Filmtipp #167: Die Möwe

Die Möwe

Originaltitel: The Sea Gull/Chekhov’s The Sea Gull; Regie: Sidney Lumet; Drehbuch: Moura Budberg; Kamera: Gerry Fisher; Darsteller: James Mason, Vanessa Redgrave, Simone Signoret, David Warner, Harry Andrews. GB 1968.

The Sea Gull

Sidney Lumet schaffte es, Tschechows viel gespieltes, 1896 uraufgeführtes Stück fast wortgetreu mit einer Reihe ausgezeichneter Schauspieler auf die Leinwand zu bringen: James Mason (The Man Between), Vanessa Redgrave (Venus), Simone Signoret, David Warner (Morgan — A Suitable Case for Treatment), Alfred Lynch, Denholm Elliott und Harry Andrews geben ein phantastisches Ensemble ab. Bis auf Simone Signoret, die mir ihrem starken französischen Akzent fehlbesetzt ist (zumindest in der Originalfassung), liefern auch alle Beteiligten erstklassige Leistungen, doch der kleine, mit einem Budget von nur einer Million Dollar komplett in Schweden gedrehte Streifen fand kein Publikum und ist heute fast vergessen: Bei aller darstellerischen und inszenatorischen Brillanz weist »The Sea Gull« mit einer Lauflänge von über 140 Minuten doch einige Längen auf und kann seinen bühnenhaften Charakter nicht verbergen. Wer sich darauf einlassen kann, wird mit einer der besten Tschechow-Verfilmungen überhaupt belohnt.

Im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts lebt der sensible Konstantin (Warner) auf dem Landsitz seines invaliden Onkels Sorin (Andrews). Er schreibt Theaterstücke, doch weder seine Mutter Arkadina (Signoret), eine alternde und nicht unexzentrische Schauspielerin, noch die Nachbarstochter Nina (Redgrave) beachten den jungen Mann. Dafür interessiert sich Nina sehr für Arkadinas Liebhaber, den Schriftsteller Trigorin (Mason), dem sie später nach Moskau folgt.
     Tschechow hatte seinen Stoff eigentlich als Komödie konzipiert, aber die dramatischen Ereignisse, wie beispielsweise Konstantins Selbstmord oder Ninas Fehlgeburt, geben dem Ganzen einen eindeutig tragischen Unterton. Die Gemeinsamkeit aller Figuren besteht darin, dass sie über ihre Träume und Sehnsüchte die Realität ignorieren oder zu vergessen suchen und in ihrer egoistisch motivierten Realitätsflucht ihre zwischenmenschlichen Bindungen missbrauchen oder zerreißen.

»[…] Das Drehbuch, der Regisseur Sidney Lumet und die gesamte Filmcrew — alle waren unübertrefflich, und einen ganzen schwedischen Sommer lang genossen wir den Luxus, dem Alltagswahnsinn zu entfliehen und uns ganz auf unsere Arbeit und auf die Kollegen zu konzentrieren. Keiner von uns wollte weg oder jemanden von draußen sehen. […] Ich las in dem Buch ›Five o’clock Angel‹ von Maria St. Just, dass Tennessee Williams einmal gefragt wurde: ›Was ist Glücklichsein?‹ Er antwortete: ›Empfindungslosigkeit, würde ich sagen.‹ Ja, in jenem Sommer waren wir alle glücklich, empfindungslos gegenüber allem, außer uns selbst und unseren Freuden. […]
     Als ich mir den Film ›The Sea Gull‹ dann einmal ansah, empfand ich ihn als gutes Beispiel für den Unterschied zwischen Filmdarstellung und Theaterspiel. Seltsamerweise blieb er eine abgefilmte Theateraufführung, ein aufgezeichnetes Stück Theater — obgleich wir auch Außenaufnahmen machten. Ich kann das keinem der Beteiligten anlasten, denn die schauspielerische Leistung, die Atmosphäre, die Beleuchtung, die Arbeit des Kameramanns und des Regisseurs waren ausgezeichnet. Eine aufgezeichnete Theateraufführung kann sehr wunderbar anzuschauen sein und wahnsinnig begeistern — wie zum Beispiel 1964 die Olivier/Redgave-Inszenierung von ›Onkel Wanja‹, […] aber dieser Mitschnitt erhebt nicht den Anspruch, ein eigenständiger Film zu sein. Die beiden Medien Theater und Film sind so verschieden, dass ein aufgezeichnetes Theaterstück noch lange kein Film wird, nur weil es auf Zelluloid gebannt ist; das eigenständige Leben der Geschichte wird nicht vermittelt, und hieran krankt auch der Film ›The Sea Gull‹.« (Vanessa Redgrave, »Autobiographie«)

André Schneider