Filmtipp #633: Schritte ohne Spur

Schritte ohne Spur

Originaltitel: À double tour; Regie: Claude Chabrol; Drehbuch: Paul Gégauff, Claude Chabrol; Kamera: Henri Decaë; Musik: Paul Misraki; Darsteller: Madeleine Robinson, Antonella Lualdi, Jean-Paul Belmondo, Jacques Dacqmine, Bernadette Lafont. Frankreich/Italien 1959.

Allein schon die elegante Kameraarbeit von Henri Decaë macht diesen frühen Chabrol-Krimi — es war sein dritter Film — sehenswert. Er trumpft mit einer exzellenten Farbdramaturgie, pittoresken Außenaufnahmen in Aix-en-Provence sowie nahezu perfekten Kadragen und Fahrten durch detailverliebt ausgestattete Dekors. Der Streifen beginnt mit einer Planfahrt, die uns von einem Garten in ein (offenbar durch einen Kampf verwüstetes) luxuriöses Zimmer führt, in welchem man glaubt, den leblosen Körper einer Frau auf dem königsblauen Teppich zu sehen. Titelvorspann. Direkt im Anschluss sehen wir die verführerische Bernadette Lafont als liebreizendes Dienstmädchen Julie, die vom Fenster ihres Kämmerleins aus mit dem Gärtner (Raymond Pélissier) und dem Milchmann Roger (Mario David) flirtet. Sie trägt nur BH und Höschen, bewegt sich anmutig zur jazzigen Musik aus dem Radio. Sie räkelt sich am Fensterbrett, und da sieht der Zuschauer, dass sie sich nicht die Achseln rasiert hat. Eine an und für sich erotisch knisternde Sequenz, die durch die Flokatis in Lafonts Achselhöhlen implodiert — bei Chabrol verbirgt sich hinter der äußeren Schönheit oft das Hässliche, das Abstoßende, das Abgründige. Das zeigt sich auch im weiteren Verlauf dieser Szene, wenn die Kamera rückwärts das Zimmer von Julie durch ein Schlüsselloch verlässt, hinter dem André Jocelyn hockt, der den Sohn des Hauses verkörpert: Richard Marcoux. Er trägt feine Anzüge, hört klassische Musik und repräsentiert damit die von Chabrol so verhasste Bourgeoisie. Richards Eltern, Thérèse (Robinson) und Henri Marcoux (Dacqmine), führen eine Ehe auf dem Papier. Sie hassen einander wie die Pest, halten aber den schönen Schein aufrecht — eine Scheidung kommt nicht in Betracht. Weder Richard noch seine Schwester Elisabeth (Jeanne Valérie) ahnen etwas von den Zwistigkeiten in der Ehe ihrer Eltern. Väterchen hat eine Liaison mit der im Gartenhaus lebenden Léda (Lualdi) und plant, mit ihr durchzubrennen. Die Gattin weiß von der Affäre und lässt die beiden gewähren. Ihre größte Sorge ist Laszlo Kovacs (Belmondo), der ungehobelte Freund ihrer Tochter. Mit seinen grauenhaften Manieren und seiner unverblümt direkten Art droht er, die mühsam aufrecht erhaltene Fassade bürgerlichen Anstands zum Einsturz zu bringen. Laszlo fungiert gewissermaßen als eine Art Katalysator für sämtliche Familienmitglieder dieses dysfunktionalen Konstrukts. Im »Spiegel« war anlässlich des Kinostarts in der BRD zu lesen: »Wie in einem deutschen Stummfilm-Schicksalsdrama wirken alle Figuren mehr oder minder gestört.« — Für Henri wird die häusliche Situation immer unerträglicher. Er will die Farce beenden, sich mit Léda öffentlich im Ort zeigen und am nächsten Tag mit ihr abhauen. Zurück bei seiner Frau, kommt es zum Streit. Thérèse bietet ihm mehr Freiheit an. Im Gegenzug erwartet sie seine Unterstützung, Laszlo von Elisabeth fernzuhalten. Henri willigt nicht ein. Kurz darauf wird Léda ermordet aufgefunden. Laszlo glaubt den Täter zu kennen…

Man muss anerkennen, dass die Figuren bei aller Überzeichnung glaubhaft sind und dass Chabrols Einsatz von Rückblenden nicht ohne Raffinesse ist, denn in diesen erlaubt er sich, ein- und dasselbe Ereignis aus verschiedenen Perspektiven zu schildern. Das Problem von »À double tour« liegt im Fehlen jedweder Spannung. Mit einer Lauflänge, die sich der Zwei-Studen-Grenze nähert, schiebt sich das Dramolett zäh und behäbig wie eine anästhesierte Schnecke voran, zumal die Identität des Mörders dem versierten Zuschauer schon sehr früh klar sein dürfte. Erstaunlich für das Jahr 1959 ist der wenig zimperliche Umgang mit Nacktheit. So sehen wir nicht nur Bernadette Lafont durchs Schlüsselloch, sondern auch Belmondo unter der Dusche. Dass nackte (Männer-)Popos vor 60 Jahren eine absolute Rarität im gewöhnlichen Unterhaltungskino gewesen sind, liegt auf der Hand. Nicht umsonst erhielt der Streifen, als er im April 1960 in den bundesdeutschen Lichtspielhäusern startete, eine Altersfreigabe ab 18.
Obwohl Claude Chabrol, dessen ersten beiden Filme der nouvelle vague zugeordnet werden, mit seinem ersten Farbfilm einen Schritt zurück ins konventionell-kommerzielle Erzählkino machte, bekam »À double tour« glänzende Kritiken und war seinerzeit ein Erfolg. So erhielt Madeleine Robinson in Venedig den Preis als Beste Schauspielerin. Mit der Ausnahme von Spanien wurde der Streifen bis 1962 in ganz Europa, den USA und sogar in Japan ausgewertet.

André Schneider