lange konstatierte in ihrer Rezension: »Léos mit vielen Tattoos verzierte Haut, seine immer fettiger werdenden Haare, seine oft scheu blickenden Augen sind bald so vertraut wie die eines Freundes. Deshalb ist es auch schmerzhaft, dabei zuzusehen, wie sich die Situation des jungen Mannes in den wenigen Sommerwochen, die ›Sauvage‹ umfasst, kontiniuierlich verschlechtert.«

Jonas — Vergiss mich nicht

Originaltitel: Jonas; Regie: Christophe Charrier; Drehbuch: Christophe Charrier; Kamera: Pierre Baboin; Musik: Alex Beaupain; Darsteller: Félix Maritaud, Nicolas Bauwens, Tommy Lee Baïk [Tommy-Lee Baïk], Aure Atika, Marie Denarnaud. Frankreich 2018.

Über »Jonas« habe ich bereits einmal geschrieben. Ein hauptsächlich in Toulon gedrehter Fernsehfilm, dessen Vor- und Rückblenden spiralenartig zusammengeführt werden.
Jonas ist Léo nicht ganz unähnlich. Beide scheinen sich in gewisser Weise aufgegeben zu haben und treiben fieberhaft suchend durch ihr Leben. Unser Titelheld ist 33 Jahre alt, arbeitet als Pflegeassistent in einem Krankenhaus und ist ständig auf der Suche nach Sexdates. Das wird seinem Partner (David Baïot) eines Tages zu bunt: er setzt Jonas vor die Tür. Am Strand sieht er einen blonden Mann, den er schon längere Zeit auf Facebook verfolgt. Er heißt Léonard (Ilian Bergala), ist 18 Jahre alt und jobbt in einem Hotel, in dem sich der wohnungslose Jonas nun ein Zimmer nimmt. Nach einer durchzechten Nacht wacht Jonas bei Léonard zu Hause auf und lernt dessen Mutter (Atika) kennen. Der Zuschauer erfährt, dass Jonas sowohl das Haus als auch die Mutter bereits kennt, denn vor 18 Jahren war ihr erster Sohn Nathan (Tommy Lee Baïk) mit Jonas in einer Klasse — und sein erster Freund. Es war eine zarte Liebesgeschichte zwischen GameBoy, Sportunterricht und ersten Küssen im Kino. Doch dann stiegen Jonas und Nathan eines Abends vor einem Schwulenclub in das falsche Auto. Jonas gelang die Flucht, doch Nathan wurde von dem Fremden mitgenommen und ward nie wieder gesehen…

Schlüssig geschrieben und mit klarem Kopf inszeniert, ist »Jonas« ein TV-Beitrag geworden, der sich weit vom Durchschnitt abhebt. Die Jonas-Figur ist in ihrer Dreidimensionalität absolut greifbar und glaubhaft. Das liegt sowohl an Maritauds Interpretation als auch an Christophe Charriers hervorragendem Drehbuch, das Jonas’ Handeln psychologisch einwandfrei nachvollziehbar macht. Zwei weitere Pluspunkte sind die wunderschöne Musik von Alex Beaupain und Aure Atikas ergreifendes Spiel als Mutter, die sich ein Leben zwischen Schmerz und Hoffnung — sie glaubt, dass Nathan noch lebt — eingerichtet hat.

André Schneider

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