Filmtipp #275 bis #278: Benoît Lamy zum 70.

Als Filmland ist Belgien leider, leider nicht besonders anerkannt. Das Gros der Produktionen entsteht nach wie vor in enger Zusammenarbeit mit Frankreich, und nur selten werden belgische Produktionen über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Belgische Filmemacher von Weltrang gibt es kaum. Agnès Varda ist natürlich ein Begriff, doch die besitzt schon lange die französische Staatsbürgerschaft, und dann wären da noch Harry Kümel, Chantal Akerman, André Delvaux, Pierre Chenal, die Brüder Dardenne, Jaco Van Dormael — und Benoît Lamy, der heute 70 Jahre alt geworden wäre.
Lamy studierte in Brüssel, wurde in jungen Jahren Regieassistent bei Pasolini und Yves Ciampi und schrieb gemeinsam mit Pierre Laroche das Drehbuch zu »Il pleut dans ma maison« (1969), bevor er 1970 seinen ersten eigenen Kurzfilm machte. Obwohl er zwischen 1973 und 1997 nur vier Spielfilme realisieren konnte, bleibt er einer der wichtigsten und interessantesten Regisseure Belgiens.
Lamy war Vater von zwei erwachsenen Kindern und frisch geschieden, als er im stolzen Alter von beinahe 60 Jahren den Mut fand, offen zu seiner Homosexualität zu stehen und sie zu leben. Am 15. April 2008 wurde er in seinem Häuschen in Braine-l’Alleud tot aufgefunden. Zwei Monate später wurde sein Lebensgefährte, der den Filmemacher zu Tode geprügelt hatte, wegen Mordes angeklagt.
In Belgien erschien 2010 ein liebevoll aufbereiteter DVD-Schuber mit all seinen Filmen. Leider waren nicht alle Originalplakate aufzutreiben; bei »Jambon d’Ardenne« und »La vie est belle« habe ich daher nur Filmstills in den Artikel eingefügt.

Home Sweet Home

#275: Trautes Heim

Originaltitel: Home Sweet Home; Drehbuch: Benoît Lamy, Rudolph Pauli; Kamera: Michel Baudour; Musik: Walter Heynen; Darsteller: Claude Jade, Jacques Perrin, Marcel Josz, Elise Mertens, Ann Petersen. Belgien/Frankreich 1973.

Lamys Erstlingswerk wurde zugleich sein größter Erfolg: Die heitere, schräg-anarchische Komödie gewann nicht nur 14 internationale Preise, sie avancierte auch zu einem achtbaren Kassenerfolg in Frankreich und ist inzwischen längst ein Kultfilm. Daran nicht ganz unbeteiligt dürfte die Mitwirkung von Truffauts charmanter Entdeckung Claude Jade gewesen sein, die zu jener Zeit im Zenit ihrer Popularität stand und hier einen wirklich eindrucksvollen Auftritt hinlegt.
»Home Sweet Home« handelt von einer Revolte in einer Brüsseler Altersresidenz, in der die Bewohner wie Unmündige behandelt werden: Zapfenstreich um 21 Uhr, Einbehaltung des Nachtischs bei Aufmüpfigkeit und so weiter. Als der alte Jules (Josz) in eine Irrenanstalt abgeschoben werden soll, verbarrikadieren sich die Alten auf dem Dach des Altenheims und protestieren. Die um Autorität bemühte Pflegerin Claire (Jade), welche anfangs noch die Direktion des Heims ergeben unterstützt und auch vor Denunziation nicht Halt macht, übernimmt am Ende schließlich gemeinsam mit dem Sozialarbeiter Jacques (Perrin) und den Bewohnern die Leitung des Hauses.

Jambon d'Ardenne

#276: Ardenner Schinken

Originaltitel: Jambon d’Ardenne; Drehbuch: Benoît Lamy, Rudolph Pauli; Kamera: Michel Baudour; Musik: Pieter Verlinden; Darsteller: Annie Girardot, Ann Petersen, Christian Barbier, Nathalie van de Valle, Dominique Drouot. Belgien/Frankreich 1977.

Annie Girardot gibt eine Glanzvorstellung in dieser deftigen Komödie um zwei konkurrierende Hotels, die in der Hochsaison einander die Gäste abspenstig machen wollen und dabei alle Grenzen der Fairness und des guten Geschmacks überschreiten.
Von der Kritik seinerzeit als gehobenes Mittelmaß abgetan, hat »Jambon d’Ardenne« im Laufe der Jahre durchaus an Kraft gewonnen und sollte dringend in Deutschland auf DVD veröffentlicht werden.

La vie est belle

#277: Das Leben ist schön

Originaltitel: La vie est belle; Drehbuch: Benoît Lamy, Maryse Léon, Ngangura Mweze; Kamera: Michel Baudour; Musik: Papa Wemba; Darsteller: Papa Wemba, Bibi Krubwa, Landu Nzunzimbu, Kanku Kasongo, Lokinda Menji Feza. Belgien/Frankreich/Kongo 1987.

Seinen wohl ungewöhnlichsten Film drehte Lamy zehn Jahre nach dem kommerziellen Misserfolg von »Jambon d’Ardenne« mit dem kongolesischen Regisseur Ngangura Mweze in Schwarzafrika. Erzählt wird die Geschichte eines kleinen Dorfmusikers (Papa Wemba), der von einer ganz großen Karriere träumt. Lamy und Mweze legen ihr Augenmerk hierbei besonders auf die Schilderung des Zusammenlebens von Mann und Frau in den dörflichen Gebieten des Kongo.
In Deutschland wurde der umwerfend fotografierte Streifen im Juli 1991 im Nachmittagsprogramm des ZDF erstmals gezeigt.

Combat de fauves

#278: Der Mann im Lift

Originaltitel: Combat de fauves; Drehbuch: Gabrielle Borille, Benoît Lamy; Kamera: Charles van Damme; Musik: Bruno Coulais; Darsteller: Richard Bohringer, Ute Lemper, Papa Wemba, Jacqueline Nicolas, Roland De Pauw. Belgien/Frankreich/Deutschland 1997.

Ein kleiner Achtungserfolg wurde diese kafkaesk-schwarze Komödie, die Lamy an den Rand des finanziellen Ruins brachte: Richard Bohringer spielt ein geldgeiles Ekel, das von Ute Lemper tagelang in einen schmucken Fahrstuhl eingesperrt und gequält wird. Die Dreharbeiten zu dem Kammerspiel fanden in Berlin statt, der Film wurde in Venedig uraufgeführt und für den Goldenen Löwen nominiert, doch trotz guter Besprechungen wurde Benoît Lamys letzter Film ein Flop. Die Vorbereitungen zu dem Streifen hatten bereits 1991 begonnen; in einem Fernsehinterview vom 18. September 2005 klagte Lamy, dass ihn die Arbeit an »Combat de fauves« an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte.

Benoît Lamy mit seinen Hauptdarstellern Richard Bohringer & Ute Lemper bei den Filmfestspielen von Venedig, 1997.

Benoît Lamy mit seinen Hauptdarstellern Richard Bohringer & Ute Lemper bei den Filmfestspielen von Venedig, 1997.

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André Schneider