Filmtipp #556: Der Schuss

Der Schuss

Originaltitel: Moment to Moment; Regie: Mervyn LeRoy; Drehbuch: John Lee Mahin, Alec Coppel; Kamera: Harry Stradling; Musik: Henry Mancini; Darsteller: Jean Seberg, Honor Blackman, Sean Garrison, Arthur Hill, Grégoire Aslan. USA 1966.

Mit diesem romantischen Spannungsfilm nahm Mervyn LeRoy, am bekanntesten für »Quo Vadis« (1951), seinen Abschied von Hollywood. Leider erfuhr sein 77. und letzter Film nur ein lauwarmes Echo. So beklagte die »New York Times«: »Die Köder liegen alle aus, aber erwarten Sie nicht, eingefangen zu werden.« Der Streifen sei ein »mittelprächtiges Thriller-Drama, das etwas Besonderes hätte werden können, wenn es nur Alfred Hitchcock anstelle von Mervyn LeRoy als Regisseur gehabt hätte«. Der Vergleich ist nicht ganz fair und mag hinken, allerdings ist der Verweis auf Hitchcock nicht ganz unzulässig: »Moment to Moment« ist ganz die Art Film, die Hitchcock in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre mit einer Schauspielerin wie Grace Kelly, Vera Miles oder meinetwegen auch Audrey Hepburn gemacht hätte. In Sachen Spannung freilich kann »Moment to Moment« sich nicht mit Meilensteinen wie beispielsweise To Catch a Thief oder North by Northwest messen — als veritabler Thriller ginge er ohnehin nicht durch —, aber die Ingredienzen sind alle da. Wie Marnie oder »The Birds« (1963) ist auch »Moment to Moment« ein Frauenfilm, der 1966 schon ein bisschen altmodisch gewirkt haben muss. Jean Seberg gibt eine hervorragende Hitchcock-Blondine ab und trägt den Film souverän auf ihren Schultern. Sie ist ein mit Schnee bedeckter Vulkan, ganz die Art Frau, die Hitchcock in seinen Filmen favorisierte. LeRoy ließ seinen Star von Yves Saint Laurent einkleiden und von Kamera-Veteran Harry Stradling so erlesen schön ausleuchten, dass ihr makelloses Gesicht wie ein Gemälde auf der Leinwand erscheint. Die Kameraobjektive weiden sich nur so an ihren Konturen, dem schönen Hals, dem fotogenen Kinn, den großen Augen. Begleitet werden diese Bilder von einer von Henry Mancinis schönsten (und unbekanntesten) Kompositionen.

Der Schauplatz ist Südfrankreich. Seberg spielt Kay Stanton, eine Amerikanerin, die mit ihrem Mann Neil (Hill), einem erfolgreichen Psychiater, und dem gemeinsamen Sohn Timmy (Peter Robbins) an der Riviera lebt und sich dort ein wenig langweilt. Neil muss beruflich bedringt viel Reisen: Zürich, London, Edinburgh. Es ist also gar nicht verwunderlich, dass Kay sich über die Bekanntschaft mit Mark (Garrison) freut, einem jungen Burschen, dem sie eines schönen Tages am Hafen über den Weg läuft. Sie zeigt dem Hobby-Maler ein wenig die Gegend und lässt sich auf ein kleines Techtelmechtel ein. Als ihr schlechtes Gewissen jedoch obsiegt und sie die Affäre beenden möchte, kommt es zum Streit, und im Handgemenge löst sich ein Schuss. Mark bricht tot in Kays Küche zusammen. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Daphne (Blackman) lässt sie die Leiche verschwinden. Kurz darauf allerdings steht ein neugieriger Inspektor (Aslan) vor ihrer Tür und stellt allerhand Fragen, und es dauert auch nicht lange, bis Kay Mark wiedersieht, der alles andere als tot ist, wohl aber sein Gedächtnis verloren hat. Ausgerechnet Neil soll in seiner Funktion als Therapeut Marks Gedächtnis auf die Sprünge helfen…

Die Story von Alec Coppel, der unter anderem das Drehbuch zu »Vertigo« (Regie: Alfred Hitchcock) verfasst hatte, hätte etwas stringenter adaptiert werden können, und auch die Logiklöcher wären ohne Probleme zu stopfen gewesen. Wieso dies nicht im Vorfeld der Produktion geschah, lässt sich 50 Jahre später wohl kaum noch klären. Sean Garrison ist ein weiterer Minuspunkt. Selten hat man so einen steifen Schauspieler in einer Star-Rolle sehen müssen. Vielleicht war es nicht einmal mangelndes Talent, aber seine Null-Ausstrahlung bringt das Gefüge von »Moment to Moment« arg ins Wanken: Was zur Hölle findet Kay nur an diesem Typen? Dass ihr Mann, welcher im Vergleich beeindruckend charismatisch wirkt, abwesend ist, ist als Motiv reichlich ungenügend. (Garrisons Karriere, die von LeRoy und Universal mit einigem Aufwand angekurbelt wurde, versandete in den kommenden Jahren nach und nach in immer marginaleren TV-Auftritten, ehe er sich 1981 im Alter von 44 Jahren aus dem Geschäft zurückzog.) — Honor Blackman, die nach Goldfinger endlich international gefragt war, gibt eine herrlich schrullige campy performance, die Trash-Herzen höher schlagen lässt, und Grégoire Aslan ist als französischer Polizist ebenfalls gut besetzt. Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen ihm und Seberg lässt im letzten Filmdrittel zumindest einen Hauch von suspense aufkommen. »Moment to Moment« ist ein wahrer Augen- und Ohrenschmaus, der in jeder Sekunde Nostalgie und Charme versprüht. Die schlechten Rückprojektionen, die Windmaschinen, der abrupte Wechsel von Studioaufnahmen, die auf dem Universal-Gelände in Los Angeles entstanden, und den schicken Außenaufnahmen in Nizza, Cannes, Mougins und St. Paul de Vence — das alles hat schon was! In einer Szene sitzen Seberg und Garrison in einem Restaurant, als die Sonne sinkt und plötzlich ein Schwarm weißer Tauben in den Abendhimmel steigt. Im Widerschein der Sonne scheint sich das Gefieder der Tiere zu verfärben; wir sehen einen Schwarm goldener Vögel, die dem Tag Lebewohl sagen. Eine weitere Szene spielt in der Fondation Marguerite et Aimé Maegh, dem berühmten privaten Museum mit Skulpturengarten auf dem Hügel La Colline des Gardettes. — Der Film war anno 1966 nicht unbedingt ein Misserfolg, aber angesichts der 25.000 Dollar, die LeRoy pro Drehtag in das Projekt fließen ließ, zeigte sich Universal doch etwas enttäuscht. »Moment to Moment« ist heute etwas schwer zu finden; neben einer älteren US-Videokassette, die bei Ebay zu horrendem Preis angeboten wird, gab es bislang nur ein spanisches DVD-Release. Im Fernsehen wurde und wird der Streifen leider so gut wie nie ausgestrahlt.

André Schneider