Filmtipp #223: Schornstein Nr. 4

Schornstein Nr. 4

Originaltitel: La voleuse; Regie: Jean Chapot; Drehbuch: Jean Chapot, Alain Fatou, Marguerite Duras; Kamera: Jean Penzer; Musik: Antoine Duhamel; Darsteller: Romy Schneider, Michel Piccoli, Hans-Christian Blech, Sonia Schwarz, Mario Huth. Frankreich/BRD 1966.

la voleuse

»Haben Sie den Titel schon mal gehört? Wir auch nicht. Es gibt offenbar keine Kinobesucher in Österreich, die sich für Schornsteine interessieren, der Film wurde ein Totalverlust«, schrieb die Wiener Presse süffisant im November 1976 über diesen verkannten kleinen Film aus der Feder Marguerite Duras’ (10:30 P.M. Summer). Ganz zweifelsohne ist Jean Chapots Regiedebüt einer von Romy Schneiders — zumindest hierzulande — unbekanntesten Filmen; ich kann mich an keine einzige Fernsehausstrahlung erinnern.
In »La voleuse« traf das spätere Traumpaar des französischen Films, Romy Schneider (Les choses de la vie) und Michel Piccoli (Péril en la demeure), zum ersten Mal zusammen. Angesiedelt vor der grauen Kulisse des Ruhrgebiets — gedreht wurde vor Ort in den Kohlenpott-Städten Essen und Oberhausen, damals die tristesten Orte der Republik — wird ein Familiendrama erzählt, für das ein uneheliches Kind der Auslöser ist. Julia Kreuz (Schneider) gesteht ihrem Mann Werner (Piccoli), dass sie vor sechs Jahren bereits ein Kind zur Welt gebracht hat, das nun bei einer polnischen Pflegefamilie aufwächst. Einer unbestimmten Eingebung folgend, will Julia jetzt ihren kleinen Sohn (Huth) zurückhaben, doch die Familie Kastrowicz weigert sich, den Jungen herauszugeben, so dass Julia das Kind schließlich entführt. Ihre Verzweiflungstat führt beinahe zu einer Katastrophe, da der labile Ziehvater (Blech) mit Selbstmord droht…
Hatte sich die ursprüngliche Drehbuchfassung noch stärker mit dem Schicksal des Adoptivvaters beschäftigt, so legte man nach Romy Schneiders Zusage mehr Gewicht auf die von ihr verkörperte Rolle. Die Schneider liefert die eindrucksvolle Charakterstudie einer Verbissenen, die skrupellos gegen alle Widerstände ihr Ziel verfolgt. Die Frage, ob sie das Kind wirklich liebt oder lediglich die Idee, ein Kind zu haben, lassen Chapot und seine Co-Autoren unbeantwortet.

»La voleuse« erinnert in seiner Struktur entfernt an den Schneider-Film Le combat dans l’île, der ebenfalls unverdienterweise in der Versenkung verschwand. Abgesehen von Good Neighbor Sam und »What’s New, Pussycat?« (Regie: Clive Donner) hatten sich die Projekte Schneiders aus den frühen 1960ern allesamt als kommerzielle Flops erwiesen, da bildete der Reinfall von »La voleuse« keine Ausnahme. Der Film stieß bei seiner Erstaufführung im Herbst 1966 auf keinerlei Interesse bei der Kritik, und das Publikum reagierte auf den sperrigen, unerfreulichen Stoff und die Düsternis der Kulisse — wie Le combat dans l’île wurde nicht im Studio, sondern ausschließlich on location gedreht — abgeschreckt. Zudem hatte die Schneider gerade in der Bundesrepublik einen schweren Stand: Bereits zum dritten Mal in Folge wurde sie für die deutsche Fassung synchronisiert, da sie sich aufgrund ihrer Schwangerschaft unwohl fühlte, und sofort mutmaßte die Presse abermals, die »Vaterlandsverräterin« wolle nicht mehr in ihrer Muttersprache spielen.
Die Dreharbeiten selbst empfand die Schneider nach ihren Hollywood-Großproduktionen als befreiend: Neun Wochen Drehzeit mit sparsamsten Mitteln und einer winzigen Crew. Nicht einmal die 5.000 angeheuerten Statisten konnten bezahlt werden. Um sie trotzdem bei der Stange zu halten, veranstalteten Regisseur Chapot und der deutsche Co-Produzent Hans Oppenheimer eine Tombola, bei der diverse Sachpreise — vom Fernseher bis zur Waschmaschine — verlost wurden.
Abschließend sollten die stimmungsvoll-dunklen Franscope-Bilder des Kameramanns Jean Penzer erwähnt werden — glasklares Schwarzweiß in Breitwand —, die das Depressive von »La voleuse« kongenial unterstreichen; die 2009 in Frankreich veröffentlichte DVD gibt den Film in eben diesem ungewöhnlichen Breitwand-Format wieder.

André Schneider